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Kevin Naumann: BRIEF AN BÖCKELMANN. ZUM GESPRÄCH MIT MARIAM KÜHSEL-HUSSAINI

Lieber Herr Böckelmann,

Ihnen gilt mein Dank für die Einführung einer Autorin meiner Generation, die ich bisher nicht auf dem Schirm hatte. Ich las das überhaupt nicht seltsam berührende Gespräch rund um den Roman „57“ auf Ihrem Blog und bestellte sofort beim Globalisten, der per Nachtsprung das Paket in meinen Briefkasten beförderte. Nach wenigen Seiten war ich mir sicher, dass man es hier mit einer Seltenheit zu tun haben muss. Noch bei keinem mir bekannten Autor konnte ich diesen Zugriff auf das Kapitel 1933 ff. derart nachvollziehen. Sich den in der öffentlichen Wahrheitsproduktion eher als Verbrecher, aber mindestens als Helfer eines bloß mörderischen Zeitwillens beteiligten Akteuren zu nähern, ohne sich des Blickes durch die Brille des geläuterten homo bundesrepublikanensis zu bedienen und dies in einer Sprache zu tun, die in dieser Generation kaum zu finden ist, wärmt den suchenden Leser. Und es steht im Zusammenhang mit der Herkunft der Autorin, der es gelingt, ohne BRD-Hemmungen Handlung und Figuren als von der Zeit vollständig erfasst darzustellen. Ein Lukas Rietzschel beispielsweise, der gern als die Stimme meiner Generation betitelt wird, hätte wohl größte innere Hindernisse, sich am NS in Romanform zu versuchen. Heraus käme nur Rechtfertigung, da bin ich mir sicher. Die Angespanntheit und Aufgewühltheit meiner „elternlosen“ Generation konnte bis heute nicht zum Ausdruck gebracht werden, alle bisherigen literarischen Versuche bedienten lediglich die öffentlichen Deutungsvorgaben. Simon Strauß kann da schon mehr, ist immerhin kein Antideutscher.

Zum Roman. Der Gewinn des Romans ist neben dem Wagemut und dem Können der Autorin die Einsicht, dass es zum Glück zu Angriffen führt, erzählt jemand anders und schöner als es die meisten der derzeit Schreibenden tun – sofern dabei ein Geschichtsteil betreten wird, der über keine freie Sprache verfügt. Freilich kann ich über alles reden und schreiben, man muss aber die Kosten tragen. Siehe Uwe Tellkamp. Wie Charlotte Gneuß für ihren Roman „Gittersee“ angegriffen wurde von einem Einverstandenen, der aus Gründen meint, über eine Hoheit zu verfügen, wie man über die DDR zu schreiben und sich literarisch zu nähern habe. Zwei weibliche Autoren, die Hoffnung geben, dass diese literarische Generation nicht vollständig verloren ist. Der Großteil vor allem der jüngeren Leute schreibt keine Epen, sondern bedient Zeitgeistiges, schreibt gut, hat das gelernt, besitzt Masterabschlüsse, schreibt oft für ein Publikum, das nicht selten mit jenem

Milieu kulturell deckungsgleich erscheint, das in diesem Land in den

regenbogenbunten Ideologiekombinaten den Ton angibt.

Die Magie entsteht mir bei dem Versuch, Alltag und Brüche abzubilden und die

Figuren in einem historisch-dokumentarischen Referenzzusammenhang zum Atmen

und Leiden zu bringen. Schichtungen, Überblendungen und Fiktionen zeigen das Können und die Liebe der Autoren für einen Stoff und das edle Ansinnen, ein Eigenes zu schaffen. Das gelang Mariam Kühsel-Hussaini. Vielen Dank und Grüße nach Dresden! Kevin Naumann, Halle (Saale)



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