Wem soll man noch glauben, wenn selbst Journalisten schon „die“ Wissenschaft verteidigen, anstatt sie – wenigstens manchmal – zu analysieren? Sollte man dann nicht lieber die Wissenschaft gegen ihre öffentlich-rechtlichen Liebhaber verteidigen, wegen allzu großer Zudringlichkeit?
Medea7, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
Am 17.7.2023 um 11:58 Uhr machte sich die Webseite der „Tagesschau“ jedenfalls öffentlich Sorgen: „[...] viele Menschen seien kaum durch Experten in den Medien [...] zu erreichen“, und: „einige Menschen [leugnen] wissenschaftliche Erkenntnisse“.[1] Unerhört! Da mußte natürlich Motivforschung her, so richtig feste – und als erstes Opfer fiel prompt die Psychologie, als zweites die Logik, kurz: Um „Wissenschaft“ zu retten, räumt die „Tagesschau“ Grundregeln wissenschaftlichen Denkens gleich mit ab. Aber der Reihe nach.
Der Destruktivismus schlägt zurück
Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch[2] kann man wohl zwar Verbrechen und die Existenz von Göttern „leugnen“, „Fakten“ aber nur (argumentativ) bestreiten; wer von geleugneten Fakten spricht, macht aus ihnen von vornherein eine Glaubensfrage. Und wer Wert darauf legt, könnte gleich (zumindest in der Hinterhand) mit der Assoziationskette Holocaustleugner – Coronaleugner – Klimaleugner operieren. Auf solche Weise besetzt man Begriffe, suggeriert Gleichartigkeit von sehr Verschiedenem – und vergiftet das Diskussionsklima nicht unerheblich.
Ähnlich unglücklich dürfte es sein, angesichts sehr unterschiedlicher Fächerkulturen von „Wissenschaft“ und „Wissenschaftsleugnung“ schlechthin zu sprechen: Jede Disziplin hat gern ihr so ganz eigenes Verhältnis zur Wahrheit. Aber okay, wer lange genug Dekonstruktivismus sät, bekommt irgendwann Dekonstruktivismus zurück. Oder ist Klimaforschung, nur zum Beispiel, etwa gar nicht alt, weiß und männlich (oder auch mehr ein- als vielfältig) – und trotzdem sollen wir sie ernst nehmen?
Aber das nur nebenbei. Nach dem Weltbild der „Tagesschau“ gibt es jedenfalls einerseits „Fakten“ und auf der anderen Seite irgendetwas Psychologisches, das hinzutritt und die Menschen dann daran hindert, Fakten zu ‚glauben‘. Psychologie ist also eine eigene Wahrheit oder Wissenschaft, deren Fakten dann aber nicht ihrerseits ‚geleugnet‘ werden können, oder wie? Aber wir wollen ja die „Tagesschau“ nicht gleich kopfscheu machen, sondern nur leise anmerken, daß diese Grobunterscheidung ‚hie Fakten, da Psychologie‘ erkenntnistheoretisch sowas von überholt ist wie…, na mindestens wie die im Artikel ebenfalls erwähnte Theorie von der Erde als Scheibe. Auch wenn sich solche Erkenntnisse bestenfalls nur scheibchenweise durchsetzen… Der amerikanische Pragmatismus um 1900, Semiotik im Allgemeinen, selbst die klassische Psychoanalyse waren da schon weiter.
Probleme der Nachrichtenlage
Dessenungeachtet gibt es bei der „Tagesschau“ dann also Menschen, die ein „Problem“ haben; im Alltag oder wegen Gruppenzugehörigkeit oder Identität oder einfach wegen Ängsten. „Problem“ ist auch so ein Lieblingswort der von der „Tagesschau“ befragten Forscher; klaro, wer kein Problem vorweisen kann, bekommt auch keine Drittmittel – und dieses „Problem“ muß dann „die“ Wissenschaft ausbaden, an die nicht geglaubt wird. Dieses Problem kommt aber gar nicht von der Wissenschaft selbst, sondern eben aus der „Psychologie“, und als solches zu den angeblich irgendwie unabhängig von ihr gegebenen Fakten hinzu, die es dann anzufressen beginnt; was alles wiederum von psychologischen Fakten offenbar nicht gilt, falls es welche gibt.
Gut, man weiß ja, wie das im Journalismus zugeht: Die Bereitwilligkeit von Interviewpartnern ist meist umgekehrt proportional zu dem, was sie zu sagen haben. Aber auch das macht aus Psychologie nicht die Metawissenschaft, die über die Glaubwürdigkeit von ‚Wissenschaft‘ zu befinden hätte. Es ist ein ähnlicher (ideo-)logischer Schuß ins eigene Knie wie das Gerede, daß immer die anderen Leute Anhänger von Verschwörungstheorien seien – also zu einem geheimen bösen Club gehörten, der an Verschwörungstheorien glaubt… usw.
https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/wissenschaftsleugnung-100.html> abgerufen am 17.7. 2023
Kaum überzeugender ist übrigens der Satz: „Wissenschaftsleugnung hat für den Psychologen daher auch weniger mit dem Bildungsstand, sondern mehr mit persönlicher und politischer Einstellung zu tun.“ Als Abgrenzung ein Schachzug von genialer Wirkung und – Willkür, denn die ‚Korrelationen‘ zwischen diesen drei Größen dürften mindestens so vielfältig sein wie die zwischen AfD-Wählern und Corona-Infizierten… Ach so, das wird da nämlich auch im Ernst behauptet: „[...] zu Beginn der Pandemie gab es eine deutliche Korrelation zwischen AfD-Wahlergebnissen und der Zahl der Corona-Infektionen.“ Soll wohl, wenn überhaupt etwas, dann bedeuten, je mehr Leute AfD wählen (würden), desto mehr stecken sich mit „Corona“ an. Das müßte ja gerade im Juli 2023 eine ganz neue Pandemiewelle in Evidenz gebracht haben… Übrigens ist „Korrelation“ nicht etwa eine vornehme Übersetzung für ‚Parallele‘ oder ‚Entsprechung‘, wie man bei der „Tagesschau“ zu glauben scheint, sondern verschiedene Größen können positiv, aber auch negativ miteinander korrelieren.
Auswirkungen auf den Alltag
Aber, welch ein Trost: „[...] nicht allen wissenschaftlichen Disziplinen wird gleichermaßen misstraut, sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty: „Es geht vor allem um Bereiche, die stark im Fokus gesellschaftlicher Debatten stehen und die direkte Auswirkung auf unseren Alltag haben. Deshalb werden Klimaforschung oder Gender Studies mehr angezweifelt als Ingenieurswissenschaften [sic!] oder Archäologie.“ Man mag ja geteilter Meinung sein, was die Auswirkungen von Ingenieurwissenschaften auf den Alltag angeht, und wer wird sich schon die Mühe machen, ‚Gender Studies‘ anzuzweifeln, ein Fach, dem ja nichts fehlt außer dem Gegenstand. Jedenfalls kommen bei der „Tagesschau“ zu Wort, in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens: drei Psychologen, ein Klimaforscher, eine Sozialpsychologin, gleich eine ganze „Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung“, die aber vermutlich ebenfalls nur Auftraggeberin von, ja, erraten, Psychologen ist, und schließlich ‚Wissenschaftler der Harvard-Universität‘ schlechthin. Wir wollen also hoffen, daß Psychologie gesellschaftlich weder im Fokus von Debatten steht noch Auswirkungen auf unseren Alltag hat. Sonst müßten wir ihr ja womöglich mißtrauen oder der ganzen petitio principii, die hier als aktuelle Einsicht aufgetischt wird: Umstritten ist, was umstritten ist – welch ein genialer Zirkelschluß.
Aber was ermittelt die „Tagesschau“ denn nun an Gründen für „Wissenschaftsleugnung“? „Gruppendruck“ hätte man früher gesagt, heute ist es also eine „Identitätsfrage“; alle glauben, was auch alle anderen in ihrer Gruppe glauben. Nun wird man ja aber auch bei diesen anderen Motive vermuten dürfen, etwas (nicht) zu glauben: Also wiederum keine Erklärung, nur eine Technik, das „Problem“ zu verschieben, und von wahrhaft bescheidener Eleganz.
Aber gemach, gleich finden sich in der „Tagesschau“ „noch vier weitere Motive für Wissenschaftsleugnung: der Glaube an bestimmte Ideologien, partikulare – also zum Beispiel wirtschaftliche – Interessen, die Neigung zu Verschwörungsideologien und Ängste.“ Ubiquitär nennt man solche Motive wohl, oder anders gesagt: Wer also keine Ängste hat, nicht zu „Verschwörungsideologien“ neigt, keine wirtschaftlichen Interessen hat, also auch z.B. kein Interesse an Geld, und wer nicht „an bestimmte Ideologien“ glaubt – dem bleibt schlechterdings nichts anderes übrig als der Wissenschaft zu glauben, die ihm dergleichen Banalitäten als Motive verkaufen will. Summa: Auch hier soll etwas auf eine Art erklärt werden, die absolut gar nichts erklärt.
Kein Wunder, daß die bösen Leugner dann auch zu einer generellen „Ablehnung von vermeintlichen und tatsächlichen Eliten“ gelangen mögen: So vermeintlich kann eine Elite gar nicht sein, daß sie derartigen Blödsinn verzapft. Da hilft wiederum nur der Originalton aus der „Tagesschau“: „Mit Fakten allein kommt man nicht weiter [...]“; nein, mit solchen Fakten wirklich nicht. Doch auch hier folgt auf die Diagnose –„denn das [also der Versuch mit „Fakten“, MM] erzeugt bei den Betroffenen meist eine Abwehrhaltung“ – das Therapieangebot, und dessen Jargon ist nun wirklich nicht mehr parodierbar: „Im privaten Umfeld müsse man erst die Sorgen und Ängste, die hinter der Ablehnung stecken, aufgreifen und erst in einem zweiten Schritt ein Informationsangebot mit gesicherten Informationen machen.“ Zu den schwersten von uns aufgegriffenen Sorgen zählt freilich nicht die Kuschelpsychologie, die hinter all dem steckt – denn was mag geschehen, wenn unser Angebot an zweifellos ungesicherten Informationen „in einem zweiten Schritt“ auf absolut keine Nachfrage trifft?!
Und wo bleibt nun das Positive? „Durch die Pandemie ist also das Vertrauen [in ‚die‘ Wissenschaft, MM] gestiegen und hält sich aktuell auf hohem Niveau‘, so“ – na wer wohl? – „der Psychologe“. Das soll auch gleich durch eine beigegebene Graphik untermauert werden. Wird es aber vielleicht doch nicht so richtig, denn wenn dem nichtpsychologischen Laien dort etwas sofort ins Auge springt, dann das meistens komplementäre Zahlenverhältnis von Wissenschaftsgläubigen (rot) und den vom Experten gar nicht erwähnten Unentschiedenen (grau). Verglichen mit diesen beiden oberen Kurven dümpeln die schwarzen Leugner doch nur eher unbeeindruckt und ziemlich konstant vor sich hin. Merke also: Keine wissenschaftliche Graphik spricht für sich selbst, man sollte sie auch lesen können, und wenn hier ein Sachverhalt einer Interpretation bedürfte, dann doch wohl diese Relation zwischen Vertrauensvollen und Unentschiedenen...
Wer die „Wissenschaft“ nach Art der „Tagesschau“ verteidigen möchte, wird sich wohl nach der Wahl seiner Mittel fragen lassen müssen. Kein Wunder also, wenn ein derartiges „Wissenschaftsbarometer“ zumindest im öffentlich-rechtlichen Medienraum fällt und fällt. Es möge doch jemand kommen, der die Wissenschaft gegen diese Art von Liebhabern verteidigt!
[1] Alle Zitate sowie die unten wiedergegebene Graphik von: <https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/wissenschaftsleugnung-100.html> abgerufen am 17.7. 2023. [2] So auch ein Großteil der Belege im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12, München: dtv 1984 (1885), Sp. 340-343.
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Über den Autor: Martin Maurach, geboren 1965 in Norddeutschland. Promotion und Habilitation in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft 1995 bzw. 2010. Seit 2014 Lektor für deutsche Literatur, Sprache und Landeskunde an verschiedenen Universitäten in der Tschechischen Republik. Veröffentlichungen zur Gegenwartsliteratur, zur Kleist-Forschung und zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts.
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