Johannes Scharf schaffte es auf journalistischer Mission in den letzten Tagen nicht nur nach Lesbos in den Brennpunkt der wieder akuten Flüchtlingskrise, sondern nach einem Antifa-Überfall auch ins dortige Krankenhaus und zu guter Letzt unrühmlich in die BILD-Zeitung. Wir dokumentieren den Bericht über seine Reise, an deren Ende sich der Weltenbummler und sein griechischer Taxifahrer zurück zum Flughafen immerhin auf eines fraglos verständigen konnten: "Merkel bad for all!"
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Es ist Sonntag, der 8. März 2020, und ich habe in den vergangenen 100 Stunden so viel geschlafen, wie man normalerweise in zwei Nächten wegschnarcht. Das klingt erst einmal nicht nach Urlaub, dabei hatte ich eine Menge unvergesslicher Erlebnisse auf einer paradiesischen Ferieninsel, die der Althistoriker und Klassische Archäologe in erster Linie mit der griechischen Dichterin Sappho in Verbindung bringt. Die begnadete Lyrikerin, von deren Gesamtwerk leider nur noch ein Bruchteil erhalten ist, wirkte im 7. vorchristlichen Jahrhundert in Mytilene auf der Insel Lesbos. Während ich es in der Stadt und auf der gesamten Insel über Nacht zu allgemeiner Bekanntheit gebracht habe, wird mein Gesicht längst vergessen sein, wenn künftige Generationen von Archäologen noch die attisch-rotfigurigen Vasen mit Darstellungen der Sappho bewundern. Und das ist auch gut so.
Doch wie kam es zu dem plötzlichen Anstieg meines Bekanntheitsgrades, der weder vor dem griechischen Festland noch vor meiner deutschen Heimat Halt machte und mir neben Mord- und Gewaltandrohungen auch im Stundentakt Kontaktaufnahmen von alten Schulkameraden bescherte? Fragen wie „Bist du gerade in Griechenland?“ oder „Was machst denn du schon wieder?“ wurden um originellere oder dialektal gefärbte Varianten wie die Folgende bereichert: „Du bisch der Beste. Sogar im Radio SWR4 bisch komme. […] Wenn irgendwann mal Essen, Trinken oder en Schlafplatz brausch, dann kommsch zu mir.“ Ein sehr guter Freund schrieb in einer WhatsApp-Gruppe: „Mein Vater hat mich gerade angerufen, um mir mitzuteilen, dass mein Kumpel Stumpf in Griechenland bei der Verteidigung der Grenzen verletzt wurde – er hat es im Radio gehört!“
Die BILD-Zeitung druckte gar mein blutüberströmtes Gesicht neben einer Anzahl mutmaßlich misshandelter Flüchtlinge und titelte: 'DAS HÄSSLICHE EUROPA: Neonazis auf Lesbos – misshandelte Flüchtlinge an der Grenze'. Dass die Landgrenze gemeint war und das Eine mit dem Anderen nicht im Zusammenhang steht, ging natürlich erst aus dem Kleingedruckten hervor. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Abgesehen davon, zeugt es von grenzenloser Dummheit oder einfach reiner Faulheit, mir das Etikett Neonazi anheften zu wollen. Wer auch nur mit einem einzigen meiner Videobeiträge, Bücher oder Zeitschriftenartikel vertraut ist, weiß ganz genau, dass die Bezeichnung Weiberheld für einen Homosexuellen ebenso passend ist wie die Etikettierung meiner Person als Nazi. Ich bin weder nationalistisch noch sozialistisch, weder antisemitisch noch ausländerfeindlich, weder obrigkeitshörig noch autoritär, sondern im Gegenteil ein freiheitlicher Ethnopluralist mit einer ganzen Palette von konservativen und liberalen Ansichten. Die Gemeinsamkeit zwischen mir und einem Nazi beschränkt sich wohl auf die Forderung nach sicheren Grenzen und einer vernunftbasierten Einwanderungspolitik. Dass diese Ansichten nicht genuin nazistisch sind, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Der BILD-Zeitung ist das freilich einerlei …
Aber was war der Grund für meinen Aufenthalt auf der Insel Lesbos? Ich werde mit der Verschriftlichung des gerade Erlebten ganz von vorne beginnen: am Dienstag, dem 3. März. Mario Alexander Müller, ein langjähriger Freund und Berufsjournalist, fragte mich, ob ich am Folgetag einen kurzen Kommentar für Compact Online zum Superdienstag in den USA verfassen könne, da ich bereits einen Artikel über die Vorwahlen der Demokraten geschrieben hatte. Ich bejahte dies, teilte ihm aber mit, die Einreichung des Artikels werde sich unter Umständen bis Donnerstagmittag verzögern, da ich am Mittwoch von morgens bis abends Vorlesungen zu besuchen hätte. Daraufhin erwähnte er beiläufig, er sei um diese Zeit bereits nach Lesbos unterwegs, um dort eine Reportage für das Magazin zu schreiben. Der Mietwagen, die Flüge und die Unterkunft seien bereits gebucht.
Mario ist ein junger, aber nichtsdestoweniger erfahrener Reporter, der ähnliche Berufsausflüge schon in den Libanon, nach Syrien und zu den Pariser Gelbwestenprotesten unternommen hat. Zu letzteren bin ich ihm damals auf dem Fuß gefolgt, um für meinen YouTube-Kanal ein paar brauchbare Videos zu drehen, hatte aber den Höhepunkt der Proteste um wenige Tage verpasst. Das sollte mir nicht noch einmal passieren und so beschloss ich kurzerhand, mich Mario auf sein Angebot hin anzuschließen. Die Auseinandersetzungen der Insulaner mit Migranten und Sicherheitskräften waren gerade erst aufgeflammt und die Grenzöffnung durch Erdogan in aller Munde. Wann würde sich in Lesbos eine gute Geschichte, ein bewegendes Einzelschicksal, leichter finden lassen als jetzt?
Ich sollte von seiner Erfahrung und seinen Kontakten profitieren, aber wir waren darin übereingekommen, unterschiedliche Geschichten zu erzählen, die jeweils exklusiv sein mussten. Wer von uns beiden der Lehrling und wer der Geselle war, ließ sich schon an unserer Ausrüstung ablesen. Seine Spiegelreflexkamera nebst Zubehör kostet das 100fache dessen, was ich für meine gebrauchte Kamera bezahlt habe. Ich fand den Fotoapparat auf Ebay-Kleinanzeigen und holte ihn dienstags noch kurz vor Mitternacht bei dem Verkäufer in Mannheim-Seckenheim gegen Bares ab. Meine alte Kamera hatte einen Monat Mexiko nicht ganz unbeschadet überstanden.
Da Berichte kursierten, nach denen NGO-Angehörige teilweise von Einheimischen angegriffen würden und man generell alle Nordwesteuropäer auf Lesbos für NGO-Leute halte, hielten wir es für ratsam, Armbinden mit der Aufschrift „No NGO“ schneidern zu lassen, die dann allerdings nie zum Einsatz kamen. Als ich der Schneiderin, die zufällig Griechin war, erklärte, was es mit den Armbinden auf sich habe, fragte sie ernst: „Sind Sie für die Griechen oder für die Flüchtlinge?“ Ich antwortete prompt und mit Nachdruck: „Für die Griechen selbstverständlich!“ und fügte dann hinzu: „IMASTE FILI TU ELLINIKU LAU“. Das heißt: „Wir sind Freunde des griechischen Volkes“. Den Spruch hatte ich erst wenige Stunden zuvor von meinem griechischen Bekannten Dimitris gelernt, der viele Jahre in Deutschland gelebt hat. Als die Schneiderin dies hörte, strahlte sie über das ganze Gesicht und wollte partout kein Geld für ihre Arbeit nehmen. Sie wünschte mir viel Erfolg und bat mich, auf der Hut zu sein. Dimitris riet dringend von dem Unternehmen ab, aber meine Flüge waren gebucht und ich fest entschlossen, nach Lesbos zu reisen.
Nachdem ich noch am späten Abend des 4. März den versprochenen Kommentar geschrieben und eingereicht hatte, packte ich meine sieben Sachen, legte mich für zwei Stunden schlafen und trat dann voller Vorfreude auf ein kleines Abenteuer mit dem Flixbus nach Stuttgart die Reise an. Ich sollte nicht enttäuscht werden.
In Athen traf ich mich mit Mario Müller, den ich zum letzten Mal vor zwei Jahren in Halle gesehen hatte, da wir uns in Paris um wenige Tage verpasst hatten. Hier eröffnete er mir seine Agenda im Groben, die am Abend noch einmal zusammen mit den griechischen Kontaktleuten auf Lesbos erörtert und auf ihre Praktikabilität hin geprüft werden sollte. Das geschah dann auch beim gemeinsamen Abendessen mit einem französischen Bekannten und unseren griechischen Kontaktleuten vor Ort, nennen wir sie Demetrios und Alexander.
Demetrios war ein junger drahtiger Kerl mit Vollbart, während Alexander schon als älterer Herr bezeichnet werden muss. Man stelle ihn sich glattrasiert oder mit Bartstoppeln vor. Der Leser wird verstehen, weshalb es mir unmöglich ist, die beiden Personen näher zu beschreiben, wenn ich sie keiner Gefahr für Leib und Leben aussetzen möchte. Der an jenem Abend des 5. März geschmiedete Plan sah unter anderen Dingen einen Besuch des Lagers in Moria vor, bei dem Migranten interviewt und Bilder gemacht werden sollten, außerdem potenzielle Interviews mit Sicherheitskräften und Schafhirten. Losgehen sollte es um die Mittagszeit des nächsten Tages. Den Morgen wollten Mario und ich nutzen, um uns mit zwei österreichischen Reportern zu treffen, die ebenfalls nach Lesbos gereist waren. Nach einem gemeinsamen Frühstück sollten zunächst Ladenbesitzer in der Einkaufsmeile Mytilenes nach ihren Erlebnissen mit Migranten, NGO-Angehörigen und der Polizei befragt und, falls sie nichts dagegen hätten, auch gefilmt werden. Mit unserem Kontaktmann Alexander wollten wir um die Mittagszeit zusammentreffen. Da die Küstenwache vorzügliche Arbeit geleistet hatte und in den vergangenen 48 Stunden nur zwei „Flüchtlingsboote“ angekommen waren, machte unser guter Alexander den Vorschlag, man könne eine Bürgerpatrouille oder eine Barrikade für uns nachstellen, was Mario dankend, aber bestimmt zurückwies. Das gefiel mir, denn ich hatte nicht vor, in die Fußstapfen eines Claas Relotius zu treten.
Nach dem Abendessen, das sich bis tief in die Nacht zog, lenkte ich den Wagen durch die schmalen Gässchen der Altstadt, die Mario sehr zu meinem Missfallen ob ihrer Enge stets Favela nannte, zurück zu unserer Unterkunft. Obwohl wir am nächsten Morgen früh aus den Federn kamen, sollte es die einzige Nacht seit nunmehr vier vollen Tagen werden, in der ich knapp sechs Stunden schlief. Wir hatten von unserem Zimmer einen herrlichen Ausblick auf die Dächer der Stadt und die im 6. Jahrhundert unter der Herrschaft Justitians I. erbaute Festung Mytilenes. Es ärgerte mich, dass wir diese Unterkunft schon bald in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen mussten. Das einzige, was uns an jener Bleibe nicht zusagte, war der Umstand, dass die Anfahrt durch die schmalen Gässchen recht beschwerlich und langwierig war. Wir staunten nicht schlecht, als wir in diesen engen Sträßlein, in denen ich selbst mit unserem Opel Corsa bei jeder dritten Wegbiegung oder Kreuzung zurücksetzen musste, einen dicken Land Rover sahen.
Als wir am Morgen des 6. März auf dem Navigationsgerät den schnellsten Weg zu dem Restaurant auswählten, in dem wir uns mit den Österreichern verabredet hatten, führte uns das Gerät in eine vermeintliche Sackgasse. Wir wollten gerade umkehren, als wir in der Richtung, in der das Navi eine Straße vermutete, eine Art Feldweg erblickten. Diesen Weg fuhren oder besser: rutschten wir hinunter und freuten uns mit jedem Meter ein wenig mehr über die Tatsache, dass der Wagen vollkaskoversichert war. An einer besonders heiklen Stelle stieg Mario aus und filmte das Manöver. Es sollte das einzige Filmmaterial unserer Reise werden. Zum Frühstück gab es nur Bagels mit Käse und Schinken. Man erklärte uns, das Frühstücken habe in Griechenland keine lange Tradition – jedenfalls nicht auf den Inseln. Die österreichischen Journalisten Stefan und Fabian lernte ich zwar an diesem Morgen erst kennen, aber wir wurden in den folgenden Stunden recht flott gut miteinander bekannt. Man könnte sagen, das sich nun anschließende Ereignis wirkte als Katalysator der Freundschaft.
Direkt nach Verlassen des Lokals bemerkten wir, dass auf den Twitter-Accounts der lokalen Antifa ein wahres Feuerwerk losging. Überall starrte einem Marios Konterfei entgegen und mit seinen roten Haaren stach er unter den zumeist brünetten Insulanern heraus wie ein bunter Hund. Gleich hatten wir zwei verlotterte deutsche Journalisten im Verdacht, die mit uns in Mytilene gelandet waren (der Verdacht sollte sich später erhärten). In völliger Fehleinschätzung der Lage maßen wir der örtlichen Antifa jedoch ein geringes Mobilisierungspotenzial zu und machten uns nichts weiter aus der Sache, sondern verfolgten unbeirrt unseren Plan, die Ladenbesitzer Mytilenes zu interviewen. Später, aber erst zu spät, sahen wir auch, dass man uns beim Frühstück unbemerkt fotografiert hatte.
Bereits die erste Ladenbesitzerin, die wir ansprachen, antwortete zu unserer vollsten Zufriedenheit auf alle unsere Fragen. Es stellte sich heraus, dass sie dreißig Jahre in Deutschland gelebt hatte und Hessisch sprach wie eine Eingeborene. Wir waren völlig aus dem Häuschen und Mario hatte schon seine Kamera ausgepackt und war gerade im Begriff, die letzten Einstellungen vorzunehmen, als wir eine sich zügig nähernde Gruppe schwarz gekleideter, vermummter Personen bemerkten, die teilweise Motorradhelme auf dem Kopf trugen oder in der Hand hielten. Es dauerte keine drei Atemzüge, da hörte man auch schon das Klacken eines ausfahrenden Teleskopschlagstocks.
Mario und ich sprangen im selben Augenblick auf die Straße, um den Überfall abzuwehren, während Fabian und sein Begleiter geistesgegenwärtig das viele Tausend Euro teure Equipment aus der Gefahrenzone trugen. Wir tänzelten auf der Straße vor und zurück, aber im Gegensatz zu Mario vernachlässigte ich meine Deckung vollständig, weil ich nur daran dachte, Treffer zu landen. Es gelang uns einige Male, die Angreifer ein Stück zurückzudrängen, aber die vollständige Vertreibung der Gegner scheiterte zunächst daran, dass man es als Einzelner immer mit zwei oder drei Personen auf einmal zu tun hatte. Paukte man sich auf einen Kopf ein und wurde die Person, zu der jener unglückliche Kopf gehörte, infolgedessen ein paar Meter zurückgedrängt, erhielt man Faust- und Teleskopschlagstockhiebe von hinten oder der Seite. Mindestens einmal traf mich ein Motorradhelm am linken Auge, was ganz schön schepperte, aber im Eifer des Gefechts keine Schmerzen verursachte und mich folglich auch nicht wirklich aus dem Konzept brachte, wobei wegen des Durcheinanders ohnehin nur noch die Basics des Faustkampfes abzurufen waren. Auch Mario ärgerte sich im Nachhinein darüber, dass es beim Abspulen des Basisprogramms blieb. Einmal gingen wir beide kurz zu Boden. Ich dachte, ich sei beim Rückwärtstrippeln über seinen Körper gestolpert, aber auf den Aufnahmen der Überwachungskameras ist zu sehen, wie mich jemand von hinten an der Jacke zieht. Wie dem auch sei. Ich fiel jedenfalls rückwärts über Mario und wir blickten uns beide für den Bruchteil einer Sekunde an. Ich kann nicht beschreiben, was für ein Blick es war, den wir uns zuwarfen, aber ich habe das Gefühl, in Marios Blick habe sich eine gewisse Teilnahmslosigkeit ausgedrückt, so als ließe ihn dieser dilettantische Tötungsversuch jener fehlgeleiteten jungen Männer vollkommen kalt.
Ein Wimpernschlag später waren wir beide wieder auf den Beinen und drängten die Angreifer erneut ein Stück zurück. Auf den Überwachungskameras ist zu sehen, wie ich mehrfach mit einem Teleskopschlagstock am Kopf getroffen werde, aber für die Platzwunde, die ich am Kopf erhielt, ist wohl ein Schlag verantwortlich zu machen, der just in dem Moment ausgeführt wurde, in dem ich für etwa ein bis zwei Sekunden den Boden berührte. Als ich von hinten an der Jacke gezogen wurde und über Mario fiel, sprang ein Mann mit einem Teleskopschlagstock herbei und versetzte mir von hinten mit voller Wucht den Hieb, der mutmaßlich die Wunde schlug. Es ist seltsam, dass ich mich nicht einmal an diesen Schlag erinnern kann, aber Adrenalin wirkt eben tatsächlich Wunder. Der Kampf währte nun nicht mehr lange, weil jetzt auch Fabian und Stefan eingriffen und wir uns um einen Ladeneingang gruppierten, der gut zu verteidigen war. Erst jetzt merkte ich allmählich, dass das Blut pulsierend aus meinem Kopf hervorquoll. Meine Jacke, der Pullover und der Boden um mich herum waren bereits mit Blut bespritzt und an den entsetzten Mienen der Stadtbewohner, die einen großen Kreis gebildet hatten, war abzulesen, dass mein Kopf nicht gut aussah.
Die sechs bis acht Angreifer hatten die Flucht ergriffen, aber einige ihrer Genossen, darunter mehrere Fotografen, krakelten noch immer das vermutlich griechische Pendant zu „Nazis raus!“ und ähnlich geistreiche Parolen. Ich tastete nach dem Leck in meinem Kopf und stopfte es mit der flachen Hand, was eher schlecht als recht zu bewerkstelligen war, aber doch verhinderte, dass weiterhin größere Mengen Blutes austraten. Ich glaube mich zu erinnern, dass Fabian sagte: „Press die Hand drauf!“, während er den Verbandskasten begutachtete, den ein couragierter Bürger rasch herbeigetragen hatte, auch Küchen- und Taschentücher wurden uns von umstehenden Einheimischen gereicht. Fabian legte in der Folge den Kopfverband so fachmännisch an, dass ich ihn fragte, ob er im österreichischen Bundesheer Sanitäter gewesen sei. Als sich daraufhin herausstellte, dass er stattdessen wie ich bei der Infanterie gewesen war, waren wir uns nur noch sympathischer. Wir erfuhren später, dass von dem Passanten, der Zivilcourage bewiesen und den Verbandskasten herbeigeschleift hatte, am nächsten Tag von der Antifa ein Steckbrief veröffentlicht wurde – mit dem Hinweis, er sei der erste gewesen, der den Faschisten zu Hilfe geeilt sei. Kann man sich etwas Niederträchtigeres vorstellen als diese bösartige Verunglimpfung eines Ersthelfers? Wir sind nun wieder in der Heimat, aber er muss als Insulaner mit dieser Stigmatisierung leben und möglicherweise sogar um seine körperliche Unversehrtheit fürchten.
Es sei mir an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über politisch motivierte Gewalt und das sogenannte Doxing, also das Veröffentlichen personenbezogener Daten, von politischen Gegnern gestattet. Es würde mir – und wohl den meisten anderen „Rechten“ – im Traum nicht einfallen, jemanden, der eine andere Meinung vertritt, um dieser unterschiedlichen Weltanschauung willen körperlich anzugreifen. Ich bin mir sicher, die besseren Argumente auf meiner Seite zu haben. Wozu Gewalt? Wir sind denen, die wir hassen, ähnlicher als wir denken, heißt es. Das gilt in besonderem Maße für die Antifa, die sich angeblich gegen Hass und Faschismus engagiert, deren Methoden aber den Methoden der Faschisten, deren Verdrehungen der Tatsachen den Propagandalügen eines Goebbels aufs Haar gleichen. Sowohl die Nationalsozialisten als auch die selbsternannten „Antifaschisten“ sind darum bemüht, andere Meinungen zu unterdrücken. Ich hingegen würde sogar mein Leben dafür riskieren, damit Linke auch unter umgedrehten Vorzeichen ungestraft auf die Rechten schimpfen könnten. Manch ein alter Weggefährte legt mir diesen Liberalismus als Schwäche aus, aber ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut. Es gibt für mich keinen höheren Wert als die Freiheit!
Nachdem wir eine Weile lang in Erwartung weiterer Angriffsversuche zu viert vor einem Ladeneingang gestanden hatten, von dessen Fliesen ein Mann mit einem Wischmob das vergossene Blut aufwischte, trat ein junger bärtiger Grieche unter uns und gab sich als Zivilpolizist zu erkennen. Er war sehr höflich und verlangte von uns, ihm zu folgen. Nun trafen auch nach und nach mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei vor Ort ein. Es dauerte noch etwa eine viertel Stunde und dann ging es zum Polizeirevier, wo meine Freunde das Geschehene zu Protokoll gaben, während ich ins Krankenhaus gebracht und dort behandelt wurde. Ich war schon in vielen Krankenhäusern dieser schönen Welt gewesen: In Italien, weil ich mir in Dschibuti die Bänder überdehnt hatte und man es in Saudi-Arabien ablehnte, mich zu behandeln, in Nigeria und der Elfenbeinküste aufgrund einer Schnittverletzung, in Mexiko wegen einer Infektion und in den Niederlanden, weil ich mir beim Rugbyspielen einen Bänderriss in der Schulter zugezogen hatte. Nirgends war es jedoch so schön wie im Krankenhaus von Mytilene.
Verschiedene Zimmer gab es in der Notaufnahme nicht, sondern nur Vorhänge, welche die einzelnen Betten voneinander trennten. Es wimmelte auf diesen Krankenbetten nur so von Migranten. Griechische Patienten sah ich keine, aber dafür ein knappes Dutzend griechischer Krankenschwestern. Sie werden sich gedacht haben: „Schon wieder ein Ausländer …“ Mir wurde bedeutet, mich auf ein Bett zu legen und mich oben herum frei zu machen. Mein tätowierter Oberkörper stieß bei allen Krankenschwestern auf reges Interesse, sogar bei jenen, die sich eigentlich um andere Patienten zu kümmern hatten. Die Schwester, die meinen Namen und mein Alter notierte, hieß Danai und war mit ihren dunklen Haaren und Augen ein Traum von einer Hellenin. Ich fragte sie, ob sie nach Feierabend Zeit habe, einen Kaffee mit mir zu trinken, was sie leider verneinte. Ob sie nun Zeit gehabt hätte oder nicht, übelnehmen kann ich ihr die Antwort nicht. Ich sah ja ziemlich ramponiert aus, jedenfalls im Gesicht.
Während Danai mir die Elektroden für das Elektrokardiogramm anlegte, fragte mich eine andere Schwester, wie viele Finger ich sehen könne, während sie mir nur einen einzigen vor das Gesicht hielt. Als ich antwortete, ich sähe drei Finger, lachte sie, weil sie genau wusste, dass ich sie mit meiner Antwort auf den Arm zu nehmen gedachte. Nach einem fachmännischen Blick der Ärztin unter den Kopfverband - jedenfalls vermute ich nicht zuletzt aufgrund des Altersunterschiedes zu den übrigen Frauen, die alle Anfang 20 gewesen sein dürften, es dürfte sich um eine studierte Medizinerin gehandelt haben - wurde ich in einem anderen Raum, der nun tatsächlich auch über Wände verfügte, genäht. Ich fühlte bei jedem Stich, was für eine ungeheure Kraftanstrengung es für die Schwester bedeutete, mit der Nadel meine Kopfhaut zu durchdringen. Mir wurde auch mitgeteilt, die meine sei besonders dick. Die Schwester, die mich nähte, war blond, wie insgesamt zwei oder drei weitere medizinische Angestellte in diesem seltsamen Krankenhaus, und sprach sogar ein paar Brocken Deutsch. Links neben dem Krankenbett stand Danai, neben ihr eine weitere Schwester, deren rote Haare nicht ganz schulterlang waren. Insgesamt waren zu jeder Zeit etwa sechs bis acht Schwestern um das Bett gruppiert. Hin und wieder ging eine hinaus und kam eine andere dafür wieder herein.
Anschließend wurden noch Röntgenbilder von meinem Schädel gemacht, da sonst ein Bruch nicht ausgeschlossen werden konnte. Es schien jedoch alles in bester Ordnung und nur stark angeschwollen zu sein, sodass ich entlassen werden konnte. Ich bekam ein Rezept für Penicillin und sollte mir in einer Apotheke zeitnah eine Tetanusspritze in den Allerwertesten verpassen lassen. Dieses Prozedere kannte ich noch aus Lagos, Nigeria. Zunächst ging es aber zurück auf die Polizeiwache, wo meine Freunde bereits alles zu Protokoll gegeben hatten. Eine Polizistin legte mir ein anderthalb bis zwei Seiten langes Schriftstück auf Griechisch vor, das ich anstandslos unterschrieb. Alle waren in bester Stimmung und der Polizeikapitän, ein hagerer Mann mit kurzen dunklen Haaren und einer großen markanten Nase, fragte mich lachend, ob ich Boxer sei. Er sagte, er habe ein Video gesehen, auf dem der Rothaarige und ich ordentlich gegen die Angreifer ausgeteilt hätten. Darauf führte sein Kollege, ein gemütlicher, leicht pummeliger Mann mit Vollbart und freundlichem Gesicht, grinsend einen linken und einen rechten Haken in der Luft aus. Wir wollten dieses Video unbedingt sehen, aber man erfüllte uns diesen Wunsch nicht sofort. Dafür ließ man uns mehrfach Kaffee und Wasser bringen und gestattete uns sogar entgegen der Vorschriften, in den Räumlichkeiten des Polizeireviers zu rauchen. Sehr zu meinem Leidwesen, da mir Zigarettenrauch verhasst ist.
Während der vielen Stunden, die wir auf der Wache zubrachten, wurden mehrere sogenannte Geflüchtete in Handschellen vorgeführt, die offensichtlich mehr verbrochen hatten, als illegal die Grenze zu übertreten. Einen Höhepunkt stellte der Besuch eines norwegischen Journalisten dar, der unserem gemütlichen Beamten allerlei dämliche Fragen auf Englisch stellte. Als er bereits im Begriff war zu gehen, fiel ihm noch eine letzte dumme Frage ein: „Stimmt es, dass sich deutsche Neonazis auf der Insel aufhalten, um Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer zu jagen?“ Er habe das im Internet gelesen. Unser gemütlicher Beamter schüttelte bedächtig den Kopf und wir warfen uns verstohlene Blicke zu. Kaum war der Norweger aus der Tür, kicherten wir so leise als möglich los, wären aber um ein Haar in ein schallendes Gelächter ausgebrochen. Gelogen hatte der Polizist nicht, denn wir waren weder Neonazis, noch waren wir wegen der ergiebigen Jagdgründe auf die Insel gekommen.
Was mittlerweile von linken Medien und über Social Media in Griechenland über uns verbreitet wurde, war hanebüchen. Wir seien nicht von organisierten „Antifaschisten“, sondern von wütenden Bürgern attackiert worden, hieß es. Ein mutmaßlich linksextremer Augenzeuge hatte nämlich das haarsträubende Gerücht in die Welt gesetzt, wir hätten die Bewohner der Stadt mit einer Wiederholung des Kalavryta-Massakers bedroht, woraufhin einem Mann der Geduldsfaden gerissen sei. Dieses Narrativ war zwar absolut lächerlich, zumal keiner von uns jemals zuvor von jenem deutschen Kriegsverbrechen auf der Peloponnes etwas gehört hatte, verfehlte aber bei den Bewohnern der Insel nicht seine Wirkung, wie sich noch zeigen sollte. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, wie sich jemand, der wissentlich so eine Unwahrheit verbreitet, noch im Spiegel anschauen kann. Ich könnte es nicht. Für Personen wie diesen angeblichen Augenzeugen, falls es ihn überhaupt gibt, heiligt der Zweck offensichtlich die Mittel. Ich halte es da lieber mit Martin Luther King, der aus dem Gefängnis in Birmingham schrieb, unsere Mittel müssten so rein sein wie die Ziele, die wir mit ihnen verfolgten.
Unser Aufenthalt bei der Polizei zog sich bis spät abends hin, weil man zunächst noch das Videomaterial anderer Überwachungskameras auswerten wollte, in der Hoffnung, die Angreifer darauf unvermummt und in höherer Bildauflösung zu sehen. Wir sollten sie dann identifizieren und anhand der Kleidungsstücke mit den Personen abgleichen, die auf dem Video der Sicherheitskamera zu sehen waren, welche einen Großteil des Kampfes aufgezeichnet hatte. Die Beamten sagten, unser Problem sei auch ihr Problem. Sie wollten auf ihrer kleinen Insel keine Antifaschläger, die marodierend durch die Stadt zögen und gezielt Personen angriffen. Die lange Zeit des Wartens wurde belohnt. Endlich sahen wir auch das Video, das den Straßenkampf zum Inhalt hatte, und konnten die Angreifer zweifelsfrei identifizieren. Einer nach dem anderen mussten wir uns die Videos von drei verschiedenen Überwachungskameras ansehen, wobei Mario und die beiden Österreicher recht ruhig blieben. Ich hingegen fieberte mit wie bei einem Preiskampf, jubelte vor Freude, wenn die Schläge saßen und fluchte, wenn ich selbst getroffen wurde.
Es war entweder vor oder nach der Auswertung dieser Videos, dass man uns in ein anderes Zimmer brachte, in dem wir uns ruhig verhalten sollten. Ich erblickte durch die Jalousien die beiden linken deutschen Journalisten, die wir im Flugzeug gesehen und denen wir die ganze Misere aller Wahrscheinlichkeit nach zu verdanken hatten. Sie unterhielten sich eine Weile mit dem Captain und unserem gemütlichen Beamten, bevor sie sich wieder verzogen. Kurz darauf stürmte der hagere Polizeichef in das Zimmer, in dem wir uns aufhielten, und hielt uns eine Standpauke. Zum ersten Mal zog einer der Polizisten uns gegenüber ein finsteres Gesicht. Er sagte, er habe erfahren, dass manche von uns in Deutschland sehr bekannt seien. Er habe auf der Insel schon viele Probleme und könne nicht noch mehr gebrauchen. Wenn wir die Wache verließen, könne er nicht für unsere Sicherheit garantieren, aber er könne uns andererseits auch nicht dazu zwingen, die Insel zu verlassen. Er habe Verständnis dafür, dass wir gekommen seien, um zu arbeiten, rate uns aber dringend davon ab, nach Moria zum Flüchtlingscamp zu gehen. Auch in der Innenstadt sollten wir uns zu unserer eigenen Sicherheit am besten nicht mehr blicken lassen.
Das war hart und unsere Arbeit damit beinahe unmöglich gemacht. Was sollte das noch für eine Reportage werden? Was für eine Bilderstrecke sollten die Österreicher nachhause bringen? Wir versprachen, die Stadt noch in derselben Nacht zu verlassen und beim Nachtessen zu beraten, was zu tun sei. Immerhin hatten wir seit dem spärlichen Frühstück nichts mehr zu uns genommen und es war etwa 21.30 Uhr, als wir die Wache endlich verließen. Allerdings verließen wir das Revier nicht, ohne dem Chef und seinen Kollegen noch einmal kräftig die Hände zu schütteln und ihnen alles Gute zu wünschen. An ihnen lag es nicht, dass wir hungrig waren, denn sie hatten uns gegen Abend oder am späten Nachmittag angeboten, auf ihre Rechnung Souvlaki zu bestellen.
Wir räumten unsere Zimmer in der Innenstadt und fuhren mit unseren Leihautos raus aufs Land, wo wir in einem Restaurant zu Abend aßen. Wir erkannten an der Reaktion der Gäste und der Unfreundlichkeit des Personals, dass man uns erkannte. Die Restaurantangestellte musste sich erst mit der Wirtin besprechen, ob sie uns bedienen solle. Augenscheinlich zu ihrem Missfallen wollte die Besitzerin des Speiselokals sich die Einnahmen nicht entgehen lassen. Alles, Getränke und Speisen knallte die Bedienung in einer Art und Weise auf den Tisch, dass dieser zu wackeln anfing. Auch die fünf Euro Trinkgeld, die Stefan und Fabian ihr am Ende zustecken wollten, wies die Frau mit einer Mischung aus Stolz und Starrsinn zurück. Sie war wohl der roten Propagandalüge aufgesessen, nach der wir in Mytilene ein zweites Kalavryta zu veranstalten gedroht hatten. Das Schafsfleisch und den Teller rote Beete ließ ich mir dennoch schmecken. Mario aß Lamm und die Österreicher eine Art Geschnetzeltes.
Nach dem Essen trafen wir uns noch ein letztes Mal mit unserem treuen Kontaktmann Alexander, dem Mario aus Dank für seine potenziellen Dienste eine Flasche Berliner Luft überreichte. Wir waren beim Abendessen darin übereingekommen, dass ein weiterer Verbleib auf der Insel zum Zwecke einer Reportage sich nicht mehr rentierte, da sich kaum noch Einheimische finden ließen, die mit uns sprechen würden. Für uns war gleichsam überall verbrannte Erde. Wir beschlossen daher, am nächsten Tag zurückzufliegen. Um halb eins in der Nacht langten wir in unserer spontan gebuchten Unterkunft an, die wir wenige Stunden später wieder verließen, um zum Flughafen zu fahren. In Athen angekommen, beschloss ich, einer griechischen Partei ein Interview zu geben, damit wenigstens auch in griechischer Sprache eine Gegendarstellung zum Narrativ der Antifa kursieren würde.
Einer Reporterin der linksliberalen Nachrichtenagentur CNN, die uns im Flugzeug erkannt hatte, gaben wir bereitwillig ein Interview, lehnten jedoch das Ablichten unserer Gesichter dankend ab. Der Rückflug am nächsten Morgen war um ein Vielfaches günstiger und innert kürzester Zeit hatten mir Mario und ein Freund aus Thessaloniki vier potenzielle Schlafmöglichkeiten in der Stadt verschafft. Als ich zum Interview eintraf, erkannte ich in dem Übersetzer meinen alten Kumpel Dimitris. Damit waren es fünf Schlafplätze, die mir in Athen zur Verfügung standen. Leider verzögerte sich allerdings die Datensicherung nach dem Interview und ergaben sich weitere Verwicklungen, die ich hier um der Kürze willen weglassen möchte, sodass ich erst spät bei meiner Bleibe für diese Nacht eintraf. Natürlich gebot es die Höflichkeit, nicht gleich ins Bett zu gehen, sondern erst ein Gespräch zu führen.
Es stellte sich heraus, dass einer meiner Gastgeber ebenfalls Geschichte studiert hatte. Wir sprachen über Friedrich Barbarossa und Lord Byron, über Landsknechte und schweizerische Reisläufer, über die griechischen Bildhauer Praxiteles, Poliklet, Skopas und Lysipp sowie deren berühmteste Statuen, über Alexander den Großen, die Verfassung der Athener, über Demosthenes und seine Reden, über Ciceros Philippicae und Mark Anton, über Pompeius und Cincinnatus, über attische Demokratie und römische Republik usw. usf., bis wir bei Carl Peters, der Berlinkonferenz und dem Scramble for Africa und schließlich bei Rhodesien landeten. Seine Schwester und seine Freundin, die uns nebenher bekochten, hörten aufmerksam zu. Es wurde wieder eine kurze Nacht …
Nach zweieinhalb Stunden Bettruhe klingelte der Wecker und ich nahm ein Taxi zum Flughafen. Das Gespräch mit dem Taxifahrer war etwas weniger wortreich, da er kaum Englisch sprach. Er fragte: „Country?“. Ich sagte „Germany“. Er fragte „Angela Merkel?“ Ich sagte: „Yes“ und schüttelte betrübt den Kopf. Darauf der Taxifahrer: „Merkel bad for Greece“. Ich antwortete: „Yes, Merkel is bad for Europe“. Darauf der alte Taxifahrer energisch: „Merkel bad for all!“. Ich nickte zustimmend und wiederholte seine Aussage ebenso nachdrücklich. Mehr sprachen wir nicht. Wir verstanden uns.
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