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Matthias Matussek: UNSELIGER CHESTERTON?

Dass sich im umfänglichen Werk des englischen Schriftstellers und Journalisten Gilbert Keith Chesterton mitunter antijüdische Einsprengsel finden, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts quer durch Europa zum weltanschaulichen Gemeingut zählten, hält der ehemalige Kulturchef des Spiegel für einen durchschaubaren Vorwand von offizieller Seite, um die Seligsprechung des 'Pater Brown'-Erfinders zu verweigern. Chestertons eigentliche Schuld nach heutigen vatikanischen Maßstäben sei eine andere: Authentisch gelebter, theoretisch fundierter und scharfzüngig verteidigter orthodoxer Katholizismus.



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Mit dem Abbruch des Seligsprechungs-Verfahrens für Gilbert K. Chesterton hat Bischof Peter Doyle, der den Prozess vor Jahren selber eröffnet hatte, wohl dem gegenwärtigen Zustand der katholischen Kirche entsprochen. Denn Chesterton war vor allem eines: orthodox katholisch - und die Kirche tut alles, es nicht länger zu sein.


Der jüdische Marxist Ernst Bloch nannte Chesterton einen „der gescheitesten Männer, die je gelebt haben“ und die jüdische Philosophin Hannah Arendt „einen der klügsten Geister Europas“. Warum hier das „jüdische“ Praefix?


Einer der Gründe, die Bischof Doyle bewogen hatten, den Bitten und Gebeten der globalen Chesterton-Gemeinde nicht zu entsprechen, war Chestertons angeblicher Antisemitismus.

Tatsächlich hat Chesterton, der Kapitalismus und Marxismus gleichermaßen ablehnte, in beiden, zeittypisch, bisweilen jüdische Verschwörungen vermutet.


In diesen spärlichen Äußerungen hatte ihn sein Verstand wohl einfach im Stich gelassen. Aber er kämpfte entschlossen gegen die ebenfalls populären ideologischen Geschirre der Eugenik und des Rassismus und warnte als einer der ersten Denker vor Hitler.


Dass ein katholischer Bischof in diesen Tagen antijüdische Stellen im fast unüberschaubaren Gesamtwerk eines Autors zum Anlass nimmt, ein Kanonisierungsverfahren zu verweigern, kann nur als Vorwand verstanden werden – dann müssten der Apostel Paulus und eine ganze Anzahl von Kirchenvätern wohl aus dem Heiligen-Kalender verschwinden. Dass es in der Geschichte der Kirche durchaus einen tiefgewirkten Antisemitismus gab, bestreitet wohl ernsthaft niemand mehr.


Doch im Falle Chestertons war er nie die Hauptsache. Diese war eine leidenschaftliche Verteidigung des Glaubens in glaubenslosen Zeiten, in denen die technische Vernunft und der blinde Fortschrittsglaube die mörderischsten Ersatzreligionen bildeten, und die er früh mit der Volte in die Schranken wies: „Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie an jeden Blödsinn“.


Chesterton, der Großmeister der Paradoxa, schrieb, er habe sein Leben lang nach einer Häresie gesucht, die zu ihm passe – bis er sie in der Orthodoxie fand. Nichts schien ihm in seinen Tagen anstößiger, eine Zeit, in der die Kirche, wie sein Gefährte Hillaire Beloc schrieb, im „Nebel der Mittelmäßigkeit“ verschwand. Klar, dass die Hierarchie an ihm Anstoß nimmt, bis heute.


Dass die Glaubenswahrheiten des Hochmittelters, dessen unbedingter Bewunderer er war – seine Biografien über den Hl. Franziskus und den Hl.Thomas gehören zu den schönsten des Genres – anzupassen seinen, kam ihm vor, als ob die Aussage, dass die Sonne im Osten aufgehe, nur montags gelte und am Dienstag schon nicht mehr.


Für den katholischen Menschenverstand ist Chesterton der Wetzstein. Was er etwa zum Nanny-Staat und seinen Übergriffigkeiten schrieb, trifft heute so genau ins Schwarze wie damals. So führte er in seinem Buch „Ketzer“ zur Familie aus:


„(Sie) ist deshalb eine gute Institution, weil sie unbequem ist. Sie ist gerade deshalb nützlich, weil sie so viele Divergenzen und Spielarten enthält. Sie ist...wie ein kleines Königreich und – nicht anders als die meisten Königreiche - meistens in einem Zustand, der viel Ähnlichkeit mit Anarchie hat...Tante Elisabeth ist unvernünftig, genau wie der Mensch. Papa ist reizbar, genau wie der Mensch. Unser kleiner Bruder ist boshaft, genau wie der Mensch. Großpapa ist töricht. Genau wie die Welt; er ist alt, genau wie die Welt.“

Die Familie und ihr Zusammenhalt: ein einziges großes Trainingsgelände für unsere Fähigkeiten zu Toleranz und Liebe und Schlichtung bei Streit. Heutzutage beugen sich Eheberater und Gutachter und Scheidungsrichter über die geringsten aufgetauchten Irritationen und empfehlen sofortige Trennung und Atomisierung.


Der Staat ersetzt den Ehemann und befreit die Frau vom Herd, natürlich, um über sie als steuerzahlende Arbeitskraft verfügen und deren Kinder so früh wie möglich in Obhut zu nehmen und als Objekte jeweils geltender ideologischer Zurichtung zu missbrauchen.

Und Augen auf, sollten sie blond sein und Zöpfe tragen!


Heute unterstützt eine progressive Kirche im Rahmen ausgerechnet einer „Theologie der Barmherzigkeit“ unter der Hand Abtreibungen, die sie „Recht auf freie Wahl“ nennt, sowie die Einsegnung von homosexuellen Paaren, also unfruchtbaren Vereinigungen, denn was gilt schon die Bibel, wenn es doch in einer TV-Show heißt: „Nur die Liebe zählt“.


Das weit größere Abenteuer als die romantische Liebe ist nach Chesterton die Geburt, die sich nach der Genesis aus der Verbindung von Mann und Frau, den Ebenbildern Gottes (und nicht ca. 56 Geschlechtern) ergibt:


„Bei der Geburt...betreten wir eine Welt, die wir nicht gemacht haben. Anders gesagt, wenn wir eine Familie betreten, betreten wir ein Märchen.“

Kann man kompromissloser und schöner und vernünftiger für die Orthodoxie der Familie werben?

„Das Christentum mag die orientalischen Religionen in ihren Paradoxa übertreffen – aber es baut die besseren Straßen.“


So klingt der katholische Menschenverstand nach Chesterton, dem großen Kollegen, den Pius XI. zum „fidei defensor“, zum Verteidiger des Glaubens ernannte. Der orthodoxe Katholik kennt die Sünde, die nur bedingte Erreichbarkeit des Ideals – aber er wird sich hüten, das Ideal verraten oder ins Lächerliche zu ziehen. Paradox? Meinetwegen, so paradox wie das Leben selbst.


Nicht umsonst ist die populärste Schaffung des Autors die Figur des Father Brown, des Priesters, der aus dem Beichtstuhl jede menschliche Schwäche kennt. Gleichzeitig mit dem wissenschaftsgläubigen Sherlock Holmes und dem eitlen Hercule Poirot betrat er die Bühne der detektivischen Aufklärer in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, und wie sie löste er rund 50 Fälle, doch er tat als mitleidender Seelsoger - in der vergebenden Einfühlung in die conditio humana.


Als weitere Gründe zur Ablehnung eines Seligsprechungsverfahrens wurde angeführt, dass Chesterton keinen lokalen Kult begründet habe. Das ist richtig – seine Bewunderung ist global. Die American Chesterton Society hat eine Novene für ihn in Umlauf gebracht.


Desweiteren zweifle man, so heißt es, an der „Spiritualität“ des großen journalistischen Kollegen. Dazu ist zu sagen: Er schlug das Kreuzzeichen über jedem Glas Whisky, das er genoss.

Und er schlug viele Kreuze.



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