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Rudolf Brandner: DER TEUFEL UND DER LIEBE GOTT (2) – Über die Würde des Menschen

Aktualisiert: 10. Sept. 2019

Die Ideologie des Allgemeinen spricht dem Menschen an sich und überhaupt eine unantastbare Würde zu, die ihn zum Inhaber unveräußerlicher Menschenrechte erhebt. Aber der Teufel steckt auch hier im Detail - und zwar in jenem Detail, das die Wirklichkeit ist, die der Mensch sich durch sein Handeln selbst gibt.



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«Die Würde des Menschen ist unantastbar». Aber mit dieser ebenso offensichtlichen wie drastischen Falschaussage ist sie schon angetastet: Sie beleidigt die menschliche Intelligenz und greift damit seine Würde als vernünftiges Lebewesen an. Denn mit dem Satz ist nicht nur das Gegenteil eingestanden - daß sie durchaus «antastbar» ist, sondern mehr noch, daß sie in der Tat auch beständig angetastet wird. Denn sonst stünde der Satz nicht da.


Zur Politik gehört mitunter der Mut, einen ganz falschen Satz als Wahrheit an die Spitze zu stellen. Er hat seine Wahrheit gerade daran, falsch zu sein und dadurch, daß er als wahrer aufgestellt wird, dage-gen zu protestieren. Eben das bleibt seine Wahrheit. Sie ist keine theoretische, sondern ethische: Deshalb beleidigt er auch nicht die Intelligenz, sondern ruft sie auf, sich ethisch zu bilden - zur Achtung des Menschseins.



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«Die Würde des Menschen ist unantastbar». Ein einfacher Satz, in kategorischer Allgemeinheit gesagt. Aber das Besondere, das alle Wirklichkeit ausmacht, ist der Feind des Allgemeinen:

«Die Würde von Adolf Hitler ist unantastbar». Ein Zögern, ein Stocken – ein Fragezeichen. Aber rein logisch ist die Subsumtion korrekt. Jede Kultur sei als Selbstwert an sich zu achten. Also ist auch die kulturelle Praktik der Geschlechtsverstümmelung (Klitorisbeschneidung) achtenswert. Noch ein Fragezeichen.


Aber das läßt sich auch ohne drastische Beispiele schon durch jede beliebige Konkretisierung zeigen: «Die Würde von Hans Meier, Waltraud Müller … (etc.) ist unantastbar». Da erhebt sich sofort die Frage: Aber wer und was sind die, und aufgrund wovon soll deren Würde denn unantastbar sein? Das allgemeine Menschsein ist nicht der Ort der Würde: Es reicht nicht hin, die «Würde» des wirklichen, konkreten und einzelnen Menschen zu begründen, sondern dies muß er selbst durch sein eigenes Tun und Verhalten leisten.



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Zwei Begriffe von Würde:


1. Der metaphysisch-moraltheologische Begriff der «Würde»: Würde als schlechthinnige, universelle und unbedingte «Eigenschaft» des Menschen, die unter keiner Bedingung steht und auch unter keiner Bedingung aufzuheben ist - ein «absolutum» der Achtung als sakraler Scheu vor einem Unangreifbaren. Die Unveräußerlichkeit der Würde & aller Menschenrechte.

«Würde» von daher als Passivum, das menschlichen Objekten zugesprochen wird. Aber wird der Mensch nicht schon dadurch «entwürdigt», daß man ihm wie einem Ding ein Prädikat um den Hals hängt, zu dem er sich nicht frei tätig - und deshalb möglicherweise auch negierend - verhalten kann?


2. Der ethische Begriff der «Würde»: Würde als prinzipielle Achtung vor dem Menschsein, die ihm als Vertrauensvorschuß auf sein konkretes Weltverhalten gegeben wird, sich auch als Mensch zu verhalten, aber eben unter dieser Bedingung steht und durch deren Verletzung auch aufgehoben werden kann.

«Würde» als Aktivum des Subjekts, als Eigenschaft, die es sich durch ethische Bildung allererst selbst geben und im Handeln bewähren muß, um sie zu haben - und die es sich auch nehmen, aufheben und vernichten kann. Der Mensch als Wesen, das sich entwürdigen und in seiner äußersten Konsequenz auch seiner Rechte als Mensch entäußern kann: Veräußerlichkeit der Menschenrechte.



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Worin besteht die Würde des Menschen?


Daß einer 69 Jugendliche auf einer Parkinsel abknallt, insgesamt 77 Menschen mordet mit 152 Verletzten - einfach so für nichts und wieder nichts? Oder sich an kleinen Kindern vergeht, sie in Verließe einsperrt, sexuell mißbraucht und vergewaltigt, dann zerstückelt auf dem Müll entsorgt? Oder einen Nahverkehrszug in die Luft sprengt und mit ihm Hunderte von Menschen, die mit ihm morgendlich zur Arbeit fahren? Oder mir nichts dir nichts Tausende junger Männer niederschießt? Oder, oder, oder … ?


Worin besteht also die Würde des Menschen? In der Erwartung, daß er zu all dem «Nein»! sagt - und dergleichen nicht tut? Und wenn doch - hat er sie dann noch - die «Würde»? Oder hat er sich selbst um seine Würde als Mensch gebracht - und kann deshalb auch keinen Anspruch mehr an seine Mitmenschen erheben, in seiner Würde und ihren Rechten geachtet zu werden?



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Als die Italiener ihren Mussolini aufknüpften, die Rumänen die Ceauscescus erschossen oder die Iraker Sadam Hussein vor laufenden Kameras dem Strick übergaben - haben sie da deren «Würde» ange-tastet und verletzt? Ließ sich da überhaupt noch etwas antasten? War da noch was von «Würde»?

Und haben sie nicht gerade dadurch ihre eigene «Würde» wiederhergestellt und gerettet? Wievielen anderen hätte man nicht auch allzugerne ihre «Würde» angetastet - nicht nur den politischen Massenverbrechern der Geschichte?



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Warum sollte die Menschheit nicht denen ihre ganze Verachtung ins Gesicht schleudern, die sich als ihre Verächter am Menschsein selbst vergehen? Sie also ihrer eigenen Schande preisgeben, um allen zu zeigen, was ein Mensch, der sich selbst in Anderen achtet, davon zu halten hat?


Nicht primär aus Rache, sondern aus Selbstachtung, dem Gefühl der eigenen «Würde». Aber auch die Rache muß auf ihre Kosten kommen, soll der Mensch nicht an seinem verletzten Gerechtigkeitsgefühl zugrunde gehen und alle Achtung verlieren. Auch die Rache hat ihr Recht – und liegt letztlich allen Rechtsverhältnissen zugrunde, so ger-ne der moderne Moralismus das auch ableugnen mag: Alles Strafrecht enthält auch das Moment der Rache; fehlte dies, zerfiel auch das allgemeine Rechtsbewußtsein und alle Achtung.




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«Adolf Hitler (…) hat seine Würde als Mensch verwirkt». Aberkennung der Menschenrechte, Verwirkung jeden Rechtsanspruches an die menschliche Gemeinschaft. Sie mag ihm gewähren, was immer sie will und mit ihrer Selbstachtung verträglich ist.



Zwei Fälle:


1. Adolf Hitler wird gefangen genommen und auf lebenslänglich verurteilt. Er hat nun ein Recht auf «menschenwürdige» Behandlung – muß gut versorgt werden, anständige Kleidung und Essen, auch Radio und Fernsehen, Sport und Freigang, Zugang zur Bibliothek, Internet, natürlich auch eine gute medizinische Versorgung und Pflege, ab und zu mal Geschlechtsverkehr, man darf ihn auch nicht beleidigen oder gar diskriminieren: und all das Jahrzehnte lang auf Kosten der menschlichen Gemeinschaft, deren Vernichtung er betrieb.


2. Adolf Hitler wird gefangen genommen und auf einem öffentlichen Platz der Bevölkerung übergeben, von der Menge gelyncht, gerädert und geteert unter allen verächtlichen Beschimpfungen, Verhöhnungen und Spottreden, bis er letztlich halbtot ans Kreuz geschlagen wird und dort langsam, langsam, langsam unter unendlichen Qualen verröchelt. Der Rest wird verbrannt, auf den Müll geworfen und ohne jede Bestattung entsorgt.


Im Fall 1 – der Humanität & rechtsstaatlichen Achtung der Menschenrechte: Kann eine solche Gemeinschaft noch sich selbst achten? Ist das im Angesicht von Millionen von Toten nicht eine Verhöhnung allen Rechtsempfindens, die Aufhebung aller Selbstachtung – und damit eine neue, untilgbare Schuld, die zur Verachtung aller Rechtsverhältnisse führen muß? Zur Selbstverachtung des Menschen, der keine Grenzen mehr zu setzen vermag, ohnmächtig, dem Vergehen etwas entgegenzusetzen, weil er selbst für nichts mehr steht und jedes Maß verloren hat?


Im Fall 2 – der Bestialität der Rache jenseits allen Rechts und aller Sittlichkeit: Wie soll sich der Mensch da noch achten, wenn er sich dermaßen vertiert, daß er sich genauso oder mitunter noch schlimmer verhält wie sein Gegensatz? Verliert der Mensch hier nicht gerade dadurch seine Selbstachtung, daß er sie durch Angleichung an das, was Gegenstand seiner Verachtung, wiederzugewinnen sucht? Muß sich die Rache nicht selbst in Erkenntnisverhältnisse transzendieren, um nicht selbst der Verachtung zu verfallen?



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Weder Humanität noch Bestialität können die Selbstachtung des Menschen retten, wo er die Aufhebung aller Achtung vor dem Menschsein ahnden muß. Wo Vergehen gegen die menschliche Gemeinschaft so schwer wiegen, daß sie jede ethisch-moralisch begründete Rechtsform aufheben, ist es schon aus Gründen der Selbstachtung geboten, den Tätern selbst jeden Rechtsanspruch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft abzuerkennen: Die Aberkennung der Menschenrechte ist dann das einzige Mittel, die Selbstachtung der Rechtsgemeinschaft zu wahren und jene, die sich selbst von ihren elementarsten Grundlagen ausgestoßen haben, auch rechtlich von ihnen auszuschließen. Wie sollte auch der, der die Vernichtung der ethisch-rechtlichen Existenzgrundlagen der menschlichen Gemeinschaft betreibt, noch ein unter ihren Bedingungen geschütztes und von ihr anerkanntes Rechtssubjekt sein? Welchen Rechtsanspruch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft soll ein Massenmörder (z.B. Breivik) auch noch stellen können, ohne daß diese ihr Ethos und darin sich selbst als Rechtsgemeinschaft verleugnet, verächtlich und lächerlich macht?



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Der «Unmensch»: Privation des Menschseins - Beraubung seiner unveräußerlichen Transzendenz als Erkenntniswesen und damit seiner ethischen Bildung als Gemeinschaftswesen. Ausnahmezustand der Sittlichkeit & allen Rechts: Veräußerung der Menschenrechte. Was bleibt, ist das freie Belieben der Gemeinschaft, mit den Tätern nach ihrem Gutdünken umzugehen, ohne darin sich selbst zu bestialisieren und verächtlich zu werden. Meistens ist die Todesstrafe das Mildeste in diesen Fällen.



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Todesstrafe – Aberkennung des Rechts, da zu sein und das heißt, in der mitmenschlichen Rechtsgemeinschaft zu existieren. Ihn dahin zurückschicken, wo er hergekommen. Religiöse Gemeinschaften hatten damit kein Problem, erst religionsprivative, die das Leben als bloß physisches Subsistieren zum «absoluten Wert» erklären, schrecken aus eigener Todesangst davor zurück.

Die Todesstrafe mag dem Menschen noch die Würde lassen, sie an sich selbst zu vollziehen (Freitod). Auch Göring hat man – wie ehemals Sokrates - diese «letzte Würde» gelassen.



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Die Aberkennung aller Menschenrechte verübt keine Rache, vergilt nicht Gleiches mit Gleichem, wird nicht mit dem identisch, wogegen sie sich kehrt (dialektische Kontamination). Sie schließt lediglich jeden Rechtsanspruch an sich aus und handelt nach dem ethischen Gesichtspunkt ihrer Selbstachtung, was alle «Unmenschlichkeit» ihrerseits ausschließt: Sie bezeugt durch öffentliche Verachtung das Ethos der Gemeinschaft, ihre unverletzliche Selbstachtung.



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Die Gefahr der modernen Gesellschaften ist heute nicht die Entgleisung ins Bestialische, sondern die ins Humanitäre. Sie gehorcht einer tiefgreifenden Tendenz der Wirklichkeitsflucht – der Verdrängung und Verleugnung menschlicher Wirklichkeit aus Angst und Unvermögen im Umgang mit der Negativität des Seins. Aber dies ist nicht nur ein Mißverständnis von «Humanität», sondern ihre Selbstpreisgabe. Eine Gemeinschaft, die ihre Selbstachtung verliert, hat auch den Grund ihrer geschichtlichen Existenz verwirkt.



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Über den Autor:


RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.



 

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