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Jochen Lober: VERFASSUNGSWIDRIGER VERFASSUNGSSCHUTZ

Nach allen Wahrscheinlichkeitsregeln der veröffentlichten Meinung steht die Hochstufung der gesamten AfD zum „Verdachtsfall“ kurz bevor. Unser Autor Jochen Lober, Rechtsanwalt in Köln, kann als Experte für die rechtliche Würdigung der Maßnahmen und die Selbstdarstellung des Verfassungsschutzes gelten. Er kommentiert das offenbar Unvermeidliche in drei Kapiteln: 1. Kampfinstrument Verfassungsschutzbericht, 2. Regierungsschutz gegen die Verfassung, 3. Rechtsstaatswidrige Gedankenpolizei – Reformüberlegungen. Das erste Kapitel präsentieren wir heute; die beiden anderen folgen in den nächsten Tagen.



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Im politischen Berlin pfeifen die Spatzen es von den Dächern. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) will die gesamte AfD zum „rechtsextremen“ „Verdachtsfall“ erklären. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Am 26. September 2021 steht die nächste Wahl zum Deutschen Bundestag an. Zwar wurde die Frage einer möglichen Hochstufung der AfD zum „Verdachtsfall“ noch vor zwei Jahren, als man die Partei von Seiten der Behörde schon einmal öffentlichkeitswirksam und rechtswidrig als „Prüffall“ stigmatisierte, formal als „ergebnisoffen“ deklariert. Allerdings war die behördliche Verfahrensweise seitdem allein auf die Verdichtung von „tatsachenbasierten Verdachtslagen“ hin ausgerichtet, sodass eine andere Entscheidung als nahezu ausgeschlossen erschien.


Mit der Hochstufung der AfD zum sogenannten Verdachtsfall wird nicht nur der Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln gegen die Partei zulässig. Es wird vor allem der Druck auf ihre Mitglieder, Sympathisanten und Wähler erhöht. Die Einstufung ist ein Aufruf an alle Bürger und Wähler: Haltet euch von dieser Organisation fern! Die Warnung richtet sich dabei nicht nur gegen die AfD als Partei. Mit deren Hochstufung zum „Verdachtsfall“ einher geht notwendigerweise eine Ausweitung der Verdachtszone, d. h. der Überwachung des der Partei vorgelagerten politischen Raums. Von ihr potenziell betroffen sind alle Positionen des Denkens und Handelns, die bislang noch als unverdächtig galten, nunmehr jedoch eben in irgendeiner Weise mit von der AfD vertretenen Positionen in Verbindung gebracht werden können.


Das vom „demokratischen“ Medienkartell der AfD verabreichte Stigma des Extremismus- und Faschismusverdachts wird seitens des Bundesamtes demnächst um eine neue Variante erweitert werden. Zur Veranschaulichung der Illegitimität dieses Vorgangs wird nachfolgend zunächst auf das zurückliegende, teilweise gesetzeswidrige Agieren dieser unter der Bezeichnung „Verfassungsschutz“ firmierenden Bundesbehörde und seines zentralen Beweismittels, dem „Verfassungsschutzbericht“, eingegangen. Dass sich der Vorgang mit zunehmender Evidenz als ein gegen die Opposition gerichteter ‚Regierungsschutz gegen die Verfassung‘ erweist, wird in einem Folgebeitrag behandelt. Der Sache nach erscheint er jedenfalls als möglicher Auftakt zum Regime einer rechtsstaatswidrigen Gedankenpolizei, weshalb in einem abschließenden Kapitel Überlegungen darüber angestellt werden, auf welche Weise diese verfassungswidrige Praxis des Verfassungsschutzes in Zukunft gesetzeskonform überwunden werden könnte.



Kapitel 1:

Kampfinstrument Verfassungsschutzbericht


Die freiheitlich verfasste Demokratie der Bundesrepublik versteht sich selbst als „wehrhafte Demokratie“. Hierzu institutionalisiert sie eigens eine in der westlichen Welt einzigartige, autoritäre Komponente in Gestalt des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Zwar beschränkt sich dessen formelle Aufgabenzuweisung im Wesentlichen auf die „Sammlung und Auswertung von Informationen“. Öffentlich in Erscheinung tritt die Behörde jedoch vor allem mit der amtlichen Publikation des „Verfassungsschutzberichts“. Mit diesem nimmt sie für sich in Anspruch, die Bürger über bestimmte Gefahrenlagen aufzuklären und durch konkrete Namensnennungen vor bestimmten politischen Personen und Parteien zu warnen. Letzteren fällt dabei in der politischen Praxis die Rolle von Parias zu, von denen unter allen Umständen Abstand gehalten werden sollte.


In Form des Verfassungsschutzberichtes maßt sich das Bundesamt an, als eine Art von Demokratie-TÜV zu fungieren. Ähnlich wie im Politikunterricht der Schule werden in ihm vermeintlich demokratisch anstößige Vorgänge zusammengestellt und mit dem Etikett des „Extremismus“ versehen. Objektive Belege für umstürzlerische Planungen oder militante Aktionen finden sich in den Berichten allerdings kaum. Als Beweismaterial wird vielmehr eine Art von collagenartiger Zusammenstellung bunter Bilder und Zitate vorgelegt. Über strafwürdige Vorgänge und teilweise auch Gerichtsverfahren wird ebenfalls berichtet. Aus all dem ergibt sich in der Tat dann ein der AfD abträglicher, teilweise abstoßender Eindruck. Jedoch handelt es sich bei den Zitaten unter rechtlichem Gesichtspunkt nur um Meinungsäußerungen. Und die konkreten Vorgänge, auf welche sich die zitierten Äußerungen beziehen, werden im Bericht nur entfernt oder gar nicht erkennbar. Vor allem wird nicht plausibel gemacht, in welchem Ausmaß die Äußerungen symptomatisch für die Gesamtorganisation sein sollen.


Sowohl die Information, dass eine bestimmte Person oder Partei „beobachtet“ werde, als auch die Erwähnung dieser Maßnahme im „Verfassungsschutzbericht“ bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone. So galten die VS-Berichte früher nur als eine spezielle Art von Meinungsäußerung des jeweiligen Innenministers, der gerichtlich nur durch den Nachweis von Willkürverstößen, also de facto gar nicht, Einhalt geboten werden konnte. Vor allem die Behörden im größten Bundesland NRW machten sich diese Grauzone zunutze, als sie im Jahr 1995 begannen, die Wochenzeitung Junge Freiheit lediglich aufgrund „tatsächlicher Anhaltspunkte“ für einen „Verdacht“ mit jahrelanger Beobachtung und Berichterstattung zu überziehen. (Zur Begründung wurde beispielsweise angeführt, dass in der Zeitung eine Werbeanzeige der Partei Die Republikaner erschienen war.) Die Zeitung verteidigte sich gegen diese Maßnahmen nicht nur in einem zehnjährigen Rechtsstreit, und zwar erfolgreich. Das Bundesverfassungsgericht entschied in seinem Beschluss vom 24. Mai 2005 (Az. 1 BvR 1072/01) dann auch grundlegend, dass die namentliche Erwähnung im Verfassungsschutzbericht nicht mehr als rechtlich unverbindlich, sondern eben als juristischer Eingriff in die Grundrechte qualifiziert werden müsse.


Aufgrund dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt die Hürde für die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht heute höher. Etwaige Darstellungen müssen sich seitdem nicht mehr nur am wachsweichen Maßstab der Willkürkontrolle messen lassen. Da nun feststeht, dass es sich bei der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht um einen „Eingriff“ handelt, bedarf das hierauf gerichtete staatliche Handeln einer objektivierbaren Rechtfertigung, die grundsätzlich der vollen gerichtlichen Kontrolle auf Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterliegt. Welche praktischen Auswirkungen dieser Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz haben kann, zeigte sich im Jahr 2006. Gestützt auf die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wehrte sich die Partei Die Republikaner gerichtlich erstmals erfolgreich gegen eine ausführliche Darstellung in Verfassungsschutzberichten (OVG Berlin-Brandenburg, 6. April 2006 - 3 B 3.99 -). Dies zog letztlich die Beendigung der bundesweiten Beobachtung nach sich.



Amtlicher Missbrauch: Vorverlagerung der Verdachtsgrenze


Der letzte Versuch des Bundesamtes, die Grauzone eines möglichst allumfassenden „Verfassungsschutzes“ zu erweitern, liegt gerade einmal zwei Jahre zurück. Mit Pressemitteilung vom 15. Januar 2019 gab das Bundesamt bekannt, dass die AfD „nach Abschluss einer intensiven Prüfung, in der das BfV offen zugängliche Informationen – einschließlich einer Stoffsammlung der Landesbehörden für Verfassungsschutz – sorgfältig ausgewertet (habe)“, nunmehr als amtlicher „Prüffall“ bearbeitet werde. Des Weiteren wurde bekannt gegeben, dass deren Jugendorganisation Junge Alternative (JA) und die Teilorganisation „Der Flügel“ zum Verdachtsfall hochgestuft worden waren.


Die Ausrufung des „Prüffalls“, also die amtliche Mitteilung, dass man die Parteiorganisation, ihre Mitglieder und Programmatik nunmehr daraufhin durchleuchten müsse, ob ein Verdacht auf Verfassungswidrigkeit bestehe, war damals etwas Neues. Zwar wurde seitens der Behörde erklärt, dass die AfD selbst „kein Beobachtungsobjekt“ sei. Allerdings wurde die förmliche Feststellung des „Prüffalls“ mit der Unterstellung von „erste(n) tatsächliche(n) Anhaltspunkte(n) für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgerichtete(n) Politik der AfD“ gerechtfertigt.

Dass es sich bei der Kategorie der öffentlichkeitswirksam kommunizierten „Prüffallbearbeitung“ in rechtlicher Hinsicht um eine Ausdehnung der Verdachtslage auf bislang nicht als verdachtswürdig erachtete Politikfelder handelte, zeigte sich auch im Gebrauch des vagen Begriffs „Verdachtssplitter“ in der damaligen Pressemitteilung des BfV. Namentlich der Verfasser dieser Stellungnahme hat daher damals auf die Rechtswidrigkeit dieser Anmaßung hingewiesen: https://sezession.de/60072/prueffall-einsatz-ungesetzlichen-mitteln


Die eklatante Rechtswidrigkeit dieses Vorgangs wurde vom Verwaltungsgericht Köln nach kurzer Prüfung bestätigt. Es stellte sie im Eilverfahren mit Beschluss vom 26. Februar 2019 (Az. 13 L 202/19 = in: NVwZ 2019, 1060) fest. Maßgeblich für die Entscheidung war insbesondere, dass das Bundesverfassungsschutzgesetz für die Verlautbarung, eine Partei werde amtlich als „Prüffall“ bearbeitet, gar keine Rechtsgrundlage enthielt. Äußerungen von staatlichen Hoheitsträgern wie dem Bundesamt, durch welche in die Rechte einer politischen Partei eingegriffen werden, so führte das Gericht aus, bedürften nach ständiger Rechtsprechung einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung. Diese lasse sich nach der Gesetzeslage und unter Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers in dem vom Bundesamt genannten § 16 Abs. 1 BVerfSchG nicht erkennen.


Allerdings hatte der amtierende Präsident des Bundesamtes, Thomas Haldenwang, sich in der Begründung seines Vorgehens überraschenderweise gar nicht auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage bezogen. Die Zuweisung des in der öffentlichen Wahrnehmung die AfD stigmatisierenden Prädikats „Prüffall“ hatte er lediglich allgemein mit einer „Bewertung“ und einem seiner Behörde insoweit zustehenden „gesetzlichen Auftrag“ gerechtfertigt. Dass ein Auftrag jedoch keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ist, weiß jeder Jurist. Wäre die Bundesrepublik wirklich eine lebendige Demokratie, hätte dieser Vorgang einen Entrüstungssturm in der Presselandschaft auslösen müssen. Zu erwarten gewesen wäre auch die sofortige Versetzung ebenjenes Präsidenten in den Ruhestand, denn ein derartiger gesetzwidriger Eingriff in den demokratischen Prozess durch eine Bundesbehörde kann nur als Skandal qualifiziert werden. Geschehen ist in dieser Hinsicht allerdings nichts.



Der Verdachtsfall als „drohendes“ Ereignis


Sowohl in der öffentlichen Selbstdarstellung der AfD als Partei als auch in den politisch-programmatischen Anwürfen ihrer politischen Mitbewerber hat sich in den letzten zwei Jahren im Wesentlichen nichts geändert. In einem bekannt gewordenen Zwischengutachten kam das Bundesamt im Jahr 2020 sogar zu dem Ergebnis, dass das Programm dieser Partei mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Da sich zwischenzeitlich auch die gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit des Bundesamtes nicht geändert haben, müsste dies eigentlich auch eine Hochstufung der AfD als „Verdachtsfall“ im neuen Verfassungsschutzbericht von vornherein ausschließen. Denn wenn das Tatsachenmaterial keine öffentliche Kennzeichnung als „Prüffall“ rechtfertigt, kann es in juristischer Hinsicht eine Hochstufung zum „Verdachtsfall“ wohlerst recht nicht veranlassen.


Dass es dennoch anders kommen wird, lässt die bereits seit Tagen unter Hochdruck laufende Vorberichterstattung in der Hauptstadtpresse vermuten. Der Tenor ist einhellig: Die Hochstufung der AfD zum „Verdachtsfall“ wird allgemein erwartet und – in Zeiten des Haltungsjournalismus – vielfach offen herbeigesehnt. Die AfD ihrerseits hat in den vergangenen Monaten mehrere Vorkehrungen getroffen, um der „Hochstufung“ von vornherein den Boden zu entziehen. Man denke an die Auflösung des „Flügels“ um Björn Höcke im Frühjahr 2020, das Vorgehen gegen bestimmte, Anstoß erregende Funktionsträger und die Ermahnung der Mitglieder durch die Parteiführung, nicht „immer aggressiver“, „immer derber“, „immer enthemmter“ aufzutreten.


Am 18. Januar 2021 hat die Partei schließlich eine „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ veröffentlicht. Es handelt sich um eine Art Grundsatzerklärung, mit der die Parteiführung den absehbaren Hauptvorwurf des Verfassungsschutzes, die AfD vertrete einen ausgrenzenden, biologistisch determinierten Volksbegriff, zu entkräften versucht. Sämtliche führenden Repräsentanten der Partei, unter ihnen der Thüringer Landeschef Björn Höcke, stellen hier fest, dass alle Personen mit deutschem Pass zum Staatsvolk gehörten. Ob jemand erst vor Kurzem eingebürgert worden und aus welchem Land er gekommen sei, spiele dabei keine Rolle. Denn: „Er ist vor dem Gesetz genauso deutsch wie der Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie, genießt dieselben Rechte und hat dieselben Pflichten.“


Allerdings, so heißt es in der Erklärung weiter, sei es ein legitimes politisches Ziel, „das deutsche Volk, seine Sprache und seine gewachsenen Traditionen langfristig erhalten zu wollen“. Der Verfassungsschutz wird wohl eben darin (!) Anhaltspunkte für weitere Spekulationen über die Verfassungstreue der AfD ausfindig machen. Die Partei selbst sieht sich im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses erkenne in Bemühungen, die geschichtlich gewachsene nationale Identität zu erhalten, keinen Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.


Im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Hochstufung zum „Verdachtsfall“ bemüht sich die AfD zugleich um gerichtlichen Rechtsschutz. So gingen am 21. Januar 2021 beim Verwaltungsgericht Köln zwei entsprechende Klagen gegen das Bundesamt ein. Dem ersten Klageantrag (Az. 13 K 326/21) zufolge soll das Gericht dem BfV aufgeben, es zu unterlassen, „die Klägerin als ‚Verdachtsfall‘ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen". Außerdem soll es der Behörde untersagt werden, solches öffentlich bekanntzugeben. Weiter soll das Bundesamt die AfD nicht als „gesicherte extremistische Bestrebung einordnen, beobachten, behandeln, prüfen und/oder führen“ beziehungsweise verlautbaren. Für den Fall der Zuwiderhandlung soll das Gericht der Bundesrepublik ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 10.000 Euro androhen.


Die zweite AfD-Klage befasst sich mit der Berichterstattung und Bezifferung der Mitgliedsstärke des sogenannten Flügels der Partei (Az. 13 K 325/21). Ob dieser 7.000 Mitglieder hatte oder nicht, dürfte für die weitere politische Entwicklung aber wohl nicht von Belang sein. Den diesbezüglichen Eilantrag hat das Verwaltungsgerichts Köln jedenfalls bereits mit Beschluss vom 26. Januar 2021 (Az.: 13 L 104/21) zurückgewiesen. Prozessual handelt es sich dabei zwar um eine Niederlage. Mangels erkennbarer Relevanz für das Hauptverfahren dürfte sie allerdings kaum ins Gewicht fallen.


Im eigentlichen Haupt- und Eilverfahren, in dem die AfD sich gegen ihre Hochstufung zum „Verdachtsfall“ wendet, hat das Bundesamt mittlerweile die Zusage gegeben, bis zur Entscheidung des Gerichts von weiteren Maßnahmen gegen die Partei abzusehen (Az. 13 L 105/21). Würde es der Klage der AfD an Substanz mangeln, wäre eine solche Einlassung nicht zu erwarten gewesen. Die Prozessvertreter der Partei beschreiben die drohende offizielle Hochstufung der AfD zum „Prüffall“ nämlich durchaus zu Recht als gravierenden Einschnitt: „Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Rechtsverletzungen und dem damit verbundenen, nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Antragstellerin, aber auch für den bundesdeutschen demokratischen Willensbildungsprozess, wird zudem gemäß Art. 19 Abs. 4 GG beantragt, die Antragsgegnerin unverzüglich zur Abgabe einer Stillhaltezusage aufzufordern, hilfsweise einen entsprechenden Hängebeschluss zu erlassen.“



Beobachtungsfrage in der juristischen Hängepartie


Aus gutem Grund sieht sich die AfD durch die drohende Hochstufung zum „Verdachtsfall“ in ihrem Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verletzt. Denn mit der behördlichen Kategorisierung als „Prüffall“ sind „eine negative Abschreckungswirkung“ und zahlreiche Nachteile verbunden. „Immerhin“, heißt es in dem Schriftsatz, „dürfte die Beklagte/Antragsgegnerin sodann nachrichtendienstliche Mittel gegen eine Oppositionspartei einsetzen.“ Die hieraus resultierenden Verletzungen der Art. 3, 21 GG und v.a. Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) seien „äußerst schwerwiegend, da die gezielte Einflussnahme zulasten von politischen Parteien einen massiven Eingriff in die grundgesetzliche Konzeption des Art. 21 GG darstellt und die Grundpfeiler des demokratischen parlamentarischen Rechtsstaates in Frage stellt".


Dass die zunächst für den 25. Januar 2021 vorgesehene Bekanntgabe der gemeinsamen Pressekonferenz des Bundesinnenministeriums (BMI) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) bislang nicht zustande gekommen ist, kann als erster Erfolg der politischen und juristischen Strategie der AfD eingeschätzt werden. Das Vorhaben des Verfassungsschutzes ist also keine leichte Übung. Eine solche hatte Thomas Haldenwang offensichtlich erwartet, als er noch im Dezember des vergangenen Jahres auf der Innenministerkonferenz verkündete, der Einfluss des „völkischen Lagers“ in der AfD wachse stetig – was gemeinhin als Vorankündigung für die nunmehr anstehende Einstufung verstanden wurde. Man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass es sich bei der betroffenen Partei um die größte Oppositionspartei im Bundestag handelt. Wenn eine Oppositionspartei – eine Regierungspartei ohnehin nicht! – einfach zum „Verdachtsfall“ für die Demokratie erklärt werden kann, werden deren Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess eklatant beeinträchtigt. Denn das BfV versucht nichts anderes, als eine Art von Verbotsersatzregime zu etablieren, und ein solches würde das Fundament der Checks and Balances der Demokratie erschüttern. Aus ebendiesem Grund kennen die liberalen Demokratien des Westens solche Sonderwege der Oppositionsausbootung nicht.



Dieser Artikel wird nach der ausstehenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln sowie der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts fortgesetzt. Bis dahin wird die Lektüre folgender Veröffentlichungen zum Thema empfohlen: Josef Schüßlburner: „Verfassungsschutz“. Der Extremismus der politischen Mitte. Ders.: Scheitert die AfD? Dietrich Murswiek: Verfassungsschutz und Demokratie.



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Über den Autor:


Jochen Lober, geboren 1970, studierte Rechtswissenschaften und politische Philosophie u. a. an den Universitäten Köln und Bonn. Als Rechtsanwalt ist er im Bereich des Straf- und Verfassungsrechts tätig und hier insbesondere mit Fragen der Meinungsfreiheit sowie des Minderheitenschutzes befasst. In diesem Zusammenhang vertrat er wiederholt Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht.

Letzte Buchveröffentlichung: Beschränkt souverän. Die Gründung der Bundesrepublik als "Weststaat" - alliierter Auftrag und deutsche Ausführung (Band 11 der Werkreihe von TUMULT). Lüdinghausen/Berlin, September 2020. Zu bestellen über www.tumult-magazine.net




 

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