Während das Gewaltmonopol des Staats als friedensstiftende Grundlage im Innern hierzulande u.a. durch illegal bewaffnete, kaum kontrollierte Clans unterminiert wird, verliert es nach außen angesichts des Zustands der Streitkräfte an Glaubwürdigkeit und allenthalben an Legitimation. Dies ist gefährlich und keinesfalls wünschenswert. Daher begrüßen wir eine Streitschrift zweier in zivil Couragierter, die sich in moderater Form und ernsthafter Sorge als Klärung der aktuellen Lage der Bundeswehr versteht.
Richard Drexl, ein technisch geprägter Oberst der Luftwaffe mit zahlreichen zentralen Verwendungen und Kommandos, seit 2013 im Ruhestand, und Josef Kraus, der TUMULT-Lesern wohlbekannte streitbare Pädagoge und Psychologe, bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands, ziehen aus öffentlich zugänglichen Quellen und eigener Anschauung Bilanz – eine Lagefeststellung, die in eine Beurteilung dieser Lage mündet. Sich daraus ergebende Handlungsnotwendigkeiten und -optionen bleiben zu diskutieren.
Der Konformitätsdruck in der Bundeswehr, jenseits aller Loyalitätspflicht, war wohl noch nie so groß wie heute, in dieser Ära, in der Personen mit weiblicher Geschlechtsmarkierung die Posten des Bundeskanzlers und des Verteidigungsministers hierzulande innehaben. Die korruptionsverdächtige Berateraffäre der Ursula von der Leyen bildet nur die Spitze eines seit langem treibenden Eisbergs, den man als institutionalisiertes Mißtrauen der politischen Führung gegenüber ihren Exekutivorganen bezeichnen muß: Ganz offensichtlich mißtrauten die vormalige Frau Verteidigungsminister und ihr Gefolge Soldaten und Ministerium, sowohl fachlich – sonst hätten sie nicht fast gewohnheitsmäßig teure externe Beratungsunternehmen beauftragt –, als auch politisch und menschlich.
In der langen Geschichte vermeintlich gebotener politischer Disziplinierung deutscher Soldaten entfachten sie erneut jenen Fahndungs- und Exekutionseifer, der periodisch in der bzw. gegen die Bundeswehr angeheizt wird. Anlaß bildeten meist ‚Skandale‘, de facto Skandalisierungen, denkt man an die vorgebliche sexuelle Mißhandlung Untergebener bei der Sanitätsausbildung in Pfullendorf, worauf der dortige Kommandeur, ein verdienter Oberst, und ein angesehener General als Chef des Ausbildungskommandos in Leipzig holterdipolter ihrer Posten enthoben wurden und dies aus der Presse erfuhren. Auch die eher an Karl Mays Geschichten als an glaubenswürdige Szenarien erinnernde Affäre um den geheimnisvollen Franco A. von der Brigade Franco-Allemande, einen mutmaßlichen – oder eher vorgeblichen? – rechtsterroristischen Gefährder, die zu einem ‚Haltungsproblem‘ der Bundeswehr ausgerufen wurde und zu einem erneuten Bildersturm in den bundesdeutschen Kasernen führte, blieb bislang im Zwielicht, um nur zwei Fälle aus dem Jahr 2017 zu nennen.
In einem solchen Klima des permanenten Verdachts und Mißtrauens kann es in diesem Lande nicht verwundern, daß es kaum offen geäußerte fachliche Kritik, profilierte Forderungen zu nachhaltigen Kurskorrekturen aus militärischer Notwendigkeit seitens der Generalität zu geben scheint. Der hektische Aktionismus unserer Politiker, der Entschlossenheit simulieren soll und stets mit kurzsichtiger Fehlbeurteilung der Lage gekoppelt ist, resultiert so sicher wie konsequent auch immer in einem kompletten Versagen in der Menschenführung – eben jener in Sonntagsreden gerne angemahnten ‚Inneren Führung‘. Es wird nach Gutsherrenart von oben herab durchregiert, und zwar bis auf die untersten Ebenen hinunter, ohne Maß und ohne Würde. Wem will man es hier übelnehmen, daß man sich als Soldat – in Friedenszeiten – nicht um seine Karriere bringen möchte durch allzu brennende Sorge, offen geäußerte und noch so begründete Kritik? Hier ist die Armee zweifelsohne auch ein Spiegel der Gesellschaft, mit oder ohne ‚Innere Führung‘.
Und von daher sind auch von der Leyen und Kramp-Karrenbauer als Obfrauen von Ministerium und Streitkräften nicht allein verantwortlich zu machen für einen Zustand dieser Institutionen, der sich knapp zum Fazit bündeln läßt: „Die Bundeswehr pfeift beinahe aus dem letzten Loch.“ Mit dieser Feststellung beginnen Drexl und Kraus ihre Darstellung, um sie sodann schrittweise zu belegen. Ausführungen zu den sattsam bekannten historischen und politischen Bedingungen und ein Rückblick auf die rund 70 Jahre wechselvolle Geschichte der Bundeswehr rahmen und durchziehen ihre Streitschrift, um in die Forderung nach einem „aufgeklärten Patriotismus“ als Grundlage einer erfolgversprechenden Reform zu münden – gediegen und staatstragend, doch bleibt auch dies auf der Ebene der Sonntagsrede angesichts einer zusehends fragmentierten, in sich zerrissenen Gesellschaft. Der Weg zu einem solchen eher anämisch klingenden Gemeinschaftsbewußtsein ist kein Ho-Chi-Minh-Pfad mehr, sondern führt wohl zum grundlegenden und somit eigentlichen Problem dieser Republik: wie wäre eine Kehre in der Bildungs- und Medienpolitik zu erreichen, um der Lagevergessenheit und des Selbsthasses der Deutschen Herr zu werden, jener Deutschen, die hier schon länger leben? Im Zustand der Bundeswehr drückt sich dieser Zustand unseres Gemeinwesens nur besonders prägnant und fatal aus.
Gutem militärischen Brauch folgend, versuchen Drexl und Kraus in ihrer Analyse zwischen der politischen, strategischen, operativen und taktischen Ebene explizit und en passant zu unterscheiden; so wenden sie sich nach den politischen Rahmenbedingungen der strategischen Lage zu, ganz klassisch mit Blick auf einschlägige Faktoren: die Großmächte Rußland und China mit ihrem Einfluß auf die deutsche Sicherheit, den „nordafrikanisch-asiatischen Krisenbogen“, in dem sich die Bundeswehr seit einiger Zeit tummelt, auf Deutschland als Ausgangsort ihrer Lagebeurteilung und zugleich als neuralgischen Punkt im Gefüge. Der ‚hybride Krieg‘, Terrorismus und Cyberwar dürfen ebensowenig fehlen wie Migrationsbewegungen – eher beiläufig und verlegen kommen die USA und die Beurteilung von deren intrikater Rolle aus der Sicht deutscher Interessen zur Sprache. Daß dieser Parforceritt durch die globale Großlage auf den „Schutz der [deutschen] Bürger“ zuläuft, der den Grund für die Existenz der Bundeswehr bilden solle, werden sicher alle unterschreiben, die analytischen Befunde zu den einzelnen dargelegten politisch-strategischen Rahmenbedingungen sind allzusehr der überkommenen BRD-Perspektive verpflichtet, sie bewegen sich im Gehege der herrschenden Konventionen.
Auf den Punkt kommt die Schrift jedoch in ihrer Analyse konkreter Defizite, die ein Erfüllen des Kernauftrags der Bundeswehr massiv in Frage stellen: Wie steht es um deren Fähigkeit zu Schutz und Verteidigung des Staatsgebiets und seiner Bürger? Mit Blick insbesondere auf die Bereiche Personal, Organisation und Rüstung bzw. Ausrüstung erweist sich, daß vieles im Argen liegt, egal wie oft ‚Trendwenden‘ im Personal und in der Ausrüstungsbeschaffung beschworen werden – die Bundeswehr scheint kaum noch in der Lage, jenen Auftrag auszuführen, sollte ein echter ‚Ernstfall‘ anstehen. Ein Einsatzführungskommando der Bundeswehr koordiniert zwar sehr effizient die sehr punktuellen Auslandseinsätze der Bundeswehr, von Afghanistan bis Mali, um nur die beiden größten Posten zu benennen; in diesem Kommando wird unter den von ihm nicht zu verantwortenden Bedingungen einer politischen Mißwirtschaft effizient gearbeitet, und auch die Truppenteile im Einsatz vor Ort stehen nicht schlecht da: Man macht hier buchstäblich Scheiße zu Gold. Doch auch dort zeigen sich die Probleme beim Blick hinter die Bilder einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit zu den einsatznahen Bereichen: Die Kontingente müssen zusammengestoppelt werden, Material, Ausrüstung und Transportkapazitäten klemmen an allen Ecken und Enden, der Heldenklau für die Einsätze geht ebenso um wie die Kulturtechniken eines kreativen Mangelmanagements, des Borgens, Hin- und Herschiebens und Verschleierns fein entwickelt sind.
Kürzlich wurde höheren Orts entdeckt, daß es ‚den Russen‘ noch gibt – man hat sich also nach der postmodernen Friedens- und Freiheitseuphorie nach Ende des ersten Kalten Krieges notgedrungen eingestehen müssen, daß es in der Politik doch weniger ‚Freunde‘ denn Interessen und potentielle Gegner gibt, bislang aber keineswegs mit der nötigen Konsequenz darauf reagiert. Seit den 1990er Jahren sind die Fähigkeiten zur klassischen Landesverteidigung abgebaut worden, die Bundeswehr wurde zu einer Eingreif- und Brunnenbautruppe fern der Heimat, im eigenen Land zu einer Art Technischem Hilfswerk. Die faktische Abschaffung der Wehrpflicht mit einem nicht in kurzen und mittleren Fristen revidierbaren Rückbau von Liegenschaften, Anlagen und Strukturen, die damit verbundene weitgehende Beseitigung einer territorialen Verteidigungsorganisation vom Wallmeister bis zum Heimatschutzregiment soll nun unter erschwerten Bedingungen irgendwie kompensiert werden.
Neben den überall fehlenden finanziellen Ressourcen bildet das Personal ein großes Problem, hinsichtlich seiner Anwerbung und seiner Leistungsfähigkeit. Ob man die großen Mannstärken und damit die Wehrpflicht von dereinst braucht, kann durchaus bezweifelt werden angesichts der zunehmenden Technisierung und Spezialisierung selbst der Waffensysteme im infanteristischen Bereich. Aber man muß dies offen zur Debatte stellen und klare Stoßrichtungen formulieren – dies erfordert in der Reformekstase ein Innehalten, ein militärisches und militärpolitisches Durchdenken der Notwendigkeiten und Optionen. Das Personalproblem der Bundeswehr, auch dies zeigen Drexl und Kraus deutlich auf, hängt nicht zuletzt mit der alles dominierenden Zivilisierungstendenz zusammen, die nicht mehr auf den Soldaten als Beruf ‚sui generis‘ setzt, sondern sich gezielt bemüht, diese soldatische Seite zu marginalisieren. Damit tritt die Bundeswehr als ‚Arbeitgeber‘ in Konkurrenz zu anderen ‚verdächtig guten Jobs‘ (analoge Effekte sind bei der Polizei zu beobachten), die besser bezahlt und vielleicht auch angesehener sind. Ein möglicher Army-Effekt wäre zumindest kritisch zu prüfen – wer’s ‚draußen‘ nicht schafft, dem bleibt, so das gehässige Urteil früher zur Leistungsfähigkeit der US Army, die Berufsarmee als Sammelbecken eines zivilen ‚Prekariats‘.
Ähnliches gilt für die Sparte der Reservisten, deren Nachwachsen einst aus der Wehrpflichtarmee heraus gesichert war und die das Personal für gekaderte Einheiten bzw. Verbände im Ernstfall stellten: Sie sind heute unvermindert wichtig. Die Ab- und Übergänge aus der aktiven Truppe in die Reserve und auch die ‚Seiteneinsteiger‘ über freiwilligen Wehrdienst und Ähnliches dürften nicht reichen, um eine echte Personalwende zu schaffen. Wohlfühlprogramme, die penetrante Bewerbung von ‚Diversity‘ in der Öffentlichkeit, die Arbeitszeitverordnung für Soldaten, ein ‚Compliance Management System‘ mit neuer Organisationseinheit und einem „weiteren Generalsdienstposten in der Bundeswehr mit Unterbau im Ministerium“ und dergleichen mehr sind möglicherweise gut gemeint, scheinen insgesamt doch eher Teil der Probleme und keinesfalls deren Lösung zu bilden. Dies alles verprellt den klassischen, ernstfallorientierten Soldatentypus eher, und dies führt nicht nur zu einem Problem mit der Kopfzahl, sondern zudem in den Köpfen selbst – es ist am Ende immer der esprit de corps, der über den Gefechtswert und die Zukunft einer Truppe entscheidet.
Technisch, rüstungs- und sodann auch schulungsmäßig gesehen steht die Bundeswehr vor der großen Herausforderung, zugleich für ein hochtechnisiertes, immer weiter automatisiertes ‚Schlachtfeld der Zukunft‘ planen und eine militärische Einsatzfähigkeit für die Gegenwart – besser: die nähere Zukunft – aufbauen zu müssen. Die Bewaffnungs- und Ausrüstungsmisere von den unnötigen ministeriell induzierten Streitigkeiten um das gute und einsatzbewährte Sturmgewehr G-36 bis hin zum Fehlen oder zur fehlenden Einsatzbereitschaft von Großgerät bzw. Waffensystemen ist sattsam bekannt, Drexl und Kraus bereiten sie kundig und mit vielen bedrückenden Beispielen auf. Besonders aufschlußreich ist ihre Darlegung, wie die jüngste bürokratische, zivil inspirierte Organisationsstruktur der Bundeswehr in ihrem Zusammenwirken mit der Rüstungsindustrie alles andere als reibungslos funktioniert – hier erscheint die Lage noch viel komplexer. Nationale politische Regulierungen in Deutschland schränken – weit über EU-Normen hinaus – den Export von Produkten der Rüstungsindustrie mit deutscher Beteiligung drastisch ein; eine rein nationale Rüstungsindustrie wäre nötig, ist bei Großprojekten aber zu teuer, durch die politisch verursachte Unzuverlässigkeit deutscher Beteiligung bei europäischen Rüstungsprojekten werden solche Kooperationen aber immer prekärer und die Rüstungsplanung in der Bundeswehr entsprechend schwieriger. Bisweilen unklare Federführung und militärische Zieldefinition, politische Einmischungen und eine insgesamt „träge Beschaffungsorganisation“ tragen das Ihre zur aktuellen Misere bei.
Dennoch ist Polen nicht verloren – es gibt in der Truppe immer noch viel Substanz, kluge und nicht korrumpierte Köpfe unter den höheren Offizieren. Man leitet ‚Trendwenden‘ ein, weiß um Mißstände und Fehlentwicklungen, doch scheint es wie immer in der Geschichte: grundlegende Reformen erwachsen nur aus verschärften Krisen, wenn es keine Ausflüchte mehr gibt. Es stünde einer verantwortungsbewußten Generalität allerdings gut an, griffe man mit Blick auf eine solche drohende Verschärfung hin zum Medium einer Denkschrift – hielte also inne in Karrieretreiben, alltäglichen eMail-Offensiven und Routinebesprechungen, besänne sich auf die Verantwortung als Offiziere gegenüber Auftrag, Truppe und Geschichte, um Grundlinien einer künftigen Ausrichtung der Bundeswehr zu formulieren, von der Einrichtung eines echten Generalstabs bis hin zur Frage der Einbindung in multinationale Verteidigungsbündnisse. Die Streitschrift von Drexl und Kraus ist ein richtiger erster Schritt: zu sagen, was man sieht und was ist – gefordert ist jetzt dringlich eine Auseinandersetzung damit, was denn künftig aus den deutschen Streitkräften werden soll. Ceterum censeo: Eine ähnliche Streitschrift zur Lage der Polizei steht noch aus.
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Josef Kraus und Richard Drexl: Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine München (FinanzBuch Verlag) 2019, 240 Seiten, € 22,99 (gebundenes Buch) bzw. € 19,99 (Kindle)
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Über den Autor:
Jörg Soldan: geb. 1971, lebt derzeit in Istanbul, tätig als Berater für Sicherheitsunternehmen.
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