Siebzig Jahre Bundesrepublik, siebzig Jahre FAZ, siebzig Jahre Josef Kraus: Der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes rezensiert für TUMULT die Neuerscheinung 'Zeitung für Deutschland', eine kenntnisreiche Aufbereitung der FAZ-Geschichte aus der Feder des Würzburger Historikers Peter Hoeres.
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Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist ein großes, ein “opus magnum“ – allein schon quantitativ: 600 Seiten, 1.031 Gramm, 1.855 Fußnoten, über 400 Quellen, über 800 Namen. Dahinter stehen 6.279.029 im Volltextarchiv der FAZ zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buchmanuskripts digital verfügbare Artikel. Diese Zahlen lassen erahnen, was inhaltlich in diesem Werk des immer noch recht jungen Professors Dr. Peter Hoeres (48), Professor für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg, steckt.
Möglich ist diese Fülle, weil Hoeres der erste Forscher ist, der im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts exklusiven Zugang zu den Archivalien der FAZ inkl. Redaktionsprotokollen bekam und mit zahlreichen Zeitzeugen sprechen konnte. Es ist daraus keine quasi bestellte Geburtstagsschrift geworden, also keine Auftragsarbeit, die Hoeres hier leistete, sondern ein finanziell und ideell völlig unabhängiges Werk.
Hoeres analysiert die Geschichte der FAZ von ihrer Gründung 1949 bis heute. Er eruiert deren Vorgeschichte – namentlich die Bezugnahme der FAZ auf die „Frankfurter Zeitung“, die 1856 gegründet und 1943 auf Anordnung Hitlers verboten wurde, und die ursprünglich enge Verbindung mit der in Mainz erscheinenden „Allgemeinen Zeitung“. Dabei spart Hoeres weder die Übernahme von Journalisten der Jahre 1933 bis 1945, noch den Anzeigen-Boykott von VW, noch die anfänglich problematische Finanzverfassung der FAZ und die Geldgeber aus – etwa die Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 (Wipog) sowie Unternehmen wie Salamander und Bosch, die das Stammkapital zur Verfügung stellten. Die Schlüsselfigur in diesem Gründungsprozess war der 1900 geborene und 1982 verstorbene Erich Welter, ein "melancholischer Grandseigneur", dessen Name als Gründungsherausgeber heute noch das FAZ-Impressum ziert.
Hoeres‘ Werk ist kein affirmatives, sondern ein kritisch reflektierendes. Umso mehr ist man als Leser gewillt, Hoeres zu folgen, wenn er begründet, dass die FAZ ein Leitmedium war und ist, dass ihre Stimme Gewicht hat und dass sie neben "Le Monde", "The Times" und "Neuer Zürcher Zeitung" zu den großen Zeitungen der Welt gehört. Aus der Geschichte der Bundesrepublik ist sie nicht wegzudenken, hat sie doch nicht nur berichtet und kommentiert, sondern so manche politische Entscheidung vorweggenommen oder gar initiiert. Insofern sind 70 Jahre FAZ zugleich 70 Jahre deutsche Geschichte. Und für ihre Leser ist die FAZ ohnehin ein „Distinktionsmerkmal“.
Gegenüber so manchem Mächtigen hat sich die FAZ markant und vor allem ordoliberal, anti-sozialistisch und kartellkritisch positioniert. Zum Beispiel förderte die FAZ Ludwig Erhard, was ihr den Namen „Brigade Erhard“ einbrachte; Adenauer und Kohl konnten bei aller politischen Nähe nicht immer etwas mit der FAZ anfangen.
„agenda setting function“ nennt man das Wirken eines Meinungsbildners heute. Das galt für die FAZ immer: für Themen wie den Umgang mit der NS-Vergangenheit, die Auschwitz-Prozesse, die lange Phase des Kalten Krieges, das transatlantische Verhältnis, die 68er, die Zukunft Europas bzw. der Europäischen Union und des Euros, die Rolle des Islam, Literaturstreitereien, den Historikerstreit, die Kernenergie, die Wiedervereinigung, die Rechtschreibreform, die Bedeutung des digitalen Wandels und anderes mehr.
Die FAZ ist keine Zeitung wie jede andere. Sie hat keinen Chefredakteur, sondern mit einem vier- oder fünfköpfigen Herausgeberteam eine Kollegialverfassung, die allerdings nicht immer Homogenität und Konsens garantierte. Der gelegentlich erfolgte und von den anderen Herausgebern inszenierte Hinauswurf eines der Herausgeber (bislang immer Männer) belegt dies. Der „Fall“ Holger Steltzner, der im Frühjahr 2019 seinen Hut nehmen musste (wie 1970 Jürgen Tern und 2001 Hugo Müller-Vogg), ist jüngstes Beispiel dafür. Mit seinem erzwungenen Weggang hat die FAZ eine markante Stimme verloren.
Die FAZ ist keine Lagerzeitung, weshalb manchmal nicht zu Unrecht gesagt wird, die FAZ bestehe aus zwei Zeitungen: einem Politik-Buch und einem Feuilleton-Buch. Hoeres nennt das neben der Seriosität der gehobenen Sprache einen "durchgehenden politisch-weltanschaulichen Binnenpluralismus als Alleinstellungsmerkmal der FAZ".
Hoeres reflektiert mit Blick nicht nur auf die FAZ auch den großen Wendepunkt, der die deutsche Zeitungskrise von 2001 traf. Auflagen und Anzeigen gingen zurück. Um die Jahrhundertwende hatte die FAZ eine Auflage von über 400.000 (entsprechend rund 1,5 Millionen Lesern), heute sind es rund 230.000. "Die inhaltliche und kaufmännische Neuerfindung des Zeitungsjournalismus ist noch nicht gelungen", so resümiert Hoeres allgemein und insbesondere für die FAZ. Zuvor bereits hatten Fehlinvestitionen die FAZ belastet: etwa der Einstieg ins private Rundfunk- und Fernsehgeschäft oder der Versuch, die „Neue Zeit“ (vormals das Organ der Ost-CDU) zu übernehmen bzw. zu retten.
Besonders lesenswert und durchaus unterhaltsam wird Hoeres, wenn er herausragende Köpfe der FAZ beschreibt: Friedrich Siegburg, Dolf Sternberger, Joachim Fest, Marcel Reich-Ranicki, Frank Schirrmacher, Konrad Adam u.a.m. Hoeres weiß hier – zuverlässig recherchiert und ironisierend würzend – Anekdotisches zu berichten: über den unbeherrschten Führungsstil von Marcel Reich-Ranicki als Literaturchef (zu Konrad Adam wörtlich “Todfeind!“) oder über Frank Schirrmacher, den Hoeres „genialisch, getrieben sprunghaft, rücksichtslos überehrgeizig, hochstaplerisch“ charakterisiert und von dem Hoeres den Spitznamen "Caligula" und "Nero" kennt. Interessant auch die vielen Abwanderungen von FAZ-Leuten zu anderen Zeitungen (z.B. WELT, SZ, Spiegel, ZEIT, STERN) oder die Zuwanderung von Journalisten anderer Zeitungen zur FAZ! Sehr anschaulich stellt Hoeres auch die Leserbriefpraxis, die Karikaturen, die Bebilderung der FAZ sowie das Sport- und Reiseressort vor. Hier vermag Peter Hoeres auf lesenswerte Art nicht nur Geschichte zu berichten, sondern Geschichten zu erzählen.
Die Lektüre des Hoeres-Buches wird nie langweilig. Man hätte gut und gerne noch 200 Seiten mehr geschafft bzw. gerne dieses oder jenes Thema (etwa den Umgang der FAZ mit den Kirchen oder etwa mit dem „deutschen“ Papst“) dargestellt bekommen, darunter vor allem die Tatsache, dass die FAZ mindestens seit den 1960er Jahren in Sachen Bildungspolitik das Leitmedium ist. Ohne die FAZ wäre es wohl noch schlechter um die Bildungsnation Deutschland bestellt, wenn die FAZ nicht wäre, wenn es die führenden deutschen Bildungsjournalisten Kurt Reumann und heute Heike Schmoll nicht gegeben hätte bzw. gäbe. Solche Kapitel mögen vielleicht in einer erweiterten Auflage noch kommen. Das ist nicht als Defizit zu verstehen, denn nicht zu Unrecht schreibt Hoeres bereits im Vorwort: „Es werden also Kenner der FAZ in diesem Buch einiges vermissen, Namen, die für sie wichtig sind, und Artikel, an die sie sich erinnern …. Eine Totalgeschichte (gemeint ist der FAZ; JK) ist schon angesichts der Fülle an Material auch rein theoretisch sinnlos.“
Jedenfalls darf man in diesem Sinne oder anderweitig noch einiges von Hoeres erwarten. Er gehört gottlob nicht zu den politisch korrekten Historikern; sondern er ist einer, der auch mal dem historisch hochkorrekten Historikerverband die Leviten liest, wenn letzterer wohlfeil „gegen rechts“ zu Felde zieht und ein Bündnis mit Merkels Grenzöffnung von 2015 eingeht. Kürzlich schrieb Hoeres zusammen mit Dominik Geppert von der Universität Potsdam in einer öffentlichen Stellungnahme zum Historikertag von 2019: „Antitotalitarismus war gestern. Antifaschismus ist (wieder) angesagt … Das zeigt die intellektuelle Sackgasse, in die man gerät, wenn man Fachkompetenz für politische Zwecke funktionalisieren möchte.“
Übrigens: Der Rezensent hat das Buch ganz (!) gelesen. Über Hoeres hinaus empfiehlt er der FAZ, sich bei der ehrlichen Darstellung der Lage in Deutschland nicht von der NZZ die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Immerhin beschleicht einen der Verdacht, dass die NZZ gelegentlich das neue „Westfernsehen“ ist, das Dinge (etwa Integrations- und Gewaltprobleme von Migranten) „bringt“, die man in der FAZ kaum dargestellt findet, geschweige denn in anderen Zeitungen oder gar bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Peter Hoeres: Zeitung für Deutschland - Die Geschichte der FAZ. Beneveto Verlag München – Salzburg. September/Oktober 2019. EURO 28.--
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