Kriege haben meist nicht nur eine Ursache. Man ist aber heute geneigt, vor allem wirtschaftliche Interessen als Auslöser wahrzunehmen. Gegenwärtig herrscht ein Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien. Natürlich ist es nicht mehr üblich, den mit schweren Waffen ausgetragenen Konflikt auch „Krieg“ zu nennen. Aserbeidschan ist ein schiitisch-muslimisch geprägtes Land, Armenien ein christliches. Sechzig Prozent seiner Waffen erhält Aserbeidschan aus Israel, wie die Website „Israelnetz“ in diesen Tagen berichtete. Inzwischen hat Armenien seinen Botschafter aus Israel abgezogen. Am Montag berichtete der „Spiegel“, der türkische Präsident Erdogan habe syrische Söldner nach Aserbeidschan entsandt. Russland wiederum hat eine Militärbasis in Armenien, ungefähr 3000 Soldaten sind dort stationiert. Vladimir Putin hat Armenien zur Mäßigung aufgerufen. Russland hat sich seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft re-christianisiert, die Türkei ist im Begriff, sich zu re-islamisieren.
Solche Konflikte wie der gegenwärtige um die armenisch bewohnte, staatsrechtlich aber zu Aserbeidschan gehörige Enklave Berg-Karabach kommen von weit her. Armenien ist nicht nur christlich, sondern, zum Stolz seiner Bürger, das älteste christliche Land der Welt. Vermutlich um das Jahr 314 erhob der König Trdat III. das Christentum zur Staatsreligion. Man beruft sich auf die Apostel Judas Thaddäus und Bartholomeus, die im Land gepredigt hatten und das Martyrium erlitten. Noch zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebten viele Armenier in der Türkei. Weil man sie – die Christen – für eine Einflussagentur und Fünfte Kolonne des christlichen Kriegsgegners Russland hielt, wurden sie damals in großer Zahl Opfer von Greueltaten. Der Berg Ararat, wo Noahs Arche erstmals wieder auf festes Land gestoßen war, liegt heute auf dem Gebiet der Türkei, wird aber von den Armeniern als ihr Nationalsymbol betrachtet.
Aber wo liegen die israelischen Interessen in diesem Konflikt, warum das deutliche Engagement für die aserbeidschanische Seite, abgesehen vom dortigen Öl als starkem Motiv? Israel pflegt traditionell gute Beziehungen zur Türkei, sein Staatsgebiet gehört zu dem Territorium, das einst das osmanische Reich bildete. Seine Regierungen haben es immer vermieden, die Vernichtungspolitik gegen die Armenier während des Ersten Weltkriegs als Völkermord zu bezeichnen. Es gibt aber eine tieferliegende „Heilskonkurrenz“, wenn man das Faktum der fast zweitausendjährigen Animosität der beiden Völker einmal so nennen darf. Beim Purim-Fest gedenken die gläubigen Juden der Rettung vor der Vernichtung, die ihnen von dem persischen Minister Hamann drohte und von der Königin Esther abgewendet wurde. Hamann war nach jüdischer Volksüberlieferung ein Armenier. Der Hauptfeind des jüdischen Volkes im Alten Testament waren die Amalekiter, die im Volksglauben der Juden Vorfahren der Armenier sind.
Elliot Horowitz verdanken wir ein aufschlussreiches Buch über diese Zusammenhänge, es heißt „Reckless Rites: Purim and the Legacy of Jewish Violence“. Als Ignaz Bernstein vor hundert Jahren jüdische Sprichwörter sammelte, stieß er auch auf ein galizisches: „Er is a Timche“. Bernsteins Glossar gibt Aufschluss über den Begriff: „Mit diesem Worte werden in Galizien die Armenier bezeichnet. (In manchen Gegenden nennt man sie auch ,Much‘.) Da die Armenier als Abkömmlinge der Amalekiter gelten, so steht die Bezeichnung ,Timche' mit dem Bibelvers in Zusammenhang, in welchem es von Amalek heißt: ,du sollst auslöschen (timche) das Andenken an Amalek‘. An einer anderen Stelle spricht Gott von Amalek: ,denn auslöschen werde ich (muchoj emche) das Andenken an Amalek . . .‘ Von dieser Stelle ist wohl die andere Bezeichnung für Armenier ,Much' abzuleiten." (Ignaz Bernstein, Jüdische Sprichwörter und Redensarten, 1907, Reprint 1988.) Volkstümliche Erinnerungen können zu Vielem motivieren.
Politik ist ein großes bewaffnetes geostrategisches Spiel, mit regulären Truppen und mit Söldnern, mit Erpressungen und Verhandlungen, um Öl und Land und Sicherheit, aber sie ist auch, solange die Erde dauern wird, ein Religionskrieg. Die Menschen haben nämlich, neben ihren Interessen, auch eine Seele. Es wird Zeit, dass die Christen und die Kirchen im weitgehend befriedeten Europa sich auf diese alte Wahrheit besinnen.
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Über den Autor:
LORENZ JÄGER, geb. 1951, Publizist und – bis Ende 2016 – Redakteur der FAZ, wo er die Sonderseite Geisteswissenschaften leitete. Letzte Buchveröffentlichung: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Berlin 2017. Im nächsten Jahr wird bei Rowohlt Berlin Jägers Heidegger-Biographie erscheinen.
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