Es gibt, idealtypisch gesprochen, Schriftsteller und es gibt Dichter. Das Metier der Schriftsteller ist der mehr oder weniger gemächlich dahinfließende Strom der Prosa. Anders die Dichter. Sie sind es, die die Worte durch das kunst- und beziehungsreiche Gefüge von Vers, Reim und Strophe zu leiten wissen. Dichter haben das engere, eindringlichere Verhältnis zur Sprache, sie kennen die letzten Geheimnisse ihrer Steigerung. Jörg Bernig ist, das hat er mit seinen Romanen, Erzählungen und Essays eindrücklich erwiesen, ein Schriftsteller. Wer aber sein Œuvre kennt, der weiß, dass er ebenso oder vielleicht mehr noch ein Dichter ist.
in der mitte ein innehalten ein kurzes um hinabzusehn auf das strömen
das sich heranschiebt aus fernen gebirgen und auf dem grunde wandern die steine
wir sehen sie nicht und können auch das kollern und leise donnern nicht hören da unten
doch es ist ein trost davon zu wissen daß etwas seit jeher geschieht und ganz ohne ein zutun
jede gewißheit zerrinnt und nicht nur die die immer schon fließt anfang und ende in einem
das was sich naht ist das stromauf schon vergangne wir drehen’s und wenden’s
stromab wird es als zukunft erwartet oder befürchtet wir können’s nicht fassen und lassen los
die lebenstage treten aus nebeln über dem fluß kleine träume die tanzen über den wassern
zärtlich winken wir ihnen und möchten leise sie wiegen und ihnen zuversicht geben
von da oben der mitte der brücke unter der alles dahinzieht von sonstwoher nach anderswohin
So geht Jörg Bernigs Gedicht auf der Brücke. Man kann es als exemplarisch betrachten, ist doch der Fluss ein Motiv, das in der Lyrik des Dichters regelmäßig erscheint. Dass dieses Motiv hier und da seine ganz konkrete Gestalt in der Elbe findet (die Elbe sieht kurz zu uns hin und geht ohne einmal zu zögern sie geht ohne zu zaudern vorbei), mag daran liegen, dass Bernig Sachse ist und in Radebeul, einer Stadt am Ufer dieses Stromes, lebt. Gleichwohl erscheint der Fluss nicht nur als mehr oder weniger konkretes Naturphänomen (der fluß schwillt an bläht sich auf jongliert äste // und stämme und losgerissene boote); öfter noch dient er dem Dichter als Metapher für Dinge, die der Mensch gewöhnlich mit dem Begriff der Zeit zu fassen sucht.
Vielleicht geht man nicht zu weit, wenn man Jörg Bernig einen Dichter der Zeit nennt. Schon in dem zitierten Gedicht erscheint das Strömen des Flusses als Sinnbild für das Vorübergleiten und Vergehen der Zeit, für die Zeitigung, die unablässige Wandlung von Zukunft in Vergangenheit (und Erwartung in Erfahrung), auch dafür, dass diese Wandlung für den Menschen unverfügbar ist. Er kann sie nur geschehen lassen, außerstande, das vom Strömen ausgelöste Kollern und Donnern da unten zu hören. Und wie er das Gezeitigte auch dreht und wendet, es bleibt ihm Rätsel, schwer zu deuten.
So bringt Jörg Bernig die menschliche Grunderfahrung der Vergänglichkeit, mithin Existenzielles, zur Sprache. Überhaupt wissen seine Gedichte von den Verlusten (die tage sind // einer davon nach dem andern // wie rosenkranzperlen), Entfremdungen (und doch ziehn wir durch die städte // fern oft von traum und überlieferung // als wenn keine und keiner ein Herkunftsland hätte) und Verlorenheiten (und nun du großer himmel? // was soll uns dein satellitenaugengeblinzel? | auch wir gehn | wirklich? | nicht verloren?) des menschlichen Daseins. Gleichwohl bleibt der Mensch – schon im eingangs zitierten Gedicht klingt es an – an die Zuversicht gebunden. Dieses eine muss möglich sein: ein diamant | gefertigt // aus der eigenen asche.
Wer die Gedichte von Jörg Bernig liest, macht die Erfahrung, dass sie eine außerordentliche Suggestivkraft besitzen. Sie resultiert aus der Fähigkeit des Dichters zur meditativen Selbstvergessenheit. Aus diesem Zustand nähert er sich den Erscheinungen in seiner unmittelbaren Umgebung und den Geschehnissen in seinem geschichtlichen Resonanzraum, der in Ostmitteleuropa zentriert ist. Seine Gedichte sind eingeflochten in das Netz der historischen Überlieferung (andere starrten gebannt // auf das banner des halbmonds // sagen wir Mohács) und der literarischen Tradition (taglanges zielloses schweifen | die tiefe der jahre).
Dabei kommt Jörg Bernigs Dichten ohne die Brechungen der Ironie und die Forcierungen des Pathos aus. Sein bevorzugtes Mittel ist vielmehr etwas, das man als den Blick aus teilnahmsvoller Distanz bezeichnen könnte. Dieser Blick kann fallweise melancholisch verschattet sein, wird aber nie durch das Sentiment abgefälscht. So arbeitet Bernig mit einer lyrischen Sprache, zu deren Beschreibung das Wort Noblesse durchaus angemessen ist. Das macht ihn zu einer Ausnahmegestalt in der deutschen Lyrik der Gegenwart. Seine Gedichte bannen, sie lösen, befreien aber auch, weil sie nicht effektvoll sein und den Leser nicht lenken oder gar belehren wollen.
Jörg Bernig, dessen Lyrik bleiben wird, feiert am 17. Januar 2024 seinen 60. Geburtstag.
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Über den Autor: Markus Schürer, geb. 1973, lebt als Historiker und Literaturwissenschaftler in Dresden.
Letzte Gedichtbände und Romane von Jörg Bernig: in untergegangenen reichen. Gedichtband. Edition Rugerup. Berlin 2017. ISBN: 978-3-9429556-5-2. reise reise. Gedichte. Edition Buchhaus Loschwitz. Dresden 2018. ISBN: 978-3-9816210-9-9. Der Wehrläufer. Eine Geschichte aus Prag. Roman. Edition Buchhaus Loschwitz. Dresden 2021. ISBN: 978-3-9823005-0-4. Eschenhaus. Roman. Edition Buchhaus Loschwitz. Dresden 2023. ISBN: 978-3-9824237-9-1.
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