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Kevin Naumann: DIE KULTURINSEL

Peter Sodann um circa 1980: Wir brauchen einen Raum für unser Theater. Den fand er im leerstehenden Russenkino mitten in der Altstadt von Halle an der Saale, baute dort das Neue Theater hinein, besorgte das Material, legte den Grundstein für die Kulturinsel – so nennt man bis heute das Carree vom Café nt im Eckhaus bis Strieses Biertunnel im hinteren Bereich. Ein Kulturzentrum etablierte sich. „Durch Bildung und Kultur“, das war für Sodann die einzige Chance, wie sich die Welt retten kann. Auf der Kulturinsel sollte sich das Volk am deutschen Repertoire erfreuen und anschließend ein, zwei Bier bei Strieses bestellen.



Prometheus, Angerer der Ältere, 2014


Wie heute auch litten die Bühnen bereits zu DDR-Zeiten an mangelhafter Ausstattung, mit dem Unterschied, dass heute die Reihen tatsächlich leer bleiben, während man damals Brigaden herankarrte, um den Saal zu füllen. Und heute wie damals war die Bühne ideologisch verflochten mit den bestehenden Machtverhältnissen. Auch im „Unrechtsstaat“ DDR vermochten die Intendanten das Kunststück zu vollbringen, ein anspruchsvolles Programm entgegen der Doktrin und des vorherrschenden Mangels auf die Beine zu stellen, im „Rechtsstaat“ nach ´89 vermögen es die Verantwortlichen, in ihrer absoluten Freiheit nur mangelhafte Ergebnisse zu erzielen. Dass die DDR-Nation kulturell gebildet war, womöglich gebildeter als die liberale Dienstleistungsgesellschaft der BRD, lag nicht zuletzt am preußisch-autoritären System und an einer gelebten Utopie als sinnstiftendes Element – die DDR scheiterte, weil man die Zeit nicht ewig anhalten kann bzw. setzten die Mehrheiten der ersten freien Wahlen den schnellen Beitritt zum Westsystem durch und damit dem Traum vieler ein Ende. Heiner Müller zog sich zurück, Willi Sitte ebenso, andere fassten Fuß, Sodann blieb Intendant in Halle, wurde Fernsehgröße, wieder andere waren schon früher übergelaufen in die Bundesrepublik.

 

Heute bildet die Kulturinsel vor allem eine Art safe space innerhalb einer akademisch-urbanen Klasse. Das Volk der DDR, für das die Insel gegründet wurde, ist heute verschwunden oder lebt zerstreut und zerrieben weniger in Gesellschaften als in Milieus. Der Arbeiter besucht das Theater nicht mehr, er fällt nach dem Schichtdienst vom Staat geschröpft und von der Gesellschaft erschöpft auf seine Couch und schaltet das TV an. Dort schaltet er ab, entflieht dem Welt-Fabrikat BRD in die Traumwelten der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Warum sollte er auch die Bühnen besuchen, wo er selbst als Typus und seine Wahrnehmung der Welt als problematisch gelten, wo gegen seine politisch-moralische Sicht der Dinge unermüdlich „Zeichen gesetzt“ werden?

 

Auf der Bühne verhandelt der Bildungsbürger die wichtigsten moralischen Fragen seiner Zeit, zumindest jene, die von einer medialen Öffentlichkeit als solche in den Vordergrund gerückt und dort pausenlos wiederholt werden. Die Grenzüberschreitung der Bühne findet dabei im Schonraum eines links-liberalen Konsens statt – die Mauern, die der Künstler einzureißen vorgibt, sind die eines sozialverkitschten AnnenMayKantereit-Weltschmerzes. Es ist dies nun eine Generation ohne die Reisers und Krugs – von Knef und Dietrich ganz zu schweigen. Es ist schlicht niemand mehr da außer den Gewöhnlichen und Glatten. Was für ein Mangel an Energie! Die große gefühlvolle Stimme, die die Deutschen mit sich selbst versöhnt, fehlt weiterhin. Einer tatsächlichen deutschen Moderne steht der verordnete Totenkult des Antifaschismus, der seine Menschen zu Gefangenen der Toten macht, entgegen. Will die politisch aufkommende Rechte in Ostdeutschland tatsächlich etwas tun für die verwundete deutsche Seele, sollte sie als erstes der institutionellen Vergangenheitsbewirtschaftung, die sich auch noch überheblich „Zivilgesellschaft“ nennt, den Geldhahn zudrehen. Niemand wird sie vermissen.

 

Noch am Abend der Landtagswahlen am ersten September lud man in das Neue Theater in Halle ein, die Insel der Demokratieschaffenden zu betreten, um den politischen Augenblick in einer neuen Veranstaltungsreihe experimentell zu verarbeiten. Im Schaufenster, einer Nebenstätte, ging es um das Phänomen AfD sowie ein mögliches Verbot dieser Partei. Ergebnisoffen sollte das ganze sein. Schriftsteller Ingo Niermann wollte im Rahmen eines Mitmachtheaters erkunden, was passieren würde, würde ein solches Verfahren Realität werden. Im MDR berichtete man überraschend kritisch, der recht peinlich berührte Kulturredakteur Wolfgang Schilling musste eine gewisse Anmaßung auf Seiten der Künstler konstatieren, immerhin wählen diese Partei über 30 %. Jeder Dritte also, der ebenso für die Aufrechterhaltung eines Bühnenbetriebs wie in Halle mit immerhin sechs Sparten seinen Teil beiträgt. Kann man auf dessen Steuern und Abgaben verzichten, also kann auch darüber ergebnisoffen diskutiert werden?

 

Woher soll der verschonte Akademiker auch andere Realitäten wie die einer abstiegsbedrohten und geschröpften Mittelschicht kennen? Den Arbeiter hält man sich als zerfleddertes Marx-Maskottchen, ohne je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben und der allmählich vom Migranten als zu emanzipierendes Subjekt abgelöst wird, denn nun gilt es nicht mehr nur, die deutsche Gesellschaft zu befreien, sondern die Erde ist der neue soziale Horizont, das sittliche Minimum. Fortschritt! Die Konflikte, vor denen er die Augen noch aufgrund seiner materiellen Besserstellung verschließen kann, finden außerhalb seiner Wirklichkeit statt. Damit geht auch das mangelnde Verständnis für prekäre Gefühlslagen wie Verzweiflung oder Ohnmacht einher. Der bürgerliche Mensch verachtet den Zynismus seiner schlechter gestellten Landsleute und merkt dabei nicht, wie er seit Jahrzehnten auf der Stelle tritt, wie er nur ungenügend vor sich hin sekundiert, dies als Kultur bezeichnet, ja sie im Grunde entwurzelt. Sein Glück ist, von einer Symbolherrschaft zu zehren, im gemachten Nest zu sitzen. Er wird seinen Platz früher oder später räumen, um von rechts oder von fundamental religiöser Seite ersetzt zu werden. Bis dahin werden die Ausbeuter ein recht gemütliches Leben geführt haben.

 

Die Bühnen an sich, scrollt man sich durch ihre Netzseiten: Bunt, hip, urban, klassische Stoffe modern bis zeitgeistig inszeniert, überhaupt legt man besonderen Wert auf Internationalität und aktuelle Themen. Tiefe vermisst man, sie wird durch Abstraktion oder Neuheit ersetzt. Echte Kritik, Distanz ertragen? Wo ist die Aufrichtung gegen den Zeitgeist? Es scheint nicht möglich zu sein in diesem Kulturbetrieb, die Grenzen zu überschreiten, selbst gezogene Gräben schützen den demokratischen Künstler. Die Kulturschaffenden der BRD sind viel zu sehr mit der programmatischen Ausformulierung ihrer überwältigenden Zustimmung zum Gefühlsstaat sowie ihrer Selbstdisziplinierung beschäftigt. Bloß nicht in den Ruch geraten, dort, wo man Schwierigkeiten bekäme, hinter der Linie, wo die andere Realität beginnt, die man nur aus Spiegel-TV-Dokumentationen kennt. Man bleibt doch lieber unter sich.

 

Das gut situierte Bühnenpublikum verlangt zwar nach Ausdruck, gerne stilsicher, aber doch bitte keinen Schock, keine unerwarteten Wendungen und Bögen, nichts, was das Spektakel am heimischen 70-Zoll-Bildschirm herausfordern könnte, erst recht nichts, das nach Tradition, Autorität und Herkunft riecht. Die Figuren des Deutschlands, das vorher war, also jene, die man als „die Deutschen“ bezeichnet, als begänne deutsche Geschichte erst im Jahr 1945, werden dabei ausschließlich entweder als Täter oder als Idioten dargestellt. Die nachträgliche Hitlerbesiegung hat auch hier einen festen Platz. Was gilt schon noch das Edle und Starke und Heilige am Theater. Die Tradition einer Art deutschen Typus, den sich auch der Liberale eingestehen muss, erträgt man nicht, junge Künstler erblinden im unnachgiebigen Pöbelgeist. Ihnen wurden bereits die Hassgesänge ins Ohr geflüstert, die institutionalisierte Antifa-Mentalität der Zivilgesellschaft. Sie spüren durchaus, welchem Erbe sie angehören und sie sollen dabei Ekel empfinden, sollen stets Angst haben vor demjenigen, der Wahrheit einfach und direkt ausspricht.

 

Man müsste ihnen Gelegenheit geben, sich zu lösen und der Überlieferung hinzugeben. Gerade in der Kunst, auf der Bühne, bestünde doch Chance auf Befreiung und Vermittlung, auf Befriedigung der Sehnsucht nach angemessener Repräsentanz der Deutschen. Was nicht erwartet werden kann: Die Versöhnung mit dem Eigenen, dem zauberhaft Deutschen. Erst durch die (Wieder-)Aufrichtung käme man (wieder) zu dem Recht, sich parodistisch zu äußern. Man hat im Grunde von vorne zu beginnen. Dem unfreien Künstler, der verklemmte und gehemmte, kann jedoch nicht die Aufgabe zufallen, den gordischen Knoten aufzudröseln, dafür ist er zu abhängig vom Ganzen und zu nervös und zu wackelig. Bleiben also vorerst subversive Orte, Mund-zu-Mund-Propaganda, Hinterhöfe, Privaträume, Rückzug.

 

Die Bühnen stehen überall unter Finanzdruck, was man durchaus recht süffisant anschauen darf. Im Raum verdichteter Städte will man doch gerade die Räume nutzen und erhalten, die aus der verhassten und verdrängten Zeit stammen, die als schön gelten und Zeugnis über die Macht patriarchaler Strukturen ablegen. Die einst als Volksbühnen errichteten Stätten scheinen in den aktuellen Formen keine würdige Kraft zu erblicken und stoßen die schwache Form ab. Der geistigen Situation angemessener wäre vielmehr die Unterbringung der Kulturschaffenden in modernistischen Bauten, in Beton-Stahl-Glas-Kuben mit glatten Fassaden – Gebäude für jetzt, Orte wie Fremdkörper im mittelalterlichen Straßenbild. Die Jetzigen fläzen sich beharrlich zwischen alten Mauern, bieten ihre Exklusivwelt ihresgleichen feil. So war auch die Veranstaltung im Schaufenster des Neuen Theaters eine weitere Inhouse-Veranstaltung, an der von sage und schreibe 27 Teilnehmern 9 normale Gäste teilnahmen. Daran schließt sich doch unweigerlich die Frage, wofür es noch Bühnen braucht, die halbleer für eine Handvoll Verirrte vorgehalten werden.

 

Mit der Durchwucherung der demokratischen Staatsidee in die Kultur verliert die Kunst zunehmend die Möglichkeit, sich zu entfalten, wird allzu gewöhnlich und letztlich bedeutungslos – der Preis, den die Kunst zu zahlen hat. Die Demokratie als doppeltes Problem für die Kunst: Das Schöpferische wird durch eine Staatsform bedrängt, die den faulen Kompromiss zu ihrem Kern hat. Hinzu kommt das Problem der Oligarchisierung der Demokratie, wonach dann als Kultur und Kunst zu gelten hat, was im Sinne eines Zeitgeistes als demokratisch anerkannt und gefördert wird. Kunst und Kultur hat jedoch ohne Vorbedingungen zu gelten: Selbst der Titan Hitler traute sich vor Hochachtung nicht, dem Bildhauer Breker etwas abzuverlangen. Speer war es, der ihn zum Staatskünstler degradierte – in Zeiten schwindender Kräfte arbeitete Breker Tag und Nacht. Über dessen Werk wird man noch in hundert Jahren streiten, an das demokratische Oeuvre hingegen wird sich schon früher niemand erinnern. Große Kunst ist wohl nur in exakt dem Moment möglich, wenn todesnahe Kräfte der Nacht über den Abend hereinbrechen, nur dann schön, wenn sie durch Geprüfte und Leidende geschöpft wird; man schließe doch alle Kunstakademien, bis wieder etwas zu sagen ist, bis wieder Schmerz erfahren wird.

 

Um dieser Gegenwart zu entfliehen, hat eine Epoche derjenigen einzusetzen, denen Dialektik und politische Lager zuwider sind, die aus Traum und Rausch schöpfen, keinerlei politischen Gestaltungsanspruch erheben, durch und durch individualistisch, schweigend und ungleich sind. Die jederzeit die zufälligen Energien der Schönheit und des Todes einer Gesellschaft vorziehen, die ängstlich ausweicht, in die Antinatur, in den Unernst und ins Hässliche. Die Rede ist von einer Bewegung, die begriffen hat, dass es nur noch darum gehen kann, Zuflucht zu finden, in der Huld großer Ahnen und der Heiterkeit angesichts des sicheren Todes – so schreiben oder so malen, als sei man längst Ahne, wie uns dies Emil Cioran wies.


Einige wenige haben bereits alles verstanden: Deutschland ist keine Frage ethnischer Zugehörigkeit, auch kein zu lösendes Güterproblem, Deutschland ist vielmehr die geistige Größe aus Genius und Leiden. Deutschsein bedeutet, ein Vermögen beanspruchen zu wollen hinter der verzagt-grotesken Fratze einer dominanten Oberfläche, an der das Land von rechts und links verdirbt. Es ist schlicht eine Gegenwelt zur fabrizierten Welt aufzurichten und die Macht erster Werke spannt bereits heute jenes Dach, unter dem junge Köpfe sich sammeln und ihr Seelenlicht auf die Welt werfen. Nun ist dieser Hymnus die einzig gültige Gegenposition, mit der man sich Deutschland noch nähern kann. Alles andere gebraucht Deutschland als Schlagwort für kurzfristige Zwecke.



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Über den Autor: Kevin Naumann lebt in Ostdeutschland. Er wirft seinen Blick auf die deutsche Seele im spätmodernen Zeitalter und ist Herausgeber der ASTER, einem Magazin, in dem Beiträge zu Kultur und Gesellschaft erscheinen.


Titel-/Beitragsbild: Prometheus, Angerer der Ältere, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons



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