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Jörn Sack: SIEBEN GEDANKENBLÖCKE ZUR PALÄSTINA-FRAGE


  1. Der Zionismus, von seiner Entstehung im Zeitalter des Nationalismus her verständlich, hat sich im Ergebnis nicht als heilsame Idee und Bewegung erwiesen. Nicht einmal für das Judentum selbst. Juden, die in Israel seit der Staatsgründung lebten und leben, sind wohl seit 1945 die gefährdetsten in der ganzen Welt. Bei rationaler Einschätzung durfte unter den gegebenen Umständen von Beginn an nichts anderes erwartet werden. Aber wenn Emotionen im Spiel sind, zählt die Vernunft wenig.


  2. Die Juden haben sich als wohl letztes Volk in der Weltgeschichte ein Land erobert. Ohne Rechtfertigung im Völkerrecht und, anders als frühere Eroberer fremden Landes, ohne für die Verbreitung eines als seligmachend angesehenen Glaubens oder einer fortschrittlichen Zivilisation in unzivilisierten Ländern zu missionieren, sondern in einem einzigartigen Akt der Rückbesinnung auf ein seit etwa 1800 Jahren verlorenes Land und mit dem Ziel, der weltweiten Diaspora und den darin erlittenen Verfolgungen zu entkommen. Doch nur etwa 45% aller Juden weltweit leben heute in ihrer „Heimstatt“. Die Eroberung vollzog sich zunächst als zivile Usurpation (von der britischen Mandatsmacht geduldete massive Einwanderung mit Landerwerb durch Kapitalkraft).


  3. Der Staat Israel, das Produkt des Zionismus, ist wie manch andere staats- und völkerrechtliche Einrichtung oder Regel, jedoch in ganz besonderem Maße, aus der normativen Kraft des Faktischen[1] entstanden. Die Staatsgründung erfolgte vorzeitig, also formal unerlaubt, nämlich einen Tag vor Ablauf des britischen UN-Mandats für Palästina.[2] Bei der Staatsgründung waren weder das Staatsgebiet noch das Staatsvolk klar umrissen. Die Staatsgewalt war brüchig. Im Sinne des Völkerrechts gab es also noch gar keinen Staat. Er musste erst geschaffen werden. Ob in dem nicht durchgeführten Plan der UN von 1947, der die Aufteilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat vorsah, eine Vorabanerkennung eines auszurufenden Staates Israel durch die internationale Staatengemeinschaft zu sehen ist, kann dahinstehen, weil Israel bereits am 11. Mai 1949 als Mitglied in die UN aufgenommen wurde. Dies ist die höchste Form internationaler Anerkennung eines Staates. Das Seltsame an dieser Aufnahme ist, dass die Grenzen des Staates reine Waffenstillstandslinien waren (ähnlich wie im Falle der beiden Koreas) und die Bevölkerung in diesem Gebiet durch Vertreibung weiter Teile der arabischen Bewohner zuvor gewaltsam verändert worden war. Dennoch wurden diese Linien in der nachfolgenden Praxis der UN und insbesondere des Internationalen Gerichtshof als definitiv gültige Staatsgrenze Israels angesehen und die Vertreibung nicht offen als Menschenrechtsverletzung gebrandmarkt.


  4. Betrachtet man die Geschichte Palästinas seit der Auflösung des Osmanischen Reiches, zu dem es als Provinz gehörte, kommt man nicht umhin, festzustellen, dass hier ein Volk auf überwiegend unredliche Weise um sein Selbstbestimmungsrecht betrogen worden ist. Dass es den Kurden ähnlich erging, ist kein Trost. Das Selbstbestimmungsrecht war vom Völkerbund im Anschluss an das Vierzehn-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson von 1918 für eine Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg anerkannt worden.


    Um das britische Mandat zu rechtfertigen, wurde der Bevölkerung vom Völkerbund jedoch zunächst die Reife abgesprochen, über ihr eigenes Schicksal befinden zu können. (Ein Schelm, der Böses dabei denkt). Es war damit Aufgabe der britischen Verwaltung, diese Reife herbei-zuführen. Ernsthaftes in diesem Sinne geschah aber nie; vielmehr missbrauchte die britische Regierung ihr Mandat dahin, entgegen den Interessen der einheimischen Bevölkerung gemäß ihrem Versprechen in der Balfour Deklaration von 1917 eine massive jüdische Einwanderung zuzulassen, um dem jüdischen Volk „eine Heimstatt“ zu verschaffen.[3] Wie zu erwarten, führte das zu zunehmenden Spannungen im Land. Die Briten versuchten mit Hin- und Herschwanken zwischen den Gruppen halbwegs Ruhe und Ordnung zu bewahren. Sie verloren mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber das Interesse an der Fortführung des Mandats, denn die Geister, die sie gerufen hatten, wurden sie nicht mehr los. Sie baten die UN, das Mandat zu beenden und zogen sich zurück.


    Der Teilungsplan der UN von 1947 wurde von den angrenzenden arabischen Ländern Ägypten, Libanon, Transjordanien und Syrien sowie dem Irak nicht akzeptiert. Es kam zum für Israel erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg, der durch Waffenstillstände mit Ägypten und Jordanien zwischen Februar und April 1949 beendet wurde. Diese beiden Länder gliederten sich die von ihnen besetzten Landesteile Palästinas an (Westjordanland, Gazastreifen).[4] Für eine wenigstens teilweise Rückführung der Flüchtlinge ins Westjordanland sorgten sie nicht. Die Palästinenser wurden nunmehr von ihren Brüdern verraten, indem ihnen selbst ein Rumpfstaat verweigert wurde. Offenbar meinten Ägypten und Jordanien, sie hätten sich durch ihren Kriegseinsatz diese Gebietserweiterungen verdient. Die Perle darin war die Altstadt von Jerusalem.


  5. Seit dem UN-Beitritt Israels im Mai 1949 und der Annexion des Westjordanlandes durch Transjordanien hätte eine kluge palästinensische Politik darin bestehen müssen, von Jordanien und Ägypten die besetzten palästinensischen Gebiete zur Staatsgründung zu erhalten und sich die Hoheit über diese Gebiete von den UN als neues Mitglied garantieren zu lassen. Alle nachfolgenden Konflikte hätten mit einer solchen Lösung, wenngleich sie niemanden recht zufriedenstellte, wahrscheinlich vermieden werden können. Doch solch hohe Staatsweisheit von einem politisch unerfahrenen und wehrlosen Volk zu erwarten und das als richtig Erkannte durch staatsmännische Kunst umzusetzen, war unrealistisch. Die Palästinenser reagierten, nachdem Jordanien und Ägypten im 7-Tage-Krieg von 1968 die letzten palästinensischen Territorien verspielt hatten, auf das ihnen von allen Seiten widerfahrene Unrecht rein emotional, was heißt zunehmend mit grausigen Mordtaten und weltweitem Terror. Sie vergrößerten damit ihr Unglück und wurden obendrein selber schuldig.


  6. Durch seine militärische Überlegenheit (deren Gründe wir hier nicht erörtern wollen) und die Unvernunft der arabischen Staaten, die trotz aller Niederlagen weiter auf eine militärische Lösung setzten, gelang es Israel, das von ihm beherrschte Gebiet erheblich auszuweiten und Träume von einem Nationalstaat Groß-Israel durch massive, wenngleich völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in und um Jerusalem, dem West-jordanland und auf den eroberten und annektierten Golan-Höhen, die nie Teil von Palästina waren, konkret zu verfolgen. Am Ende suchten mehr und mehr arabische Staaten nach Frieden, weil sie endlich die Unmöglichkeit, Israel zu besiegen, erkannten. Was Wunder, dass die Verzweiflung der aufgegebenen Palästinenser ins Rasende stieg und die Radikalen sich an den Iran, der aus religiösen Gründen weiterhin auf die Vernichtung Israels hinarbeitet, als letzte und einzige Hoffnung klammerten und inzwischen von ihm völlig abhängig geworden sind. Fraglich bleibt dabei, ob der Iran nicht eigene machtpolitische Interessen verfolgt und die Palästinenser ebenso wie die libanesischen Schiiten und die Huthi im Jemen als bloße Werkzeuge benutzt. Klar ist, dass Israel trotz aller seiner Erfolge – und würden sie weiter gesteigert – unter den gegebenen Umständen keinen Frieden finden wird, denn eine Änderung der iranischen Politik ist nicht absehbar.  


  7. Was können die USA und Europa tun, um den Unruheherd im Nahen Osten dauerhaft zu befrieden und eine gerechte Friedensordnung zu schaffen? Es reicht dafür nicht, ständig formelhaft eine Zwei-Staaten-Lösung zu beschwören. Zwar ist sie unabdingbar für dauerhaften Frieden im Vorderen Orient, doch muss sie, um Wirklichkeit zu werden, materiell unterfüttert werden. Dazu gehört als Erstes, dass Israel sie vorbehaltlos unterstützt. Vor allem dadurch, dass es seine festgestellt völkerrechtswidrige Siedlungspolitik nicht nur beendet, sondern die Siedlungen aufgibt, soweit die Siedler nicht bereit sind, Staatsangehörige des neuen Staates Palästina zu werden, auf dessen Staatsgebiet sie siedeln. Das zu erreichen, setzt entsprechenden westlichen Druck auf Israel voraus. Die Mittel dafür bestehen.


    Der neue Staat Palästina würde Israel in seinen bestehenden Grenzen anerkennen und zusagen, alle auf die Zerstörung oder Schädigung Israels gerichteten Bestrebungen auf seinem Staatsgebiet zu unterbinden.  Seiten des Westens müsste es konkrete Zusagen geben, den Wiederaufbau des Gaza-Streifens zu finanzieren und sich beim Aufbau einer effektiven Verwaltung im gesamten Staat Palästina durch Hilfen aller Art zu beteiligen. Waren aus Palästina dürften in die EU und die USA (nach Möglichkeit in alle OECD-Staaten) zollfrei eingeführt werden. Zwischen Israel und Palästina sollte eine Zollunion hergestellt, in jedem Falle aber der freie Transit zwischen dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen garantiert werden. Nach Möglichkeit sollten sich die finanz-starken arabischen Golfstaaten sowie alle Staaten der OECD am Wiederaufbauprogramm beteiligen.


    Die nach Ausgang des gegenwärtigen Krieges zu erwartende Schwächung von Hamas und Hisbollah könnte, wenn das Angebot an die Palästinenser hinreichend konkret wäre, der Regierung in den autonomen Gebieten gestatten, einer solchen Lösung ohne größere interne Konflikte zuzustimmen. Die umfangreiche materielle Hilfe an die Palästinenser wäre eine Entschädigung dafür, dass dieses Volk schwer unter den Auswirkungen von Unrecht leiden musste, das den Juden in Europa zugefügt wurde. Die schwierigste Aufgabe dürfte die Aushandlung eines Sonderstatus für die Altstadt von Jerusalem sein. Sie wird viel Detailarbeit erfordern. Aber welch Leuchtfeuer für den Frieden in der Welt wäre es, wenn das ungeteilte Jerusalem fortan die Hauptstadt von zwei vorher verfeindeten Völkern würde! Welch stolzes Projekt für beide Völker.


    Ein erster Schritt auf dem Weg dahin wäre eine Rede, die jeweils ein Palästinenser und ein Jude, gleichzeitig, vor ihren Völkern halten würden, beginnend mit den Worten: I have a dream ….     



    [1] Dazu grundlegend, wenngleich in einem durchaus anderen Sinne als hier gemeint: Georg Jellinek, Normalität und Normativität. Die normative Kraft des Faktischen in  Staatslehre (1900). 

    [2] Am 14. Mai 1948.

    [3] Von Eigenstaatlichkeit war allerdings keine Rede.

    [4] Syrien war nur ganz am Rande betroffen. Die ebenfalls kriegsführenden Staaten Libanon und Irak gar nicht. 


    Das Titelbild zeigt den Innenhof der Al-Quds-Universität Jerusalem. Aufnahme von Rahma Deek, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons


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Über den Autor: Jörn Sack, geb. 1944 in Saalfeld/Saale. Lebt in Berlin. Jurist. Privatgelehrter. Schriftsteller. Zahlreiche Titel darunter Lyrikbände und der Roman „Schalksknecht“ bei Edition Bodoni. Jörn Sack stiftet den seit 2013 alle zwei Jahre vergebenen „Preis für Politische Lyrik“. Näheres zu Werk und Wirkung des Autors auf der Webseite www.joernsack.eu 




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