top of page

Julian Koch: AENEADEN SEIN — Ein Aufruf

Wer noch Augen hat zu sehen, muss spätestens dieser Tage erkennen: Es liegt etwas im Sterben. Was wir lange für verlässlich, für sicher, für anständig gehalten haben, geht in diesen Momenten den Weg alles Irdischen. Eine geduldige, schleichende Demontage und Aushöhlung hat unter unseren Augen stattgefunden. Nach langer Vorbereitung ist ihr Geist nun bereit, ganz unverschleiert aufzutreten.


Wir sehen es in Deutschland, wo die Regeln eines offiziell demokratischen Systems ausgesetzt werden können, wenn sie den Falschen, den Unbequemen, nützen. Wir sehen es in England, wo die Wahrheit über die massenhafte Zwangsprostitution und Vergewaltigung englischer Mädchen durch zugewanderte Männer unterdrückt wird – ihr Bekanntwerden könnte die Bevölkerung verunsichern. Wir sehen es am deutlichsten in Amerika, wo die rechtsstaatliche Ordnung vielerorts praktisch außer Kraft gesetzt ist, weil große Teile der politisch-medial-akademischen Klasse an ihrer Aufrechterhaltung nicht länger interessiert sind. Unter dem Banner 'friedlicher Proteste' wird zur Kulturrevolution angesetzt. Der Mob, sich im mutigen Widerstand wähnend, erhält dabei Rückhalt und Unterstützung von den Reichen, Schönen und Mächtigen.

Über all das ist bereits viel Tinte vergossen worden – oft von Menschen, deren Wissen, Erfahrung und Mut ich den größten Respekt bezolle. Ihre Empörung ist gerecht, ihre Arbeit ist wertvoll und wichtig. Aber ist sie genug?

Erkenntnis und Reflektion sind unablässig für unser Menschsein, für unser Leben und unser Verhältnis zur Welt. Und doch: Mit Wissen allein ist es nicht getan. „Die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug.” Erkenntnis ist rückblickend: sie gilt dem, was bereits abgeschlossen ist. Sie vermag nicht zu antizipieren, sie vermag nicht zu schaffen. Müssen wir erst wissen, bevor wir uns zu handeln erlauben, wird unser Handeln immer zu spät kommen.


Dies ist auch das Dilemma des Konservativen: Seine Haltung ist die des Bewahrers, des Verteidigers. Er hat viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Seine Liebe und Loyalität gilt dem Bestehenden. Was kann er aber tun, wenn das, was er bewahren will, ihm bereits genommen wurde? Hat er Kraft und Willen, den verlorenen Boden zurückzuerobern?

Dies ist die Situation, in der wir uns heute wiederfinden. Wir haben uns lange damit beschäftigt, festzustellen, zu widersprechen, Prinzipien hochzuhalten. Es ist jedoch Zeit, dass wir erkennen: Die Ordnung, die uns lange getragen hat, liegt bereits in Trümmern. Ihre Strukturen von Sinn und Recht existieren intakt nirgendwo mehr, außer in unseren Wünschen und Idealen. Wenn wir noch darauf hoffen, dass wir eines Tages die guten, alten Zeiten zurückbringen können, verdammen wir uns zur Passivität. Wer stehenbleibt, wird überholt.


Dass in der neuen Welt für uns kein Platz sein soll – daraus machen jene, die uns verschwinden sehen wollen, keinen Hehl. Während sie jedoch vorgeben, für hohe Begriffe von Gerechtigkeit, Frieden und Humanität einzutreten, projizieren sie ihr Ressentiment und ihre Zivilisationsfeindlichkeit auf alle, die ihnen widerstehen. Was sie antreibt, sind nicht Vernunft und Verstand – sondern ein Wille, der uns im Schafspelz universalistischen Denkens als dunkle Zerstörungswut überfällt.

Indem wir mit ihm argumentieren, ihn seiner Widersprüchlichkeiten überführen oder auf faire Behandlung hoffen, können wir der Kraft eines solchen Willens nicht widerstehen. Wir würden damit weiter ein Spiel spielen, dessen Regeln er nur anerkennt, wenn sie ihm selbst nützen. Die Vernunft ist und bleibt Sklavin der Leidenschaften.


Es ist deshalb notwendig, dem Willen zur Zerstörung ganz deutlich auf gleicher Ebene entgegenzutreten. Wir müssen dafür unsere eigene Kraft entwickeln, unsere Entrüstung bündeln, und uns unser Wissen dienstlich machen. Dem Willen zu Zerstörung und Verfall wollen wir entgegentreten mit einem Willen zur Schöpfung und Stärkung. Dem Willen zum Hässlichen und Lächerlichen wollen wir begegnen, indem wir Schönheit und Ernst hochhalten. Wenn man uns beschämen und zur Demut zwingen will, reicht es nicht, sich zu verweigern. Wir müssen sagen: Wir sind, wer wir sind, und wir wollen es nicht anders.

Vor allem aber müssen wir wieder den Mut fassen, voranzugehen. Soll es auf ewig unsere Pflicht sein, die Fehler und Schulden vergangener Generationen zu tragen? Können wir es erlauben, uns auf die Rolle geschichtlicher Erbschaftsverwalter reduzieren zu lassen, und gleichzeitig als freie Menschen leben? Natürlich nicht. Wir alle wissen: Wir sind mehr als nur Objekte der Geschichte. Wir sind frei geboren, und frei, unsere eigenen Visionen von Welt und Dasein zu entwickeln und zu behaupten.


Menschen lassen sich überzeugen. Noch besser und nachhaltiger aber lassen sie sich ergreifen und begeistern. Dafür muss man sie in ihrem tiefen Wesen, in ihrer Identität und ihren Wünschen ansprechen. Das kann auch bedeuten, sie an diese Dinge zu erinnern, wenn sie vergessen wurden.

Das beste Vehikel, um Menschen auf eine solche Weise zu erreichen, ist die Kunst. Künstlerische Schöpfung erlaubt uns zu zeigen, wer wir sind, was wir wollen, was für uns gut und richtig ist, und sie erlaubt uns dies alles auf eine tiefgreifendere Weise als Argumente. Worte bleiben oft Schall und Rauch – Taten verändern die Welt.

Lasst uns nicht länger nur erklären – lasst uns zeigen. Statt zu kommentieren, zu kritisieren, müssen wir erschaffen und bejahen. Schönheit, Aufrichtigkeit und ewigen Werten lässt sich nicht auf Dauer ausweichen. Sie lassen sich nicht so einfach mit leeren Etiketten versehen und wegsperren. Mit ihnen können wir den geistigen Raum schaffen und einnehmen, der uns als Brücke in die Zukunft dienen kann.


Die Geschichte des trojanischen Krieges, so glauben viele, endete mit dem Untergang Trojas. Doch das stimmt nicht: Der junge Prinz Aeneas schaffte es mit einer Handvoll Landsleuten, den Aeneaden, der Zerstörung zu entkommen. Der Sage nach begaben sie sich auf eine lange Irrfahrt über das Mittelmeer, und ließen sich schließlich an der Westküste Italiens nieder. Viele Jahre später gründeten an dieser Stelle die Nachfahren der trojanischen Aeneaden jene ewige Stadt, die zum Zentrum eines der größten Reiche der Weltgeschichte werden sollte: Rom.


Es waren der Wille, die Werte und das kulturelle Gedächtnis, die Trojaner zu Römern machten, und dafür sorgten, dass Troja niemals ganz verloren ging, bis es im römischen Geist wiederaufblühen konnte. Eine ganz ähnliche Aufgabe liegt heute an uns: Wenn die Tage des alten Westens gezählt sind, ist es unsere Verantwortung, seinen Geist am Leben zu halten, ihn uns anzueignen und, mit dem Blick auf die Zukunft, zu neuer Blüte zu führen. Wir müssen diesen Geist pflegen wie eine Flamme im Sturm. Wir müssen Aeneaden sein.



*


 

Hier können Sie TUMULT abonnieren.

Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.

bottom of page