Die vorliegende islamwissenschaftliche Abhandlung versteht sich als Handreichung für all jene, die für die Islampolitik Verantwortung tragen. Sowohl Vertreter der politischen Klasse, der beiden Amtskirchen sowie zahllose Journalisten, so ist Tilman Nagel überzeugt, ließen „jegliche Kenntnis des Islams und seines Ritualrechts vermissen“ und buhlten mit „haltlose[n] Meinungsäußerungen […] um die Gunst muslimischer Wähler“ (S. 8). Mit seiner Darstellung der religiösen und ritualrechtlichen Grundsätze des Islam möchte er zugleich auf die politischen und gesellschaftlichen Implikationen hinweisen, die mit einer Verpflanzung der islamischen Kultpraxis in nichtislamische Weltgegenden verbunden sind.
Die von Allah erlassenen Ritualpflichten machen nicht nur den wichtigsten Teil der Scharia, das heißt der gottgegebenen Verhaltens- und Rechtsvorschriften, aus (vgl. S. 14), sondern haben enorme Bedeutung für den Lebensvollzug eines Muslims. Indem der Gläubige diesen Pflichten nachkommt, erweist er dem Schöpfer des Kosmos seine fortwährende Verehrung und Anbetung. Zugleich berührt der Umstand, dass eine regelgerechte Erfüllung der Ritualpflichten auf das individuelle Jenseitsverdienst anrechenbar ist, unmittelbar das Lebensgefühl des einzelnen Muslim.
Angesichts der Bedeutung, die den Ritualpflichten im islamischen Glaubenssystem zukommt, hat sich die Islamforschung bislang nur spärlich mit den Riten und mit dem Ritualrecht beschäftigt (vgl. S. 8). Diese Lücke zu schließen ist ein Anliegen des Autors. In fünf Kapiteln wird der Leser zum einen über Sinn und Bedeutung des rituellen Gebets, über seinen regelgerechten Vollzug beziehungsweise die Voraussetzungen seiner Gültigkeit, über die Gliederung der Gebetshandlung sowie über die vorgeschriebene Reihenfolge, in der die Pflichtelemente des Gebets auszuführen sind, informiert; zum anderen werden Inhalt und Ausführung sowie Entstehung und Funktion des Gebetsrufs dargestellt. In seinen Ausführungen geht es dem Autor darum, den inneren Zusammenhang des islamischen Glaubensbekenntnisses zu entschlüsseln sowie dessen Geltungsansprüche kenntlich zu machen. „Den Gebetsruf durchzuführen“, so stellt Nagel fest, „ist die in der Sicht des Muslims wichtigste Maßnahme, mit der ihm und allen Glaubensbrüdern immerfort die Überlegenheit des Islams ins Gedächtnis gerufen wird; zugleich werden mittelbar alle Andersgläubigen aufgefordert, diese einzig wahre und daher allen überlegene Daseinsordnung anzunehmen.“ (S. 73)
In dem lediglich als „Exkurs“ firmierenden letzten Kapitel, das falschen Analogien und dem „Hirngespinst eines unpolitischen Islams“ gewidmet ist, kann der politische Praktiker die ihn interessierenden Schlussfolgerungen finden. Dem Leser wird noch einmal vor Augen geführt, welche politische und gesellschaftliche Bedeutung der Glaubenspraxis der Muslime, insbesondere der Gebetsruf und der alltägliche Ritenvollzug, gerade auch in einer nicht-islamischen Welt zukommt. Daraus ergeben sich Fragen hinsichtlich der Verträglichkeit des islamischen Glaubens mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie der konkreten Ausgestaltung der verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Religionsfreiheit. Insoweit religiöse Überzeugungen mit einer Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verbunden sind, ist, so der Autor, „die bedingungslos gewährte Religionsfreiheit dringend zu überdenken“ (S. 111).
Der Gebetsruf, so Nagel, ist nach schariatischer Lehre „der Ausdruck der Herrschaft des Islam über das Territorium, in dem er ertönt“; er fasst „die Überlegenheit des Islam über alle anderen Religionen und Daseinsordnungen ausdrücklich in Worte und impliziert die generelle Abwertung der letzteren“ (S. 94). „So sind die Ritualvorschriften des Gebets und die Regelungen des Gebetsrufs keineswegs nur Normen der Anbetung Allahs. Sie sind stets auf das der Herrschaft Allahs unterworfene Gemeinwesen der Muslime bezogen, sichern dessen Bestand und tragen zur Erweiterung des Machtbereichs des Islam bei.“ (S. 85)
Diese und ähnliche Passagen liest man als politisch interessierter Nichtkenner des Islam mit Beklemmung. Wenn diese Deutung des Islam und seiner Geltungsansprüche – hier vorgelegt von einem rennomierten Gelehrten – zumindest möglich und plausibel ist, wird eine Frage unabweisbar: Was eigentlich wollte jener Bundespräsident seinem Volk mitteilen, dem zufolge der Islam auch zu Deutschland gehöre?
Nagel jedenfalls zerstört die Illusion eines unpolitischen Islams, der im Gegensatz zu einem politischen Islam in eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft integrierbar wäre. Für ihn ist die Vorstellung eines unpolitischen Islams „eine Fiktion wohlmeinender zeitgenössischer Westler“, die es zum einen „seit zweihundert Jahren gewohnt sind, daß man zwischen dem religiösen Glauben einerseits und den politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten andererseits trennt“ (S. 100), und zum anderen nicht zur Kenntnis nehmen, dass bereits „der alltägliche Ritenvollzug eine höchst politische und die Gesellschaft formierende Angelegenheit ist“ (S. 102). Zu zeigen, dass der Ruf zum Pflichtgebet immer auch den Anspruch des Islams verkündet, „die Macht über die Regionen innezuhaben, wo er zu Gehör gebracht wird“ (S. 102), sowie zu zeigen, dass mit der „Ausübung der kultischen Pflichten in einem nichtislamischen Gemeinwesen“ zugleich „das Fernziel der Aufrichtung islamischer Macht und Herrschaft“ verbunden ist (S. 105), ist das eigentliche Ziel der kenntnisreich und durchweg solide argumentierenden Abhandlung.
Tilman Nagels Schrift ist das letzte vom Gründer der Basilisken-Presse betreute Buch. Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Armin Geus hat seine Verlagsarbeit Anfang 2023 aus Altersgründen beendet. Die Basilisken-Presse, gegründet 1976 in Marburg an der Lahn, wurde vom Oikos Verlag, Dresden, übernommen und wird von diesem unverändert fortgeführt.
Tilman Nagel: Das islamische Pflichtgebet und der Gebetsruf. Eine ritualrechtliche Untersuchung nebst einem Exkurs über falsche Gleichsetzungen. Dresden: Basilisken-Presse, 2024, 125 S., 19,60 €
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Über den Autor: LOTHAR FRITZE, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrte als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Neuere Buchveröffentlichungen: Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München: Olzog, 2012; Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise, Waltrop und Leipzig: Manuscriptum, 2016; Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise, Paderborn: Schöningh, 2017; Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek: OLZOG edition im Lau-Verlag, 2019.
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