Politische Opposition mit einer Herrschaft des Verdachts niederzuhalten, ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.
Dietrich Murswiek
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Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat die AfD insgesamt zum „Verdachtsfall“ erklärt und – rechtswidrig – dafür gesorgt, dass im Wahljahr 2021 alle Welt davon Kenntnis erhielt. Tatsächlich beobachten darf er die Verdächtigen allerdings noch nicht – dies hat das Verwaltungsgericht Köln klargestellt. Unser Autor Jochen Lober, Rechtsanwalt in Köln, kann als Experte für die rechtliche Würdigung der Maßnahmen und das Selbstverständnis des Verfassungsschutzes gelten. Er kommentiert die Brandmarkung der AfD im TUMULT-Blog in drei Kapiteln. Das erste – im Februar vorgelegt und im Blog-Archiv nachzulesen – behandelt den jährlichen Verfassungsschutzbericht als politisches Kampfinstrument. Lesen Sie nun das zweite Kapitel. (Das dritte wird den Verfassungsschutz als »rechtsstaatswidrige Gedankenpolizei« kennzeichnen und Reformüberlegungen anstellen.)
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Die Maske ist gefallen: Am Mittwoch, den 3. März 2021 berichtete Der Spiegel darüber, dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Präsidenten der 16 nachgeordneten Landesämter davon in Kenntnis gesetzt habe, dass die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, die Alternative für Deutschland (AfD), im Bund ab sofort als rechtsextremistischer „Verdachtsfall“ geführt werde. Offiziell bekundet wird die damit erfolgte Hochstufung indes nicht. „Mit Blick auf das laufende Verfahren und aus Respekt vor dem Gericht äußert sich das Bundesamt für Verfassungsschutz in dieser Angelegenheit nicht öffentlich“, ließ die Kölner Behörde noch am selben Tag auf Anfrage verlauten.
Die mit der Zulässigkeit des Verfahrens befassten Richter des Verwaltungsgerichts Köln scheinen sich durch die Informationspolitik des Amtes offensichtlich nicht lediglich auf den Arm genommen, sondern geradezu verhöhnt gefühlt zu haben. Mit einer in dieser Deutlichkeit ungewöhnlichen Schärfe stellten die Richter in einer Pressemitteilung fest, „dass in einer dem BfV zurechenbaren Weise der Umstand der Einstufung der Antragstellerin als Verdachtsfall ‚durchgestochen‘ worden sei“. Mit Beschluss vom selben Tag untersagte das Gericht dem Bundesamt, die AfD als „Verdachtsfall“ einzustufen oder zu behandeln sowie eine Einstufung oder Behandlung als „Verdachtsfall“ erneut bekannt zu geben.
Diese Chuzpe hatte man dem Bundesamt bislang nicht zugetraut. Es handelt sich immerhin um eine Bundesbehörde. Die dort tätigen Beamten sind formal an Recht und Gesetz gebunden. Sämtliche Bemühungen der AfD hatten sich denn auch darauf konzentriert, dem Bundesamt gerichtlich untersagen zu lassen, selbst bekannt zu geben, dass es die AfD nunmehr als „Verdachtsfall“ behandeln wolle. Eine entsprechende Selbstverpflichtung gab die Behörde in dem beim Verwaltungsgericht Köln laufenden Gerichtsverfahren ab, weshalb es das Gericht auch unterlassen hatte, einen sogenannten „Hängebeschluss“ zu fassen. Publik wurden die internen Vorgänge dann allerdings durch einen Bericht im Spiegel. Zwar liegt damit ein juristisch angreifbarer Verstoß gegen ebenjene Stillhaltezusage noch nicht vor. Denn die berüchtigte ‚Drecksarbeit‘ fand im geheimdienstlichen Sinne ‚verdeckt‘ über die Presse statt. Etwaige Spurenlagen im Sinne einer personellen Verantwortlichkeit dürften beim Amt nicht ermittelbar sein.
Gründungsbedingte Unklarheit in der Aufgabenzuständigkeit
„Verfassungsschutz“!? Der Begriff war zu Beginn der Ära des Grundgesetzes unbekannt. In den Jahren 1948/49 waren auf deutscher Seite Begrifflichkeiten wie „Staatspolizei“, „Staatsschutz“ und eben auch „Gestapo“ geläufig. Der Verdacht, die Arbeit der letztgenannten Behörde fortzusetzen, sollte damals unter allen Umständen vermieden werden. Das Stichwort gaben dann nicht die Deutschen, sondern die an den parlamentarischen Beratungen zum Grundgesetz beteiligten US-amerikanischen Verbindungsoffiziere.
Von den amerikanischen Beratern kam die Anregung, den westdeutschen Geheimdienst „Verfassungsschutz“ zu nennen, vor dem Hintergrund der damals laufenden Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Grundgesetz. Mit dem neuen Begriff sollte Abstand zur Vorgängerorganisation der Gestapo als innerstaatlichem Repressionsapparat des Einparteienstaates gehalten werden. Dass es hier der Sache nach weiterhin um Gefahrenabwehr, also um eine polit-polizeiliche Tätigkeit ging, ergab sich bereits daraus, dass die alliierten Militärgouverneure am 14. August 1949 keinen Brief zum Schutz der Verfassung, sondern eben den sogenannten „Polizeibrief“ verfasst hatten.
Mit diesem wurde der Bundesregierung gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Regierung gerichtete Umtriebe einzurichten. Sie sollte keine Polizeibefugnis haben. Eine nähere Aufgabenbeschreibung unterblieb allerdings. Durch eine konkrete Regelung beseitigt wurde dieses Manko streng genommen bis heute nicht. Der Name besagt, dass die Behörde für den „Schutz“ der „Verfassung“ zuständig sei. Ab welcher Eingriffsintensität der Schutzmechanismus ausgelöst werden darf, ist mangels präziser gesetzlicher Kriterien ebenso wenig geregelt wie die Frage, welche sogenannten nachrichtendienstlichen Mittel das Bundesamt ab wann, in welchem Umfang und gegen wen einsetzen darf. Aus juristischer Sicht zeigt sich hier eine Grauzone, die sich teilweise einer gesetzlichen Regelung völlig entzieht. Immerhin zielt der im „Polizeibrief“ gebrauchte Begriff „umstürzlerische Tätigkeit“ wohl auf mehr als einen Missbrauch der Meinungsfreiheit und auf mehr als eine bloße Ordnungswidrigkeit.
Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass der Mangel an einer präzisen Definition der Aufgabenzuständigkeit letztlich auf die Gründung der Bundesrepublik durch die Alliierten als „Weststaat“ zurückzuführen ist (vgl. hierzu Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland, 2013). Bis Anfang der 1990er Jahre schlug sich diese vom Souveränitätsdefizit bedingte Unklarheit auch immer wieder in Bundestagsreden nieder, etwa wenn Abgeordnete von den Vorstellungen und Sorgen ihrer „ausländischen Freunde“ berichteten. Im Zuge der Wiedervereinigung verzichtete man zwar auf diese Pflichtübung, doch inhaltlich setzte sie sich in Form einer legitimatorischen Bezugnahme auf „Europa“ und die „westliche Wertegemeinschaft“ fort.
Geschichten und Zitate auf 1001 Seiten
„In einem 1001 Seiten starken internen Bericht“, schreibt der Spiegel, „begründet der Verfassungsschutz, warum er die AfD beobachten will.“ Obwohl es sich nur um eine Sammlung von Zitaten, also eine Materialsammlung, handelt, wurde sie von der Presse sogleich zu einem „Gutachten“ aufgewertet. Besser nachvollziehbar und „richtiger“ werden die Behauptungen des Verfassungsschutzes dadurch nicht. Vordergründig verdeckt wird dieser Umstand durch einen atavistischen Dauerrekurs auf den vermeintlichen Beelzebub, den „Rechtsextremismus“, der in der Materialsammlung durchgängig in Anspruch genommen wird.
Denn tatsächlich beschränkt sich die Materialsammlung auf eine Aneinanderreihung von Zitaten aus Reden, Facebook-Postings und Mitteilungen von AfD-Politikern. Es finden sich Aussagen von 302 Funktionsträgern, von denen 88 der Bundesebene zuzuordnen sind, weswegen deren Äußerungen vom Bundesamt deshalb als besonders schwerwiegend betrachtet werden. Offensichtlich haben die Betroffenen aber weit überwiegend nur von der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht. Die ihnen zugeordneten Äußerungen sollen einen vermeintlichen Gesamtplan der Partei belegen: aktiv gegen die Menschenwürdegarantie und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes verstoßen zu wollen. Maßgeblicher Einfluss hierbei wird dem formal aufgelöste „Flügel“ zugesprochen, und im Übrigen unterstellt man Kontakte zur Identitären Bewegung, zum Projekt „Ein Prozent“, zum Institut für Staatspolitik und zum Compact Magazin.
Der mit 1001 Seiten bezifferte Umfang der Materialsammlung des Bundesamts erinnert nicht nur in dieser Hinsicht an den Klassiker Tausendundeine Nacht. Beide Textsammlungen bestehen aus einer Rahmenerzählung mit Schachtelgeschichten. Zwar hat das Konvolut des Bundesamtes nicht die literarische Qualität der erotischen Schachtelgeschichten einer Scheherazade. In den Unterkapiteln der Materialsammlung findet sich allerdings ebenfalls eine Vielzahl von wundersamen und aufreizend anrüchig anmutenden Legenden. Ähnlich wie in den Erzählungen der Scheherazade wird hier der Eindruck erweckt, man wisse mehr von den jeweils beschriebenen Personen, als diese von sich selbst zu wissen imstande sind. Im Fall des Verfassungsschutzes ist dies ein recht verwegener Anspruch. Im „Gutachten“ werden viele „Personenprofile“ allein durch Zitate beglaubigt.
Bei der Belegsammlung des Bundesamtes handelt es sich im Grunde um eine Art von Collage. Aussagenschnipsel werden einander assoziativ zugeordnet, in der Absicht, ein einheitliches Gesinnungsbild zu suggerieren. Überzeugende Belege kommen auf diese Weise nicht zustande. Man legt einfach nahe, dass ein bestimmtes Zitat als Anhaltspunkt für eine Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung zu werten sei, ohne dass der Wortlaut eine solche Deutung plausibel begründen kann. Der Zusammenhang, aus dem die Zitate jeweils entnommen wurden, wird nicht erläutert, und ebenso wenig wird erklärt, warum man gerade jene 302 Personen für Protagonisten einer die AfD insgesamt kennzeichnenden Leitgesinnung hält.
Land- und Bundestagswahlen ante portas
Die Frage der Zulässigkeit einer Überwachung der größten Oppositionspartei mit Geheimdienstmethoden wird uns durch das Wahljahr 2021 begleiten. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik will das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Partei, die im Bundestag und in allen Landesparlamenten vertreten ist, als extremistischen Verdachtsfall behandeln. Praktisch erfüllt der Verfassungsschutz damit die Funktion eines Regierungsschutzes für das Kabinett Merkel. Wie dies rechtlich einzuordnen ist, hat das Verwaltungsgericht Köln in seinem Beschluss in aller Deutlichkeit dargelegt. Das Gericht wertet die Angelegenheit als nicht hinnehmbaren Eingriff „in die Chancengleichheit der Parteien“, weil Mitglieder der AfD nunmehr „mit nicht gänzlich unerheblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssten, allein aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit nachrichtendienstlich überwacht zu werden oder von solchen Maßnahmen jedenfalls mittelbar betroffen zu sein“. Es liegt demnach ein eklatanter Verstoß gegen einen zentralen Grundsatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor – nicht durch die AfD, sondern durch den „Verfassungsschutz“ selbst.
Dass ein Inlandsgeheimdienst mittels verdeckter Unterrichtung der Öffentlichkeit über eine bundesweite „Beobachtung“ die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag als faktisch unwählbar zu stigmatisieren versucht, kennzeichnet eine neue Eskalationsstufe im demokratischen Meinungskampf. Es ist dies ein gravierender Eingriff in den politischen Wettbewerb unmittelbar vor wichtigen Wahlen, ein Fall von Konkurrenzschutz gegenüber einem unliebsamen Mitbewerber. Denn eine neue Verdachtslage mit der Dringlichkeit, die Verfassung zu schützen, war ja nicht entstanden. Es geht also schlicht darum, den Status quo aufrechtzuerhalten. Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim hat in einem ähnlichen Zusammenhang einmal von einer „geschlossener Gesellschaft (closed shop) der Altparteien“ gesprochen, die sich „den Staat zur Beute machen“ wolle.
Dass es sich bei diesem Vorgang geradezu um eine Schmierenkomödie handelt, lässt sich wiederum dem Spiegel entnehmen. In der Ausgabe vom 6. März berichtete er, dass Bundesinnenminister Seehofer „der Kragen geplatzt“ sei. „Natürlich“, so Seehofer verbittert, sei wieder einmal geplaudert worden. Doch dienstrechtliche Konsequenzen für die Ausplauderei, bei der es sich nach § 353b StGB immerhin um Geheimnisverrat („Verrat von Dienstgeheimnissen“) handelt, sind offenbar nicht zu gewärtigen. Der Minister äußerte, es sei „nicht klug gewesen“, gleich nach der Entscheidung die Amtschefs in den Ländern per Videokonferenz zu informieren. Er kritisierte demnach nicht, dass das Bundesamt die Information bewusst „durchgestochen“ habe, sondern erörterte lediglich gewisse bekannt gewordene Modalitäten im Ablauf des Verfahrens. Schwieg er sich dabei etwa über den eigentlichen Coup in dieser Sache aus? Der Hauptvorwurf des Ministers zielt offenbar darauf, dass der Verfassungsschutz sich bei seinem verfassungsfeindlichen Vorgehen erwischen ließ.
Neue Eskalationsstufe: VS-Extremismus der Mitte
Lagen im Januar 2019 zu Lasten der AfD nur diffuse „erste tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgerichtete Politik“ vor, soll sich der „Verdacht“ zwischenzeitlich unerwartet verdichtet haben. Denn nunmehr behauptet das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass sogenannte gewichtige Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass es sich bei der AfD als Gesamtpartei um eine rechtsextremistische Bestrebung handele. Sogar „ein gewaltsamer Widerstand – zumindest bei Teilen der Partei – kann nicht prinzipiell ausgeschlossen werden“. Die Gewaltbereitschaft habe deutlich zugenommen: „Einem gewichtigen Teil der Partei“ gehe es nicht darum, einen auch mal polemischen Diskurs zu führen, „sondern eine grundlegende Ablehnung gegenüber der Bundesregierung und allen anderen Parteien sowie ihren Repräsentanten zu wecken oder zu verstärken.“
Dass der Verfassungsschutz mit Behauptungen dieser Art eine massive Ablehnung gegenüber der parlamentarischen Opposition weckt und verstärkt, wird nicht als extremistisch erkannt. Wohl deshalb nicht, weil dieser Extremismus nicht als „rechts“ oder „links“ klassifiziert werden kann, sondern der „Mitte“ zugeordnet werden müsste, die aber grundsätzlich nicht „extremistisch“ sein kann, weil sie ja „Mitte“ ist. Den Vorwurf eines möglichen „gewaltsamen Widerstands“ müsste der Verfassungsschutz mit konkreten Hinweisen auf bestimmte Abschnitte des Parteiprogramms der AfD belegen. Auch müsste er enthüllen, welche Mitglieder der AfD sich wann und wo dazu verabredet hatten, ihre Vorstellungen gegebenenfalls gewaltsam und nötigenfalls aus dem Untergrund heraus in die Tat umzusetzen. Da dem aufgelösten „Flügel“ in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle zugeschrieben wird, wären außerdem Hinweise auf vermutete oder bereits aufgefundene Waffenlager, Pläne zum Sturz der Bundesregierung, eine von Björn Höcke zusammengestellte ‚Feindesliste‘ und Ähnliches zu erwarten gewesen. In der Materialsammlung des Bundesamts findet sich dergleichen nicht.
Die der AfD angelasteten „Anhaltspunkte“ stammen nicht aus strafrechtlichen Ermittlungen. Es handelt sich um Zitate, rechtlich gesehen somit um Meinungsäußerungen, die öffentlich in Reden und über Medien der sozialen Kommunikation wie Facebook verbreitet wurden, also um die Beanspruchung der Meinungsfreiheit, die ein „Verfassungsschutz“ eigentlich „schützen“ müsste. Zwar mögen diese Äußerungen teilweise drastisch und überspitzt erscheinen. Als der Gesamtpartei zurechenbare Straftaten oder auch nur als Vorbereitungen zu Straftaten können sie jedoch keinesfalls gelten. So weit geht das Bundesamt auch (noch) gar nicht. Es stützt vielmehr die Vermutung, dass eine Vielzahl auslegungsfähiger Zitate insgesamt eben einen „Verdacht“ begründe, der wiederum eine Beobachtung erfordere.
Grenzen- und Inhaltslosigkeit sogenannter „Anhaltspunkte“
Würde ein zuständiger Amtsrichter in einer Strafsache den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Überwachung sämtlicher Telefonanschlüsse einer Großstadt für zulässig halten, weil das Telefonbuch dieser Stadt Namen von Teilnehmern mit den Vornamen „Adolf“ und „Eva“ enthält? Das ist natürlich eine sowohl hypothetische als auch rhetorische Frage. Die Beliebigkeit der Bündelung zusammenhangsloser Einzelphänomene, die vom Bundesamt als sogenannte Anhaltspunkte eingeschätzt werden, entspricht indes exakt der Logik jener Verdachtsbegründung.
Fragwürdig, ja fahrlässig ist die Begründung einer Verdachtslage durch irgendwie anzüglich erscheinende Zitate. Eines dieser Zitate lautet wie folgt „Wer sich fragt, warum Hitler nicht gestoppt wurde, der sollte sich auch fragen, warum Merkel noch regiert.“ Man hat diesen Satz offensichtlich deswegen in die Materialsammlung aufgenommen, weil er den Namen „Hitler“ enthält. Von Hitler wird hier jedoch eindeutig nicht in einem positiven Sinne gesprochen. Zwar setzen die Namensnennung und der indirekt angestellte Vergleich in gewisser Weise die Person der amtierenden Bundeskanzlerin herab. Es handelt sich aber ersichtlich um einen polemischen Vergleich, um eine scharfe Kritik an der Kanzlerin und ihrer Regierung, jedoch nicht um eine Herabwürdigung der Institution des Bundeskanzlers. Wenn das Bundesamt mit solchen sarkastischen Äußerungen die Beobachtung der AfD begründet, praktiziert es in unzulässiger Weise Regierungsschutz.
Große Bedeutung misst das Bundesamt auch dem Thema der Islamisierung zu. Muslime würden, so heißt es in der Materialsammlung, von der AfD „pauschal diffamiert, herabgewürdigt und ausgegrenzt.“ Ist dem tatsächlich so? Gewiss bezieht die AfD in Bezug auf die Einwanderung eine kritische Position. Das Grundgesetz verpflichtet jedoch keineswegs zu einer Politik der offenen Grenzen und unbegrenzten Einwanderung. Sieht man einmal vom Asylrecht ab, lässt sich aus dem Grundgesetz kein Anspruch Nichtdeutscher auf Einwanderung ableiten. Namentlich mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes kann ein Recht auf Einwanderung nicht begründet werden. „Mensch“ kann man überall sein, nicht etwa nur im räumlichen Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes. De facto und de jure gibt es keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, Einwanderung oder gar die Verwandlung Deutschlands in eine multikulturelle Gesellschaft mit absehbarem Minderheitsstatus für indigene Deutsche hinzunehmen.
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Die Stellungnahme Jochen Lobers wird in Kürze mit einem dritten Kapitel unter dem Titel »Rechtsstaatswidrige Gedankenpolizei – Reformüberlegungen« abgeschlossen. Der Autor wird hier u. a. der Frage nachgehen, ob und inwieweit heute Kritik an der Bundesregierung noch erlaubt ist.
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Über den Autor:
Jochen Lober, geboren 1970, studierte Rechtswissenschaften und politische Philosophie u. a. an den Universitäten Köln und Bonn. Als Rechtsanwalt ist er im Bereich des Straf- und Verfassungsrechts tätig und hier insbesondere mit Fragen der Meinungsfreiheit sowie des Minderheitenschutzes befasst. In diesem Zusammenhang vertrat er wiederholt Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht.
Letzte Buchveröffentlichung: Beschränkt souverän. Die Gründung der Bundesrepublik als "Weststaat" - alliierter Auftrag und deutsche Ausführung (Band 11 der Werkreihe von TUMULT). Lüdinghausen/Berlin, September 2020. Zu bestellen über www.tumult-magazine.net
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