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Konstantin Fechter: KONTINENT DER ANGST. THOMAS FASBENDER ÜBER DAS ABENDLAND IM UNTERGANG

Horace Walpoles „Das Schloss von Otranto“ (1764) verbindet als erster Roman den Raum des Eigenen mit dem Unheimlichen. Der Vorläufer späterer Schauerromantik handelt von einem tyrannischen Patriarchen, der aus paranoider Sorge um seine genealogische Nachfolge ein wohlsituiertes Haus in einen Ort des Schreckens wandelt. Da nun bewährte Handlungsmuster keinen Sinn mehr ergeben, geraten seine Figuren immer weiter in eine Defensive, welche nur noch ohnmächtige Hinnahme oder brachiale Auflehnung als Reaktion ermöglicht. Durch das Auflösen aller emotionalen, biographischen und institutionellen Bindungen der Hausbewohner generiert sich eine Atmosphäre des Misstrauens und sozialer Verwahrlosung, die letztendlich in einem innerfamiliären Drama der Gewalt mündet.



Seit Beginn der Moderne dient der Auftritt des Unheimlichen als Kontrapunkt in der kulturellen Konzeption Europas. Man findet ihn in den Kompositionen eines Antonín Dvořák ebenso wie in den Malereien William Blakes. Doch was, wenn dieser bislang sorgsam gehegte Emotionskomplex aus dem Spielerischen der Kunstsphäre tritt und zu einem gesamtgesellschaftlichen Lebensgefühl wird? Dass das vormals Altvertraute durch einen schleichenden Entstellungsprozess nicht mehr als Bezugspunkt sinnstiftender Identifikation fungiert, sondern zunehmend als Bedrohung wahrgenommen wird, ist auch die Ausgangsthese von Thomas Fasbenders neuem Werk „Das unheimliche Jahrhundert“. Der Autor beruft sich auf die psychoanalytischen Kulturdeutungen Sigmund Freuds und macht ein Gefühl der verunsicherten Befremdung als grundlegende europäische Perspektive zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Dabei kartographiert er einen überforderten Kontinent, welcher sich selbst und die Welt nicht mehr versteht.


Fasbender, der sich als aufmerksamer Deuter geopolitischer Befindlichkeiten Russlands einen Namen gemacht hat, wendet sich diesmal dem Abendland zu und erkennt einen Kulturkreis im Abstieg. Ihm reicht für diese Gegenwartsdiagnose ein nüchterner Blick auf das Zahlenwerk ökonomischer, demographischer und klimabezogener Statistiken. Diese kennzeichnen die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für Europa als einen noch immer nicht abgeschlossenen Marsch in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit. So erwirtschafteten die 28 Länder der Prä-Brexit-EU in den 1980er Jahren über 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts, im Jahr 2020 hingegen keine 15 Prozent mehr. 1913 betrug der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung noch 28 Prozent, mittlerweile nicht einmal mehr 10 Prozent.

Es sei jene Konvergenz der Krisen welche das bis dato gültige Machbarkeitsparadigma des westlichen Rationalismus grundlegend erschüttere. Aus der Addition singulärer Phänomene wie Massenmigration, Klimawandel, wirtschaftlicher Stagnation und Innovationsschwäche ergebe sich die immer mehr Gesellschaftsschichten erfassende unheimliche Ahnung eines Kontrollverlustes. Fasbender: „Die Optimisten nennen das Herausforderung. Schicksal darf es nicht heißen, schließlich sind die Phänomene menschengemacht. Sind wir vielleicht nur theoretisch in der Lage die Veränderungen aufzuhalten?“

Das Endspiel der europäischen Kulturepoche ist für Fasbender schon in der Nachspielzeit angelangt. Dass mittlerweile sogar die Spielregeln nicht mehr selbst festgelegt werden können, bedeute einen schmerzhaften Erkenntnisprozess, insbesondere für die noch immer ihrer Hybris verfallenen Fortschrittskonstrukteure des Kontinents. Im Machbarkeitswahn der CO₂-Reduktion beschreite Europa längst einen ideologischen Sonderweg, dem nichtwestliche Nationen nicht mehr bereit zu folgen seien.


Vordergründig könnte man diesem Fasbenderschen Parforceritt durch die Jahrtausendwende als Manko einen Mangel an Originalität attestieren. In der Tat dürfte zumindest der Großteil des nichtökologischen Inhalts den meisten Lesern wie auch immer gearteter oppositioneller Publikationen vertraut sein. Doch das Herausragende dieser soziokulturellen Umbruchsanalyse findet sich in der Metaebene der Erzählweise. Lakonisch skizziert Fasbender eine Zeit des Verfalls, ohne dabei in den apokalyptischen Duktus vieler anderer zu verfallen. Schon der Poststrukturalist Jacques Derrida enttarnte die suggestive Sprache der Untergangspropheten als Sprechakte zur Unterwerfung ihrer Zuhörer. Fasbender zeigt ohne Gift und Galle die faktischen Verhältnisse einer Welt im Wandel auf, die Bewertung hingegen überlässt er seinen Lesern. Seine Quellennutzung zeigt keine obskure Abkehr von anerkannter Wissenschaftlichkeit, sondern arbeitet mit den Produkten des allgemeingültigen Diskurses. Dadurch ergibt sich ein Lagebild, das ungeschönt, aber trotzdem nicht durch Wahrheitsdehnungen eingetrübt ist. Fasbender wirkt wie ein David Attenborough der unabhängigen Prosaisten, der mit ruhiger Stimme zur Annahme einer verbindlichen Realität rät. Insbesondere in Bezug auf die Tatsächlichkeit des Klimawandels bezieht er dabei klar Stellung gegen die im oppositionellen Lager mittlerweile ungesund ausgeprägten Defensivmechanismen: „Das Nicht-wahrhaben-Wollen prägt den Ausgang der europäischen Epoche. Das Wort, das bezeichnet, markiert auch den Unterschied zur Ignoranz. Ignoranten sind schlicht ahnungslos. Wer aber leugnet, hat doch für einen Moment die Möglichkeit erfasst, dass das Geleugnete wahr sein könnte.“

Sollte die sich stetig erhitzende Atmosphäre in den nächsten Jahrzehnten noch weiter mit der Stimmung des Unheimlichen angereichert werden, wird sich möglicherweise ein ganzer Kontinent in Walpoles Schloss von Otranto wiederfinden. „Weder Himmel noch Hölle werden meine Pläne behindern“, schwört der Familiendespot Manfred dort grimmig. In der Orientierungslosigkeit der Zeitenwende werden sowohl von Seiten der Progressiven als auch der Traditionalisten die absonderlichsten Errettungsideen geboren werden. Man wünscht beiden die Lektüre von Fasbenders kritischer Gelassenheit.



Thomas Fasbender: Das unheimliche Jahrhundert. Vor der Zeitenwende. Lüdinghausen (Manuscriptum Verlagsbuchhandlung), November 2022. 186 Seiten. Hardcover, 13,6 x 1,9 x 21,5 cm. ISBN: 978-3948075491. € 26,00


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Über den Autor: KONSTANTIN FECHTER, geb. 1988 in Stralsund, arbeitete nach einem Psychologiestudium an der Universität Heidelberg in Gefängnissen, betreute Opfer von Gewaltverbrechen, ist derzeit in einem Sicherheitsunternehmen als Berater für strategische Operationen beschäftigt und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften.



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