Am 12. August starb Julia Weirauch. Schwäbin, 58 Jahre alt. Seit dreißig Jahren verheiratet. Zwei erwachsene Kinder, Konstantin und Annika, die in die Fußstapfen ihres Vaters Burkhart traten, eines erfolgreichen Unternehmers wie er im Schwäbischen Buche steht. Hansdampf in allen Gassen, eine feine Nase für lohnende Geschäfte, Jetset, selten lange zu Hause. Keine Zeit für’s Geldausgeben.
Sie verhungerte.
Buchstäblich.
Sie hatte auf Lehramt studiert. Sport und Geschichte. Aber es war nie nötig gewesen, dass sie ihre Arbeitskraft anbieten musste. Mit fünfundzwanzig das erste Kind. Mit vierunddreißig das zweite. Sie ging – wie man so sagt – in ihrer Mutterrolle auf. Sie war ein Familienmensch. Aber auch eine Frau, die sich gern und häufig mit Freundinnen traf. Sie brauchte das Gespräch, den Austausch. Sie versuchte, den einen, den großen Abwesenden, zu ersetzen durch viele andere kleine Anwesende. Sie kannte sich in der Kunst aus und versäumte keine Theatervorstellung. Ihre Begleiter waren Freundinnen. Burkhart, der Emporkömmling, der keine andere Kultur als die des noblen Speisens kannte, hatte nicht das geringste Interesse daran, ihre Freizeitaktivitäten zu teilen. Sollte sie machen. Er liebte pompöse Treffen und unterhielt sich gern mit anderen über Autos, Häuser, Kinder und Fußball. Und über sein erfolgreiches und aufregendes Berufsleben. Wenn sie einmal einen Anfall skrupellosen Denkens hatte, gestand sie sich ein: Im Grunde langweilte er sie.
Sie hatte schon immer viel gelesen. Jetzt tat sie es exzessiv. Ihr Zigarettenkonsum steigerte sich in ihren vierziger Jahren. Unmerklich. Später begann sie auch zu trinken. Ebenfalls unbemerkt von ihren Mitmenschen, von ihrem Ehemann, der gar nicht mitbekam, wie sie in den langen Wochen seiner Abwesenheit lebte. Man benutzt eben nur ein Ohr zum Telefonieren. Und falls ihm auffiel, daß Julia keinen Tag ohne Alkohol verbrachte, ließ er es sich nicht anmerken. Bei ihm war es doch nicht anders.
Solange die Kinder im Haus lebten, bekam sie die Sucht in den Griff. Das heißt, sie kaschierte, spielte ihre Rolle unter den Notablen der schwäbischen Großstadt. Auch sie konnte Konversation machen. Aber es strengte sie an. Bei Familientreffen wirkte sie aufgekratzt, redete viel, konnte aber auch zuhören. Sie war geradezu hungrig nach Neuigkeiten, nach Erzählungen der anderen. Sie wollte teilhaben, mittendrin sein im Leben, dem Leben der Verwandten, Bekannten und Freunde. Wenn sie schon kein eigenes hatte.
Sie trieb viel Sport, arbeitete sich aus. Nie ein Gramm zu viel an Gewicht. Body-Mass-Index 17. Eine attraktive Frau. Die durchaus Chancen gehabt hat bei anderen Männern. Aber sie nahm sie nicht wahr. Einmal war sie mit einem im Bett. Am nächsten Morgen übergab sie sich. Da war ihr klar: Sie kann das nicht. Sie ist loyal bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hat kein Recht darauf, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, wenn sie lügen muß, wenn sie hintergehen muß.
Sie hatte sich entschieden, vor vielen Jahren. Sie hatte gelobt, ihre kleine Familie über alles in der Welt zu stellen. Die Konsequenzen mußte sie jetzt tragen. Sie mußte durchhalten. Irgendwann wird es besser, redete sie sich ein. Irgendwann hörte Burkhart auf zu arbeiten, Geld und immer mehr Geld zu verdienen, zu scheffeln, zu pflücken. Überall, wo er stand, blühte das Geld, es schoß vor ihm in die Höhe wie ein schnell wachsender Baum. Und obwohl sie schon nicht mehr wußten, was sie mit all den vielen großen Zahlen anfangen sollten, konnte er nicht verzichten, nicht vorübergehen am nächsten Baum.
Vor einigen Jahren hatte er einen Herzinfarkt gehabt. Alle nahmen ihm das Bekenntnis ab, die Warnung verstanden zu haben. Ein paar Wochen trat er kürzer. Dann war alles wie zuvor. Ich bin ein Mann, also ein Jäger. Er platzierte einen angedeuteten Kuß auf ihrem Nacken. Der eine Baum noch, der da ruft „Ach, schüttel mich, ach, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif!” Den kann ich doch nicht abweisen, das bring ich doch nicht über’s Herz. Aber bald bin ich bei Dir, oh Liebste, bald hast Du mich ganz für Dich. Ich schwör’s. Ich will doch nur, daß es allen gut geht. Und Du kannst dich nicht beklagen: Was auch immer Du wolltest – ich habe nie gefragt, wozu und ob das nötig sei. Ich habe Dir die rötesten Rosen zu Füßen gelegt. Ich habe Dir einen Palast im sonnigen Süden geschenkt. Weil Du das Meer so liebst. Und Du hast jeden Sommer dort verbracht, in deinem Paradies. Hast Leute eingeladen, soviel Du wolltest (und Du wolltest immer und viele). Ich war selten da, ja, aber ich wußte Dich glücklich. Ich fragte auch nicht danach, wie viele Schnorrer sich unter Dein Freundesdach geschmuggelt hatten und sich verwöhnen ließen. Du hast halt ein großes Herz. Und ich ein großes Portemonnaie. Das paßt doch. So passen wir doch zusammen. Wir gehören zusammen, aber haben die Freiheit, die wir brauchen. Ich. Und Du.
Ihr Rücken war nie gerade gewesen. Sie hatte ihre schmalen Schultern immer nach vorn zusammengezogen, als wolle sie einen Kreis bilden um ihre Seele. Nach vielen Jahren in gebückter Haltung war daraus ein Buckel geworden. Sie sah aus, als wolle sie sich in sich selbst verkriechen. Den Kopf zog sie ein wie eine Schildkröte. Unser einziges Nest sind unsere Flügel. Ach, wär’n es doch Flügel gewesen! Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt‘ – ja, wohin flög‘ ich denn dann? Verdammt nochmal. Wo soll ich mich hinwenden? Hab ich nicht an alle Türen schon geklopft? Kein Ort. Nirgends.
Und sie wurde immer kleiner.
Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, gab sie sich immer rückhaltloser dem Alkohol hin. Und sie rauchte zwei Schachteln am Tag. Der Sohn meldete sich selten. Mit ihm hatte sie nie eine innige Beziehung gehabt. Er entzog sich ihr und behandelte sie herablassend, seit er in der Pubertät war. Er verachtete sie und wies schon als Kind ihre Zärtlichkeiten zurück. Das schmerzte. Jetzt lebte er in Spanien. Aber sie hatte ja noch Annika. Ihr war sie immer eine gute Freundin gewesen. Annika teilte alle ihre Gedanken mit der Mutter. Aber jetzt war sie auf und davon. Hatte zusammen mit ihrem Vater eine Dépendance in Südamerika gegründet und war dort geblieben. Jetzt zog sie andere Menschen ins Vertrauen.
Erstmals in ihrem Leben war sie vollkommen frei von familiären Verpflichtungen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Aber ihr fiel nichts ein. Es fiel ihr zu sich nichts ein. Anderen konnte sie raten, sich in sie hineinzuversetzen. Reziprok waren diese Beziehungen nicht. Keiner fragte nach ihr. Vielleicht konnte sie, wie andere Unternehmergattinnen, Wohltätigkeitsveranstaltungen organisieren? Es gab so viel Elend auf der Welt. Aber sie war kein politisch denkender Mensch. Sie wollte im Überschaubaren leben, auf sicherem Terrain, im kleinen Kreis. Repräsentieren war ihre Sache nicht. Vielleicht hat sie Burkhart enttäuscht. Vielleicht waren beide voneinander enttäuscht.
Anfangs zog sie ihr anspruchsvolles Sportprogramm noch durch. Aber nachdem sie im Fitnessstudio nach ihren Essgewohnheiten gefragt worden war und sich die Fragen offenkundig auf das fehlende Fleisch auf ihren Rippen bezog, ging sie nicht mehr hin. Jetzt joggte sie, übte Yogastellungen im Fitnessraum ihres Hauses und fuhr mit dem Hometrainer fünfzig Kilometer. Irgendwann hatte sie aber auch keine Lust mehr, ihren Körper anzustrengen. Ihren Körper zu spüren.
Sie kaufte einen Hund. Einen großen, lieben Mischling, der sie dazu zwang, auf die Straße zu gehen.
Denn sie hatte bemerkt, daß sie begann, sich gehenzulassen. Seit sie nur noch wenig aß, aber dafür immer mehr trank, und niemandem länger entging, daß sie nicht einfach schlank, sondern fadendünn war, schliefen sie nicht mehr miteinander. Aber darüber sprachen sie nicht. Vielleicht hatte er eine Geliebte. Aber das war ihr inzwischen egal. Von ihr aus konnte er in jedem Hafen, den er anlief, eine Geliebte haben. Oder zwei oder drei. Sie wartete nicht mehr darauf, daß er nach Hause zurückkehrte, zu ihr zurückkehrte. Sie hatte ihn aufgegeben. Sie hatte sich aufgegeben.
Ihre Süchte blieben der Familie und den Freunden nicht länger verborgen. Vorsichtig fragte der eine oder andere an, ob sie krank sei, ob sie Hilfe brauche. Sie bestritt, daß es ihr schlecht ginge und hatte eine Handvoll Gründe parat für ihre Magerkeit. Auch Burkhart wollte sie medizinisch untersuchen lassen. Er nahm ihre Weigerung achselzuckend hin. Du mußt es ja wissen. Es ist ja dein Leben. Nicht nur sie hatte sich aufgegeben.
Ihr Hunger war nicht mit Kaviar, Austern und Hummer zu stillen. Sie empfand seine Gelage und Bankette zunehmend als obszön und schalt sich darob undankbar. Aber sie kam nicht dagegen an: Das Essen ekelte sie. Es blieb ihr im Hals stecken. Sie ergriff eine zur Hälfte gefüllte Weinflasche, stürzte in den Toilettenraum und schaffte es gerade noch, sich nicht auf dem glänzenden gefliesten Boden zu übergeben. Der Abgrund des Toilettenbeckens schaute zurück. Sie floh mit der Flasche ins Freie und rauchte eilig drei bis vier Zigaretten. Jetzt war sie wieder gesellschaftstauglich. Die leere Weinflasche ließ sie neben dem Aschenbecher stehen.
In letzter Zeit verfolgte sie ein Traum: Sie saß gefesselt auf einem Stuhl. Ihr gegenüber ein Mann mit einer Strumpfmaske. Aus einer riesigen Tasche holte er gebündelte Dollarscheine und warf sie ihr an den Kopf. Der Berg toten Papiers wurde höher und höher. Schon erreichte er ihren Hals. Der Bankräuber lachte. Und er warf weiter. Es war kein Ende abzusehen. Jetzt bedeckten die Scheine ihren Mund. Sie rang nach Luft und schrie. Aber das Geld erstickte ihren Schrei. Nicht einmal sie selbst konnte ihn hören.
An dieser Stelle des Horrorfilms erwachte sie jedes Mal. Nie erfuhr sie, wie er ausging.
Als sie nicht mehr aufstehen konnte, sah Burkhart die Zeit gekommen, sie ins Krankenhaus zu bringen. Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung gewesen. Er fuhr sie in eine psychosomatische Klinik. Man wies sie ab. Man nehme nur Patienten ab einem Body-Mass-Index von 15 auf. Julias sei bereits auf 11 gesunken. Sie wöge nur noch 32 Kilogramm. Wieso er erst jetzt käme. Er fuhr in die Notaufnahme. Auf der Intensivstation wurde sie künstlich ernährt und fiel ins Koma. Sie wachte nicht wieder auf.
In zwei Monaten wäre sie Großmutter geworden.
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Titelbild: A woman suffering from extreme emaciation (anorexia nervosa). Wellcome Images, cropped, CC BY 4.0 via Wikimedia Commons
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