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Lorenz Jäger: ADORNO LESEN

Heute vor 50 Jahren starb Theodor W. Adorno im Schweizer Urlaub, den er erstmals in Zermatt statt im von Benn bedichteten Sils Maria verbrachte. So reichhaltig ist das Reservoir an dokumentierten Aufzeichnungen von Adornos Stimme, dass ein pseudonymer YouTube-Kommentator vor einiger Zeit scherzte, die Überforderung durch das Geschehen der Jahre 1968/69 könne als notwendige Folge dieser Verkapselung anzusehen sein: "Kein Wunder, dass Adorno von der Studentenbewegung überrascht wurde. Er scheint die kompletten 60er-Jahre im Radio-Studio zugebracht zu haben." Auch der langjährige FAZ-Redakteur und Adorno-Biograph Lorenz Jäger, der für TUMULT einen kurzen Tusch zum 50. Todestag des Philosophen spielt, erkannte seinen Frankfurter Dozenten 1969 nicht am Gesicht, sondern an der Stimme.



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1952 las meine Großmutter Balzacs „Verlorene Illusionen“ und versah das Buch mit Notizen. „Liebe, wirkliche“ lautet die eine, mit Seiten-Verweis auf eine entsprechende Passage. Die zweite: „Frauen, wenn im Unrecht“, und sie bezieht sich auf diese Stelle:


Die Frauen der großen Gesellschaft haben ein wunderbares Talent, durch einen Scherz ihr Unrecht zu verringern.“

1963 schenkte sie ihr Exemplar meinem Vater, der sich seinerseits Stellen notierte, männertypische, wie die meiner Großmutter vielleicht frauentypisch waren: über Technisches zur Papierherstellung, Laster der Journalisten und Verderbtheit der Presse, Waffen, Honorare für Artikel, über einen deutschen Offizier und schließlich diese:


„Die Gabe des zweiten Gesichts, die Menschen von Talent eigentümlich ist, ließ ihn die Katastrophe erraten, der dieser kalte Brief entsprungen war.“

Das musste meinem Vater schmeicheln, war es doch ein Glaubensartikel unserer Familie, dass auch er diese Gabe besaß. Er war ein leidenschaftlicher Mann. Von Adornos „Noten zur Literatur“ besaß er alle Bände. Aber nur der Essay „Balzac-Lektüre“ ist so vielfältig mit den verschiedensten, nämlich enthusiastischen, kritischen und vehement ablehnenden An- und Unterstreichungen in allen graphischen Formen und vor allem Druckstärken des Bleistifts versehen, mit Kommentaren am Rand, Frage- und Ausrufezeichen, mit Notizen am Ende des Buchs. Lektüre als Erregung! Gelesen hat er den Aufsatz im Revolte-Jahr 1967.


Wellenförmige Unterstreichung bedeutet schärfste Ablehnung, ich gebe sie kursiviert wieder: „Die pubertäre Lust, Balzac zu lesen“, die Stelle hat zudem ein Fragezeichen am Rand. Ausführlicher ist ein Kommentar zu Adornos Formulierung über „alle seit Stalin im Osten tolerierte Kunst“, deren Schärfe mein Vater, vielleicht nicht zu Unrecht, dem Klima des Kalten Krieges zurechnete, der Band war 1961 erschienen.


An folgender Stelle liest man neben der wellenförmigen Unterstreichung am Rande: „?Adorno?(!)“:


„Täppisch verfällt der ältliche, brutale und gewissenlose Nucingen der blutjungen Esther, die ihn nach Hurenart und besten Kräften um sich selber betrügt.“

Manches sagte ihm aber auch sehr zu; offenbar alles, was sich auf Fähigkeiten von Außenseitern bezog:


„Zuweilen aber treffen die kompensatorischen Phantasien des Weltfremden die Welt genauer denn der Realist, als den man ihn pries.“

Auch diesmal wird eine Stelle zur Papierfabrikation angestrichen, die Adorno mit der „Literatur als Massenproduktion“ zusammenbringt. Viel Zustimmung erhalten Passagen zur Kapitalismustheorie und zu den menschlichen „Charaktermasken“.


Manche Seiten sind fast komplett markiert. Die ganze Familie hörte Adornos Radiovorträge. Dass ich nichts verstand, war kein Gesichtspunkt, der für die Anwesenheitspflicht etwas hätte bedeuten können. Als ich 1969 vor ihm stand, erkannte ich ihn an der Stimme, nicht am Gesicht.


Überlief mich ein Schauer?




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Über den Autor:


LORENZ JÄGER (*1951) war lange Jahre Redakteur der FAZ, wo er zuletzt das Ressort 'Geisteswissenschaften' leitete, bis er 2016 in den Ruhestand trat. In Marburg und Frankfurt studierte er Germanistik und Soziologie. Theodor W. Adorno, dem er als Student noch gegenübertrat, widmete er 2003 eine 'politische Biographie'.


Weitere Beiträge von Lorenz Jäger finden sich in den Druckausgaben vom Herbst 2015 oder vom Winter 2017/18.



 

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