Am 8. November 1999 erschien in der Frankfurter Rundschau ein Artikel mit dem (redaktionellen) Titel „Die Bombe im Bürgerbräukeller. Der Anschlag auf Hitler vom 8. November 1939. Versuch einer moralischen Bewertung des Attentäters Johann Georg Elser“. Darin unterzog Lothar Fritze das Hitler-Attentat von Georg Elser, bei dem acht Menschen zu Tode kamen und 63 verletzt wurden, davon 16 schwer, einer moralphilosophischen Betrachtung – mit einem für Elser wenig schmeichelhaften Ergebnis (siehe Lothar Fritze: Legitimer Widerstand? Der Fall Elser. Berlin 2009). Fritze kritisierte zwar nicht den Versuch, Hitler zu töten, hielt aber die Art und Weise seines Vorgehens im Ganzen gesehen für nicht vorbildlich. Der moralphilosophischen Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen Unschuldige getötet werden dürfen, widmete sich Professor Dr. Lothar Fritze in seinem Buch „Die Tötung Unschuldiger. Ein Dogma auf dem Prüfstand“, Berlin/New York 2004.
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Gälte es, den Titel „Held unter den Deutschen des 20. Jahrhunderts“ zu vergeben, wäre Georg Elser der erste Anwärter. Die unkritische Würdigung Elsers schreitet ungebremst voran und hat längst Züge einer „Heiligsprechung“ angenommen. Mittlerweile wurden mehr als 60 Straßen und Plätze nach ihm benannt. Hinzu kommen Schulen, die seinen Namen tragen, und eine zweistellige Zahl an Denkmalen und Gedenktafeln. Auf der Expo 2000 wurde eine acht Meter hohe Büste von Elser präsentiert. Es gab eine Briefmarke mit dem Konterfei Elsers (die schon auf Bekennerschreiben von Terroristen klebte). Und und und.
Elser als Vorbild?
Elser wird heute einer ganzen Nation als ein Vorbild präsentiert; seine Tat gilt als uneingeschränkt vorbildlich und damit als nachahmenswert. Peter Steinbach und Johannes Tuchel von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand fordern ein „Bekenntnis zu Elser“ (dies.: Georg Elser. Berlin-Brandenburg 2008, S. 117).
Eine solche Würdigung zieht – und darüber sind sich die Hauptvertreter der uneingeschränkten, nachgerade quasi-religiösen Elser-Verehrung auch bewusst – automatisch eine Handlungsempfehlung nach sich: Ein jeder, der sich in einer vergleichbaren Situation wie Elser befindet, ist „zu jeder Zeit und an jedem Ort“ (Johannes Tuchel: Zur Geschichte und Aufgabe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. In: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945. Berlin u. a. 1994, S. 712) aufgefordert, sich ähnlich zu verhalten – also jenen Handlungsregeln zu folgen, die durch das konkrete Handeln Elsers exemplifiziert wurden. Solche Vorbilder samt der damit verbundenen Handlungsaufforderungen zu schaffen ist ein wesentlicher Zweck der politischen Bildungsarbeit.
Welche Botschaft aber sendet man gerade an junge Menschen, wenn man beispielsweise Schulen nach einem Attentäter benennt, der bei seinem Anschlag einen Kollateralschaden an Toten in einer dreistelligen Zahl in Kauf genommen hat, sich allerdings noch nicht einmal darum kümmerte, ob die Veranstaltung, bei der seine Bombe explodieren soll, wirklich stattfindet und das Zielobjekt anwesend sein wird, und sich darüber hinaus durch seine Abwesenheit vom Tatort von vornherein jeder Möglichkeit begab, das Geschehen gegebenenfalls zu unterbrechen?
Volkspädagogische Vereinnahmung
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Unrechtscharakter des nationalsozialistischen Regimes war lange vor Beginn der Attentatsvorbereitungen klar erkennbar. Ich unterstelle, dass man Hitler im November 1939 im Zuge eines Tyrannenmordes beseitigen durfte. Bedenken bestehen allerdings, was die Zulässigkeit von Elsers Vorgehensweise, das heißt seine konkrete Tatausführung, sowie seine Motivbildung anlangt. Diese Bedenken konnten in den bisherigen Diskussionen über den Fall Elser – auch wenn mitunter ein gegenteiliger Eindruck erzeugt wird (siehe Wolfgang Benz: Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler. München 2018, S. 154) – nicht ausgeräumt werden.
Noch bis in die 1980er Jahre spielte Elser in der Widerstandsforschung kaum eine Rolle. In den letzten 30 Jahren hat sich das grundlegend geändert. Dies hängt erstens mit der Veröffentlichung des von der Gestapo angefertigten Protokolls der Vernehmung von Elser im Jahre 1970 zusammen. Während lange die Vermutung im Raum stand, Elser könnte im Auftrag des britischen Geheimdienstes oder gar der NS-Regierung gehandelt haben, setzte sich seitdem die These von der Einzeltäterschaft Elsers immer mehr durch. Zweitens aber, und dieser Grund ist nicht weniger wichtig, ist Elser als „ein kleiner Mann aus dem Volke“ für eine volkspädagogische Vereinnahmung in besonderer und gleich doppelter Weise geeignet.
Zum einen konzentrierte sich die Widerstandsforschung bis dahin vornehmlich auf Vertreter der nationalkonservativen Eliten und der Kirchen sowie auf Kommunisten und Sozialdemokraten. Elser aber handelte außerhalb jeder Organisation als isolierter Einzelner. Zum anderen kam die Neubewertung des Elser-Attentats deshalb wie gerufen, weil sie die These stark zu machen scheint, dass man auch als Normalbürger und nur auf sich gestellt die Möglichkeit hatte, sich gegen die Diktatur zur Wehr zu setzen. Dieses „Seht her, was man auch als Einzelner hätte machen können!“ wird heute als ein Instrument benutzt, um das gesamte deutsche Volk nachträglich der Kollaboration, der Duldung und des unterlassenen Widerstandes zu bezichtigen und auf diese Weise doch noch eine Kollektivschuld zu begründen. Die Botschaft lautet: Während das deutsche Volk den „Rückfall in den archaischen Zustand der Tyrannei nicht beklagt, sondern freudig begrüßt“ hat (W. Benz, a. a. O., S. 12), leistete Elser aktiv Widerstand.
Man könnte nun fragen: „Ist es nicht erstaunlich, dass ein Attentäter, der sein Ziel verfehlte, aber acht Unbeteiligte tötete, zu einem Nationalhelden aufsteigen konnte, dessen Motive und Vorgehensweise im Grunde genommen nicht mehr kritisch hinterfragt werden?“
Missdeutete Staatsraison
Diese Frage scheint tatsächlich auf der Hand zu liegen. Allerdings: Es ging gegen Hitler, den Führer des nationalsozialistischen Staates. Und die Abgrenzung vom Nationalsozialismus ist gleichsam die Staatsraison der Bundesrepublik.
Diese Staatsraison aber lässt sich leicht missdeuten: Im Kampf gegen Hitler, so die heute herrschende Meinung, konnte es keine Art des Vorgehens geben, die unerlaubt gewesen wäre. Dies wird von zentralen Protagonisten der Elser-Verehrung, etwa Peter Steinbach und Johannes Tuchel, offen, wenn auch indirekt, ausgesprochen. Sie vertreten die Auffassung, dass die Diktatur, „die Verhältnismäßigkeit der im freiheitlichen Verfassungsstaat gebotenen Zweck-Mittel-Abwägung aufhebt“ (Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Es schien, als schreckte die Öffentlichkeit vor Elser zurück. Der Widerstandskämpfer und das Attentat vom 8. November 1939 – Deutungen und Diffamierungen. In: Frankfurter Rundschau vom 18. November 1999, S. 8). Wer darauf hinweist, dass auch bei der Abwehr großer Gefahren, also „im Kampf gegen das Böse“, moralische Normen gelten, dem sagt man nach, er urteile „von der durch den Abstand von sechs Jahrzehnten und die realitätsferne Konstruktion einer absoluten Ethik scheinbar doppelt gesicherten Bastion einer theoretisch-fixierten rigoristischen Moral“ (W. Benz, a. a. O., S. 155).
Hinter Formulierungen dieser Art steckt die Überzeugung, dass im Falle eines Vorgehens gegen Hitler weder über die Geeignetheit und Erforderlichkeit noch über die Verhältnismäßigkeit der Mittel und insbesondere auch nicht über mögliche Kollateralschäden unter Unbeteiligten genauer nachgedacht werden musste. Angesichts der Gefahren, die von Hitler ausgingen, ist jeder Anschlag auf seine Person über Kritik erhaben. Wohl auf der Basis solcher Überlegungen konnte die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, auch die Frage für „müßig“ halten, ob Elser „hätte vor Ort bleiben“ müssen, „um notfalls Schaden von anderen abwenden zu können“ (Jutta Limbach: „In einem Meer von Feindseligkeit und Furcht“. In Frankfurter Rundschau vom 15. Januar 2003, S. 14).
Man fragt sich, ob, wer so denkt, sich eigentlich über die Tragweite seiner Behauptungen bewusst sein kann. Ich glaube das nicht. Denn Positionen wie die von Steinbach und Limbach lassen sich weder moralphilosophisch noch staatstheoretisch verteidigen. Auch die gedankliche Unklarheit der zitierten Einlassung von Wolfgang Benz ist ein Beleg dafür. In solchen Rückzugsgefechten ist man geradezu genötigt, verworren zu argumentieren. Um die unkritische Würdigung Elsers fortsetzen zu können, um weiterhin, so wie der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel auf einer Veranstaltung zum 50. Todestag von Georg Elser am 9. April 1995 sagen zu können, Elser habe „vorbildlich Widerstand geleistet“, muss man eine gewisse interpretatorische Kreativität an den Tag legen.
Erklärungsnöte und Kampfmethoden
Man sehe sich Elsers Attentatsentschluss vom Herbst 1938 näher an. Um einen Tyrannenmord so planen zu dürfen, dass auch Unbeteiligte mit großer Wahrscheinlichkeit betroffen sind, benötigt man sehr gute Gründe. Die abzuwendende Gefahr sollte möglichst groß und dringlich sein; mildere Mittel sollten nicht zur Verfügung stehen und die eigene Urteils- und Willensbildung sollte strenge Mindestanforderungen nicht unterschreiten. Diese Forderungen versetzen die Elser-Verehrer in Erklärungsnöte. Daraus resultiert die verbreitete Neigung, Elser eine geradezu phantastische Hellsichtigkeit zu unterstellen. Elser muss als jemand erscheinen, der nicht nur mit der Möglichkeit eines von Hitler zu verantwortenden Krieges gerechnet, sondern (auch nach dem Münchener Abkommen Ende September 1938) dessen „Unvermeidlichkeit“ erkannt hat; er muss als jemand dargestellt werden, der nicht nur Deutschlands Expansionsbestrebungen unterbinden, sondern einen „Weltkrieg“ verhindern wollte. Obwohl Elser gravierende Nachlässigkeiten und Unbedachtsamkeiten unterlaufen sind, muss man behaupten, er „plante alles sorgfältig und bedachte jedes Detail“ (Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Georg Elser. Berlin 2008, S. 40). Gerade in der Ausschmückung der angeblichen Motive Elsers nimmt man sich jede dichterische Freiheit; ihm werden theoretische Verallgemeinerungen zugeschrieben, für die es keinerlei Belege gibt; man verkauft eigene Mutmaßungen als Tatsachen (vgl. L. Fritze, Legitimer Widerstand?, a. a. O., S. 173-178).
Zudem ist man im Umgang mit Gegnern – um eine eher moderate Formulierung zu wählen – nicht gerade zimperlich. Man betrachte nur, wie man auf die (hier nicht zu bewertenden) Schilderungen und Vermutungen von Martin Niemöller reagierte. Niemöller, Mitinitiator der Bekennenden Kirche, war „persönlicher Gefangener des Führers“ und saß in Sachsenhausen und in Dachau im selben Zellenbau wie Elser. Sowohl in Sachsenhausen als auch in Dachau war ihm, so Niemöller, von SS-Angehörigen mitgeteilt worden, dass Elser selbst zur SS gehöre. Zudem berichtete Niemöller, dass Elser mit seinen SS-Bewachern „durchaus kameradschaftlich“ verkehrte und „auf Du und Du mit ihnen“ stand. Auch hatte er eine Reihe zutreffender Informationen über die privilegierte Behandlung, die Elser zuteil geworden war (Elser verfügte nicht nur über eine, wie die anderen Häftlinge, sondern über mehrere Zellen, zwischen denen zum Teil die Wände entfernt waren; auch war ihm eine Tischlerwerkstatt eingerichtet worden). Zudem soll er SS-Kost erhalten und einen eigenen Radioapparat in seiner Zelle gehabt haben. Niemöller jedenfalls war überzeugt, dass Elser im Auftrag der Nationalsozialisten gehandelt hatte – eine Annahme, die eine Reihe angesehener Historiker seiner Zeit keineswegs für absurd hielt (vgl. L. Fritze, Legitimer Widerstand?, a. a. O., S. 149-151).
Unabhängig davon, wie der Wahrheitsgehalt der Niemöller'schen Mitteilungen zu beurteilen sein mag: Sie passen nicht in die Zeit; sie erschweren die pädagogische Vereinnahmung des „Attentäters aus dem Volke“. Deshalb reicht es auch nicht, die Behauptungen Niemöllers gegebenenfalls als unzutreffend nachzuweisen oder für die beschriebenen Sachverhalte Erklärungen zu finden. Wer der ungetrübten Elser-Verehrung im Wege steht, muss sich selbst unmöglich machen – er muss desavouiert werden. Steinbach bezeichnet denn auch den untadeligen Kirchenmann als einen „Verleumder“ Elsers (Peter Steinbach: Bereit zur Gewaltanwendung – aus Verantwortung. Johann Georg Elsers Kampf gegen den Terrorismus an der Macht. In: Achim Rogoss/Eike Hemmer/Edgar Zimmer [Hrsg.]: Georg Elser – Ein Attentäter als Vorbild. Bremen 2006, S. 42-46, hier S. 43). Jemanden einen Verleumder nennen heißt aber, ihm vorzuwerfen, er hätte wider besseres Wissen über einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, denselben in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder verächtlich zu machen. Für diese Behauptung, nämlich dass Niemöller sich der Unwahrheit seiner Darstellungen bewusst gewesen wäre, gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte.
Die Protagonisten der unkritischen Elser-Verehrung schrecken vor persönlicher Verunglimpfung nicht zurück. Dies ist nicht nur Niemöller so ergangen. Warum aber werden derartige Kampfmethoden eingesetzt? Offenbar dient diese aggressive Polemik weder der Wahrheitsfindung noch einer angemessenen Bewertung; vielmehr geht es um die geschichtspolitisch korrekte Formung des öffentlichen Bewusstseins. Und diese Einstellung wiederum bedeutet einen Verrat an der Wissenschaft.
Schwierigkeiten einer unkritischen Würdigung
Die volkspädagogische Aufbereitung des Anschlags hat mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen. Da ist erstens die insgesamt dürftige Quellenlage. So sind wir über die Motive Elsers nur unzureichend informiert. Von seinem Kriegsverhinderungsmotiv wissen wir nur aus dem Gestapo-Protokoll. Elser selbst hat jedoch ein Motiv besonders stark gemacht, nämlich die Lage der Arbeiter verbessern zu wollen, das sicherlich nicht geeignet ist, einen Tyrannenmord unter Inkaufnahme der Tötung Unbeteiligter zu rechtfertigen. Auch wissen wir, um ein weiteres Beispiel zu nennen, nicht, ob er andere Möglichkeiten, Hitler zu töten, überhaupt erwogen oder ob er von vornherein auf einen Sprengstoffanschlag und dann noch auf einen Anschlag während einer Massenveranstaltung gesetzt hat.
Die zweite Schwierigkeit liegt in der Person Elsers begründet. Es handelt sich um einen Mann, der sich, seinen Angehörigen zufolge, an Politik nie interessiert zeigte, der sich mit politischen Fragen zwar nie eingehend befasste, aber als KPD-Wähler und Mitglied des kommunistischen paramilitärischen Rotfrontkämpferbundes trotzdem seine Meinungen hatte und dessen Ablehnung des Nationalsozialismus sich vor allem aus seiner Kenntnis der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft entwickelte. Er galt als Einzelgänger, lebte mit seinen Eltern und Geschwistern fast durchweg in Feindschaft, verweigerte zum Teil Unterhaltszahlungen für seinen unehelichen Sohn, um den er sich auch sonst nicht kümmerte. Um Lohnpfändungen zu entgehen, wechselte er die Arbeitsverhältnisse oder wich in die Selbstständigkeit oder Schwarzarbeit aus. Als er bei seinem Versuch, die Grenze illegal zu überschreiten, verhaftet wurde, gab er zur Begründung an, seine Schulden nicht bezahlen zu können. Das alles ist für die Beurteilung der Tatausführung irrelevant, zeigt aber, dass man über Elser mehr und Genaueres wissen müsste, um ihn rundum als Vorbild und insbesondere als jemanden präsentieren zu können, bei dem man eine solche Tat stellvertretend für die Gesellschaft „in Auftrag“ geben würde. Jedenfalls: Jeder hat sich zu fragen, ob er einer Person dieses geistigen und charakterlichen Zuschnitts einen Freibrief für einen Tyrannenmord ausstellen würde – und zwar für einen Tyrannenmord, bei dem er selbst, als ein Unschuldiger, sein Leben verlieren könnte.
Eine dritte und meines Erachtens entscheidende Schwierigkeit bietet schließlich die Ausführungsweise des Attentats. Der Anschlag hat etwas Monströses, etwas Mitleidloses, etwas Barbarisches. Elser hat sein Attentat als einen Bombenanschlag mit Zeitzündertechnik geplant. Da sich die Bombe in einer Säule des Bürgerbräukellers befand, rechnete er damit, die Decke des Saales zum Einsturz zu bringen. Die Sprengladung wirkte nicht zielgenau, sondern diffus und musste also auf eine möglichst große Schadenswirkung ausgerichtet sein. Im Saal befanden sich nach vorsichtigen Schätzungen 2.000 Personen. Dass es am Ende nur acht Tote, darunter die Aushilfskassiererin Maria Henle, und um die 60 Verletzte gab, von denen 27 im Krankenhaus stationär aufgenommen werden mussten, war dem Umstand geschuldet, dass nach der Beendigung der Rede Hitlers und seinem Verlassen des Saales dieser sich bis auf rund 200 (nach anderen Schätzungen: 120 bzw. 150) Personen geleert hatte. Hätte die Detonation wie geplant während der Veranstaltung stattgefunden, wäre es zu einem unvorstellbaren Blutbad gekommen. Für eine Hochrechnung der Opferzahlen dürfte ein Faktor von 10 nicht ausreichen, da man während der Veranstaltung wesentlich gedrängter saß und auf den Emporen zum Teil auch stand.
Man fragt sich unwillkürlich, was für ein Mensch muss einer sein, der eine Bombe in einem vollbesetzten Saal zur Detonation bringt – und zwar in der vagen Hoffnung, dabei eine ganz bestimmte Person, Hitler, vielleicht auch noch, wie Elser in der Vernehmung meinte, Göring (der allerdings gar nicht anwesend war) und Goebbels zu treffen. Dieser Mensch wird heute für einen der größten Deutschen gehalten.
Die Ausführungsweise des Anschlags
Jawohl: Es handelte sich um eine mutige Tat, die es auf das richtige Ziel abgesehen hatte. Und aus der Sicht von Nachgeborenen sind viele bereit, über die vergleichsweise wenigen Opfer des Anschlags „hinwegzusehen“. Sollte es aber nicht zu denken geben, dass die Verehrung Elsers nur deshalb jene hymnischen Formen annehmen konnte, weil der Anschlag misslang – weil es eben einerseits nicht zu dem ansonsten unvermeidlichen Blutbad im Bürgerbräukeller kam, und weil andererseits das Massensterben des Zweiten Weltkrieges und der Massenmord an Juden und anderen „Feinden“, wie wir heute wissen, nicht verhindert wurden?
Und selbst diese Überlegung unterstellt, dass Hitler mit Sicherheit tot gewesen wäre (und die Geschichte ohne Hitler einen anderen Verlauf genommen hätte). Woher aber will man das wissen? Um das Rednerpult lag ein drei Meter hoher Schutthaufen. Der allein hätte Hitler wahrscheinlich nicht getötet. Es gab eine gehörige Druckwelle, die Türen aus den Angeln riss. Vielleicht hätte es Hitler auch fortgeschleudert – so wie die gerade den „Führer-Tisch“ abräumende und dauerhafte Schäden davon tragende Kellnerin Maria Strobl. Niemand kann ausschließen, dass Hitler hätte überleben können. Insofern stellt sich die Frage, ob eine diffus wirkende Bombe überhaupt als ein hinreichend taugliches Mittel anzusehen ist.
Damit sind wir bei der Art und Weise der Durchführung des Attentats. In meinem Artikel in der Frankfurter Rundschau hatte ich offengelassen, ob man den Anschlag notfalls auch so ausführen durfte, dass dabei Unschuldige ihr Leben verlieren können. Sollte man jedoch zu dem Ergebnis gelangen, dass dies in extremen Ausnahmesituationen und unter Beachtung strengster Voraussetzungen erlaubt sein kann, dann würden wir doch alle erwarten, dass ein jeder, der sich zu einer derart opferträchtigen Vorgehensweise selbst ermächtigt, bereit ist, diejenigen Risiken, die er selbst tragen kann, auch selber zu tragen. Dass die Teilnahme Hitlers an der Veranstaltung mit öffentlicher Bekanntmachung in der Presse am 7. November vorübergehend abgesagt worden war, war Elser entgangen. Elser zeichnete sich durch eine gewisse „Gleichgültigkeit gegenüber politischen Tagesereignissen“ aus, ebenso durch ein „mangelndes Bestreben, sich durch Zeitung oder Rundfunk zu informieren“ (so Lothar Gruchmann in: Anton Hoch/Lothar Gruchmann: Georg Elser: Der Attentäter aus dem Volke. Der Anschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräu 1939, Frankfurt am Main 1980, S. 171). Nach nochmaliger Prüfung seiner Sprengvorrichtung hatte er am Vormittag des 8. November München verlassen und sich nach Konstanz begeben, um sich dort in die Schweiz abzusetzen. Als sich die Veranstaltungsregie kriegsbedingt änderte und Hitler seine Rede früher als sonst beendete, war er also nicht vor Ort und konnte daher auch nicht mehr eingreifen. Dazu wäre er aber verpflichtet gewesen.
Dank der Forschungen von Peter Koblank wissen wir heute, dass vier der stationär aufgenommenen Verletzten erst nach Beendigung der Veranstaltung den weitgehend geräumten Saal betreten hatten (http://www.mythoselser.de/opfer4.htm). Vermutlich hätte also ein vor Ort gebliebener Elser die Möglichkeit gehabt, das Schlimmste zu verhindern. Jedenfalls konnte er nicht wissen, dass eine solche Möglichkeit dann, wenn das Zielobjekt sich gar nicht mehr am Tatort befindet, nicht bestehen würde.
Je mehr Details man über den Anschlag kennt, umso mehr verdichtet sich der Eindruck, dass seine problematischen Aspekte in der öffentlichen Darstellung ausgeblendet werden. Dies hat seinen Grund. In seiner exorbitanten Brutalität und Rücksichtslosigkeit stellt dieser Anschlag alle bis dahin bekannten politisch motivierten Anschläge weit in den Schatten. Da er wohl für jeden Menschen Fragen aufwirft, kann seine unkritische Würdigung nur aufrechterhalten werden, wenn schon die bloße Thematisierung seiner problematischen Aspekte entschieden bekämpft wird. Dies erklärt die Vehemenz der persönlichen Angriffe auf jeden, der hinter die herrschenden Deutungen auch nur ein Fragezeichen setzen möchte.
Die Tat als Ganze ist nicht vorbildlich
Elser aber ist trotz aller Unklarheiten und Bedenken in die Ehrengalerie des deutschen Widerstands aufgestiegen. Vermutlich war auch mancher jener Politiker, die Elsers unkritische Verehrung befördert haben, einfach nur unzureichend informiert und hat sich vor einen volkspädagogischen Karren spannen lassen. Ein genaueres Nachdenken über Motive, Planung, Durchführung und Folgen des Attentats scheint sich allerdings für viele schon deshalb zu verbieten, weil der Anschlag Hitler galt. Diese Einstellung folgt der Intuition, dass gegen Hitler gleichsam „alles erlaubt“ war. Sie ist das Ergebnis einer Geschichtspolitik, die zum Teil groteske Züge angenommen hat.
Wir wissen heute, was Hitler und die nationalsozialistische Diktatur alles angerichtet haben, und neigen dazu, Elsers Tat vor dem Hintergrund dieses Wissens zu beurteilen. Diese Sichtweise ist aber unzulässig, weil sie von einem erst im Nachhinein erworbenen Wissen – zumal über erst später stattgefundene Ereignisse – Gebrauch macht, und sie ist sogar gefährlich. Sie verleitet dazu, bei der Beurteilung von Elsers Vorgehen „Großzügigkeit“ walten zu lassen, weil man sich eben vorstellt, was alles – jedenfalls möglicherweise – hätte vermieden werden können.
Kein Zweifel: Alle Welt wäre froh und dankbar, wenn sich sagen ließe, dass durch die Tötung Hitlers der Zweite Weltkrieg und sämtliche von den Nationalsozialisten nach dem 8. November 1939 verübten Verbrechen vermieden worden wären und Millionen von Menschen nicht ihr Leben verloren hätten. Und trotzdem ändert diese Feststellung nichts an der Bewertung der Planung und Durchführung des Attentats – um die es hier ausschließlich geht. Denn durch die unkritische und ungeteilte Verehrung Elsers wird die Tat als ein Ganzes, das heißt einschließlich ihrer geistigen Vorbereitung und tatsächlichen Ausführung, als vorbildhaft akzeptiert. Elsers Tat als Ganze ist aber in mancherlei Hinsicht nicht vorbildlich und sollte daher gerade nicht zur Nachahmung empfohlen werden.
Konsequenzen einer unkritischen Verehrung
Ich vermute, dass die meisten der Elser-Verehrer sich nicht darüber im Klaren sind, was es heißt, das Handeln eines Menschen als vorbildlich, als beispielgebend herauszustellen. Einer Handlung Vorbildcharakter zuzusprechen heißt, das von der konkreten Handlung abstrahierbare allgemeine Handlungsschema moralisch zu legitimieren. Damit bringt man eben zum Ausdruck, dass ein jeder, der sich in einer relevant ähnlichen Situation befindet, denselben Regeln folgen darf oder folgen sollte, denen der Handelnde gefolgt ist.
Elsers Handlungsweise als vorbildlich auszuweisen heißt, etwa folgende Erlaubnisnorm zu vertreten: „Jeder, der auf der Basis von allgemeinen politischen Mutmaßungen überzeugt ist, dass seine Regierung einen illegitimen Krieg zu führen beabsichtigt, oder feststellt, dass seine Regierung einen solchen Krieg führt oder eine vergleichbare Gefahr heraufbeschwört, ist berechtigt, die dafür verantwortlichen Personen zu eliminieren und zu diesem Zweck, ohne auf eine Minimierung der Opfer unter Unbeteiligten zu achten, ein diffus wirkendes Mittel, notfalls auch in einer großen Menschenmenge, zum Einsatz zu bringen.“ Kann man wirklich wollen, dass eine solche Norm gesellschaftlich in Geltung gesetzt wird?
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Über den Autor:
LOTHAR FRITZE, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Neuere Buchveröffentlichungen: "Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich", München: Olzog, 2012; "Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise", Waltrop und Leipzig: Manuscriptum, 2016; "Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise", Paderborn: Schöningh, 2017; „Die Moral der Nationalsozialisten“, Reinbek: OLZOG edition im Lau-Verlag, 2019.
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