Jürgen Habermas, der dieser Tage seinen 90. Geburtstag begeht, machte Stalin noch lange post festum in erster Linie weder Todeslager noch Holodomor zum Vorwurf, sondern die "bürokratische Entstellung" des Sozialismus. Warum man im öffentlichen Diskurs über derlei zweifelhafte Positionierungen galant hinwegzugehen, auf Martin Heideggers NS-Intermezzo jedoch regelmäßig empörungsbereit zurückzukommen pflegt, fragt sich und alle unser Autor Jörg Gerke.
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Zwei Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, Martin Heidegger und Max Horkheimer, haben auf totalitäre politische Strukturen reagiert, Martin Heidegger auf den NS-Staat und Max Horkheimer auf das sowjetische Rußland.
Während aber Horkheimer bis heute als leuchtendes Beispiel eines kritischen Intellektuellen Beachtung und Beifall findet, wird Heidegger regelmäßig in mehr oder minder investigativen Publikationen wahlweise als NS-Philosoph, Faschist oder Vordenker des NS-Staates bezeichnet.
Die unterschiedliche Würdigung in Deutschland wird jedoch dadurch abgemildert, daß das denkerische Werk Heideggers so unhintergehbar präsent ist, daß er der vermutlich meistgelesene und -diskutierte Philosoph des 20. Jahrhunderts ist. In Frankreich und Japan, vielleicht sogar in den USA, gilt er als Meisterdenker und einflussreichster Philosoph des 20. Jahrhunderts (Neske und Kettering, 1988; Figal, 2007).
Die politischen Gastspiele Martin Heideggers trüben dieses Bild bekanntlich. Nach der Machtergreifung wurde er 1933 Rektor der Universität in Freiburg im Breisgau, trat in die NSDAP ein, zog sich allerdings bald bereits von diesem Posten zurück. Heidegger hat also kurzzeitig mit dem NS-System kollaboriert und diesem dabei seinen schon damals berühmten Namen geliehen. In diese Zeit fällt auch seine „Rektoratsrede“, in der er sich der Terminologie des NS-Systems nähert. Von der NS-Ideologie selbst war Heidegger auch in dieser Zeit weit entfernt. Allemann (1969, 2. Auflage 1994) und Vietta (1989) haben dies eindringlich aufgezeigt.
In einem letzten Gespräch, kurz vor seinem Tode, hat Hans Georg Gadamer, Zeitgenosse und Schüler Heideggers, wörtlich gesagt (Gadamer/Vietta, 2002, S. 40: „Der Bruch (Heideggers, J.G.) mit dem NS-Regime begann in Wahrheit schon bei seinem ersten Besuch in Karlsruhe“ (Treffen der höheren Beamtenschaft, einberufen vom Gauleiter R. Wagner, erstes Treffen, 1.6. 1933 s. Gadamer, Vietta, S. 100). Spätestens der Rücktritt vom Rektorat beendete die Kollaboration. Seine Schriften nach 1934 dokumentieren dies gut. Dennoch wird Heidegger bis heute immer wieder als NS-Philosoph diskreditiert.
Ein bedeutsamer Grundpfeiler der Diskreditierung wurde 1953 errichtet, als Heidegger seine Vorlesung aus dem Sommersemester 1935 selbst veröffentlichte (Heidegger, 1935, 6. Auflage, 1998, Einführung in die Metaphysik).
In der FAZ erschien damals eine Rezension dieser Veröffentlichung durch den Philosophiestudenten Jürgen Habermas (wiederabgedruckt in Habermas, 1971 und 1987). Habermas will in der Rezension auf das Politische in Heideggers Vorlesung abzielen. Die Vorgehensweise dabei charakterisiert Habermas folgendermaßen: „Die Weise unserer Betrachtung ist in dem Sinne unsachlich, als sie nicht auf den sachlichen Zusammenhang, sondern auf die Physiognomie der Vorlesung zielt.“ (Habermas, 1987, S. 69). Der unsachliche Beitrag soll also auf die Physiognomie zielen. Diese kann in philosophischem Sinn definiert werden als „Beurteilung von Menschen, Tieren und Landschaften nach ihrer natürlichen Beschaffenheit.“ (Hoffmeister, 1955, S. 471)
Auch wenn Physiognomie in übertragenem Sinn verstanden wird, eine unsachliche Betrachtung der Beschaffenheit einer Vorlesung will also eine angemessene Einschätzung des Heideggerschen Denkens geben?
Diese Rezension 1953 hat Habermas später nicht als leichtfertige Jugendäußerung revidiert, sondern in verschiedene Auflagen der „Philosophisch-politischen Profile“ aufgenommen (Habermas, 1971; 1987) und damit an der frühen Rezension festgehalten.
Aus dem Umkreis der kritischen Theorie ist es auch Adorno, der sich polemisch mit Heidegger auseinandergesetzt hat. Eine ausführliche Darstellung dazu hat Hermann Mörchen (1980; 1981) beigetragen, die wesentlich das Diffamierende an Adornos Heidegger-Darstellung aufzeigt.
Herbert Marcuse dagegen, ein weiterer Vertreter der Kritischen Theorie, hat zwar schon die Rektoratsrede Heideggers kurz nach ihrer Veröffentlichung 1933 mit Recht in der Zeitschrift für Sozialforschung kritisiert, dann aber später sehr genau Heideggers Technikkritik rezipiert. In dem Buch „ Der eindimensionale Mensch“ sind die Bücher „Holzwege“ und „Vorträge und Aufsätze“ von Heidegger zitiert, die Publikationen, in denen sich Heidegger mit der neuzeitlichen Technik auseinandersetzt.
Die Kritik an Heidegger im Kontext seines kurzzeitigen Engagements im NS-Staat hat nach Habermas und Adorno nicht nachgelassen, sondern wurde in den letzten Jahrzehnten gesteigert, ohne daß sie sich auf das Denken und Werk Heideggers eingelassen hätte. Vietta (1989) und Allemann (1994) haben detailliert gezeigt, daß bei der Diskreditierung Heideggers vielfach mit unbewiesenen Unterstellungen gearbeitet wurde.
Farias (1989) hat in einer weit beachteten Publikation „Heidegger und der Nationalsozialismus“ behauptet, daß dieser unverändert Nationalsozialist geblieben sei. Der Politologe A. Schwan, der sich ausführlich mit der politischen Philosophie Heideggers auseinandergesetzt hat (Schwan, 1989, 2. Auflage), hat sein eher kritisches Urteil zu Heidegger nach dem Erscheinen der „Beiträge zur Philosophie- Vom Ereignis“ (Heidegger, 1989) revidiert. Mit Bezug auf das Buch von V. Farias schreibt Schwan in einem Beitrag für die Zeitung Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 28.4. 1989: „ Die Beiträge sind ein einziges Dementi für Viktor Farias Behauptung, Heidegger sei anhaltend und im ideologischen Sinne ein überzeugter Nationalsozialist gewesen.“
Die Beiträge zur Philosophie wurden zwischen 1936 und 1939 geschrieben (Vietta, 1989, S. 70). Zu dieser Zeit war Heideggers Denken schon von einer großen Distanz zum NS-Staat bestimmt. In den Beiträgen argumentiert der Philosoph an einigen Stellen ausdrücklich gegen einen Biologismus und weist damit auch die Rassentheorien des NS-Regimes zurück, einen der zentralen Pfeiler der NS-Ideologie. Dies dürfte der vermutlich entscheidende Aspekt für die Einschätzung von Schwan zu Heidegger im Jahr 1989 sein.
Zu der kurzzeitigen Kollaboration Heideggers mit dem NS-Staat während seiner Rektoratszeit hat der italienische Philosoph Franco Volpi wohl das Entscheidende gesagt (Volpi, 2007): „Heidegger ist wohl Analphabet in politicis gewesen, aber Meister in der Anamnese von Ungesagtem und Unhinterfragtem.“
Dies entschuldigt nichts, weist aber den Weg in eine angemessenere Rezeption Heideggers.
Faye (2009) steigert die Kritik an Heidegger gegenüber seinen Vorgängern noch weiter und fordert die Entfernung von Heideggers Werken aus Bibliotheken und ein Verbot von Lehrveranstaltungen zu Heideggers Werk. Begründet wird dies damit, es handle sich nicht um Philosophie, sondern um nationalsozialistische Propaganda. Diese Infamie wurde dankbar von einigen Vertretern der akademischen Welt aufgenommen, beispielsweise vom mittlerweile verstorbenen Honorarprofessor ausgerechnet an der ehemaligen Universität Heideggers in Freiburg/Br., W. van Reijen. Wer darüber hinaus eine Biographie von Heidegger vorlegt (van Reijen, 2009), dabei den politischen Heidegger in den Vordergrund stellt, der kann nicht auf die Beiträge von Vietta (1989) und Allemann (1994) verzichten. Aber genau dies hat van Reijen getan und damit gezeigt, daß der politische Teil seiner Heidegger-Biographie die Sache bewusst nicht umfassend behandelt.
- Max Horkheimer -
Auf der anderen Seite steht eine vermeintliche öffentliche Lichtgestalt eines Intellektuellen, Max Horkheimer, bis 1933 Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt und einer der Väter der kritischen Theorie.
Horkheimer und das Frankfurter Institut wurden nach der NS-Machtergreifung verfolgt und konnten sich nur durch eine vorausschauende Institutspolitik letztlich in die USA retten. Zentral und wegweisend für die kritische Theorie war Horkheimers Artikel in der Zeitschrift für Sozialforschung von 1937: „Traditionelle und kritische Theorie“ (wiederabgedruckt z.B. in Horkheimer, 1977, S. 521- 575).
Horkheimer kommentierte früh die Entwicklung im sowjetischen Russland. Im Jahre 1934 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Heinrich Regius in der Schweiz Notizen, für die er auch einen Beitrag aus dem Jahre 1930 aufnahm, der seine Einschätzung von (Sowjet-)Russland wiedergab, an der er bis zur Veröffentlichung 1934 offenbar festgehalten hat.
„Im Jahre 1930 wirft die Stellung zu Russland Licht auf die Denkart der Menschen. Es ist höchst problematisch, wie die Dinge dort liegen. Ich mache mich nicht anheischig zu wissen, wohin das Land steuert, zweifellos gibt es viel Elend. Wer Augen für die sinnlose, keineswegs durch technische Ohnmacht zu erklärende Ungerechtigkeit der imperialistischen Welt besitzt, wird die Ereignisse in Russland als den fortgesetzten, schmerzlichen Versuch betrachten, diese Ungerechtigkeit zu überwinden, oder er wird klopfenden Herzens fragen, ob dieser Versuch noch andauert.“
(Horkheimer, 1934, zit. nach W. Post, 1981, S. 112).
Man muß wissen, was in Russland bis 1930 und bis 1934 geschehen ist, um das Ungeheuerliche dieser Horkheimerschen Beschönigung der sowjetischen Verhältnisse zu begreifen.
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden nicht nur die Gruppen der Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Trotzkisten exzessiv verfolgt, es begann der Aufbau eines breiten Systems von Straf- und Arbeitslagern (GULAG) und es begann ab 1928/29 die systematische Verfolgung der Bauern (Kulaken). Der französische Historiker Werth hat dies folgendermaßen zusammengefasst (Werth, 1998, S. 165):
„Wie die heute zugänglichen Archive bestätigen, war die Zwangskollektivierung des Agrarlandes ein regelrechter Krieg des Sowjetstaates gegen eine Nation von kleinen Betrieben. Mehr als zwei Millionen Bauern wurden deportiert, darunter 1,8 Millionen zwischen 1930 und 1931. Sechs Millionen verhungerten und Hunderttausende starben während der Deportation… Der Krieg war mit dem Winter 1929/30 keineswegs zu Ende, sondern dauerte mindestens bis in die Mitte der dreißiger Jahre. Sein Höhepunkt war die furchtbare Hungersnot von 1932/33, welche die Behörden mit Absicht verursacht hatten, um den Widerstand der Bauern zu brechen.“
Und da veröffentlicht Horkheimer 1934 Sätze, die das Experiment in Russland noch ernsthaft als Versuch bezeichnen, die furchtbare Ungerechtigkeit zu überwinden. Konnte Horkheimer damals, 1934 von den Verbrechen des sowjetischen Staates wissen? Sicher, Diplomaten aus westlichen Ländern brachten Berichte über das, was in Russland geschah, in den Westen. Sie brachten auch Bilder von Bauern, die in den Straßen, beispielsweise von Charkow 1933 verhungerten, wobei die vorbeigehenden Passanten schon so abgestumpft waren, daß sie auf die Verhungernden nicht mehr reagierten.
Und selbst wenn man Horkheimer konzediert, daß er 1934 noch nicht das ganze Ausmaß des sowjetischen Terrors erkennen konnte, so zeigen seine Aussagen zum Sowjetsystem nach 1945, daß er seine Haltung nicht wesentlich verändert hat. Er hat sich der Selbstkritik entzogen und eine neue Charakterisierung des sowjetischen Systems gewählt: „das was Karl Marx sich als Sozialismus vorgestellt hat, ist in der Tat die verwaltete Welt“ (Horkheimer, 1981, S. 171, Hervorhebung J.G.).
Solche oder ähnliche Formulierungen wie erstarrter Bürokratismus kennzeichnen nach 1945 das Sowjetsystem für Horkheimer.
Erstarrte Bürokratie oder verwaltete Welt als Charakterisierung für ein politisches System, das lange Zeit ein weit verzweigtes System von Arbeits- und Todeslagern unterhielt, das umfassend große Gruppen der Gesellschaft verfolgte und vernichtete, mit der Verantwortung für eine zweistellige Millionenzahl an Toten?
Horkheimer hat noch zu Lebzeiten einer Neuauflage alter Aufsätze ein aus dem Jahr 1968 stammendes Vorwort vorangestellt (Horkheimer, 1977). Darin zitiert er aus dem „Roten Buch“ von Mao Tse-Tung wörtlich: „Will man einen Gegenstand wirklich kennen, dann muß man alle Seiten, alle Beziehungen und Vermittlungen erfassen und studieren.“
Dieses ohne einen wesentlichen Zusammenhang belanglose, wenig informative Zitat hat Horkheimer offenbar gewählt, um im Jahr 1968 seine mentale Verbindung zu den Studentenprotesten zu zeigen. Es ist eine peinliche Anbiederung, aber nicht nur dies. Im Rahmen der chinesischen Variante der Kollektivierung der Landwirtschaft verhungerten zwischen 1958 und 1962 nach unterschiedlichen Angaben zwischen 36 und 55 Millionen Menschen (Dikötter, 2014). Im Rahmen der darauf folgenden Kulturrevolution wurden zwischen 20 und 30 Millionen Menschen in China verfolgt. Horkheimer hat also nach 1945 die Verharmlosung von Terror, Verfolgung und Ermordung in den sozialistischen Staaten nicht aufgegeben, sondern weiter betrieben.
So kritisch sich Habermas gegenüber Heidegger wegen seines Rektorates während der NS- Zeit zeigte, so bereitwillig übernahm er die beschönigende Charakterisierung des sowjetischen Systems von Horkheimer. Anlässlich der Neuedition von Bänden der Zeitschrift für Sozialforschung schrieb er unter der Überschrift: -Die Frankfurter Schule in New York- wörtlich (Habermas, 1987, S. 412. 413):
„Die ausgebliebene Revolution, der Erfolg der faschistischen Diktatur in Deutschland, die bürokratische Entstellung des Sozialismus im stalinisierten Russland, das waren zeitgeschichtliche Ereignisse, die den Sinn für die psychischen Vermittlungen zwischen Bewußtseinswandel und sozialökonomischen Veränderungen geschärft haben.“
Könnte man für Horkheimers verniedlichende Charakterisierungen des sowjetischen Systems noch ein gewisses Verständnis aufbringen, schließlich war es die Verdrängung der klaffenden Diskrepanz zwischen der Hoffnung auf eine Verwirklichung der marxistischen Überwindung des menschenverachtenden Kapitalismus und der Realität des sowjetischen Systems, der sich Horkheimer nach 1945 nicht stellte, so ist Habermas' Formulierung der bürokratischen Entstellung des Sozialismus noch in den 1980er Jahren so geschichtsverzerrend, daß es erstaunt, daß ihm dies nicht im öffentlichen Diskurs vorgehalten wurde.
Habermas hätte von Hannah Arendt lernen können, von der er einige ihrer Publikationen auch besprochen hat (Habermas, 1987, S. 223, ff.). Aber ausgerechnet das Buch, das sich mit NS- Staat und stalinistischer Sowjetunion unter dem Titel totaler Herrschaft/Totalitarismus beschäftigt (Arendt, 1955) und eben die gemeinsamen Strukturen beider Systeme herausarbeitet, wird nicht besprochen, sondern nur am Rande erwähnt. Die teilweise überhebliche Kritik, die Habermas an Arendt übt, erscheint dadurch motiviert, daß diese NS-System und Sowjetrussland unter dem Oberbegriff des Totalitarismus zusammenfasst, und damit die Lebenslüge der kritischen Theorie zur bürokratischen Entartung des Sozialismus offenlegt.
Horkheimer beschönigte auch nach 1945 das stalinistische System und seine Variationen als bürokratische Entgleisung und war eher affirmativ in Bezug auf die maoistische Variante des Totalitarismus in China. Dies hatte aber keinen Einfluss auf seinen Ruf in Deutschland nach 1945.
Heidegger verstrickt sich in der Anfangszeit des Regimes, ziemlich genau ein Jahr lang, als Universitätspräsident in den NS-Staat und legitimierte diesen nach außen auch mit seinem Renommee. Für Heidegger hat dies dazu geführt, daß er, bei aller großen und wachsenden Rezeption im Ausland, in Deutschland im offiziellen akademischen Diskurs weitgehend verdrängt ist, wie 2016 der Vorsitzende der Martin-Heidegger Gesellschaft, Harald Seubert feststellte.
Das hat auch zu Forderungen nach der Entfernung von Heideggers Büchern aus Bibliotheken und zur Diskussion über ein Verbot von Lehrveranstaltungen über das Wirken des Philosophen geführt. Dies ist ein Vorbote von universitären Zensurprozessen, die in westlichen Ländern längst nicht mehr unbekannt sind und mittlerweile auch vermehrt renommierte Wissenschaftler treffen.
Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, Heidegger politisch diskreditiert und damit philosophisch nicht mehr von Belang. Dem ist allerdings nicht so: vielmehr kann von einer dritten Heidegger- Renaissance gesprochen werden, nach der ersten Phase der Berühmtheit durch Erscheinen von Sein und Zeit (1927) und nach der großen philosophischen Bedeutung, die Heidegger in den 1950er Jahren in Deutschland zuwuchs.
- Heidegger II -
Stünde es so um Heidegger, daß ihm im gegenwärtigen philosophischen Diskurs keine Relevanz heute mehr zukäme, so wäre eine Diskussion über ihn allenfalls ein Unternehmen für Ideengeschichtler. Daß dem aber nicht so ist, belegen auch diejenigen, die einerseits Nachfolger von Horkheimer und Adorno sind, andererseits aber auch die philosophischen Entwicklungen aus Frankreich und vor allem aus den USA aufgenommen haben, beispielsweise Jürgen Habermas und Albrecht Wellmer.
Habermas konnte die Rezeption von Heideggers Denken auch nach dessen Tod nicht umgehen, dies dokumentieren seine späten Auseinandersetzungen mit Heidegger (Habermas, 1985; 1999). Wellmer hat seine letzten Vorlesungen an der FU Berlin (SS 2000, WS 2000/01) veröffentlicht (Wellmer, 2004). Darin stellt er die anglo-amerikanische Sprachphilosophie mit den Repräsentanten Davidson und Wittgenstein der kontinentalen Philosophie gegenüber, mit Heidegger und seinem Nachfolger Hans-Georg Gadamer als herausragenden Repräsentanten.
Ist auch die Beschreibung bei Habermas und Wellmer des Heideggerschen Denkens reduziert bis verzerrt zu nennen, so sind sie doch gezwungen, diesem Denken ihre Reverenz zu erweisen. Wellmer (2007, S. 11) hat konzediert, daß er erst spät begonnen habe, Heideggers Philosophie zu rezipieren, ohne jedoch etwas vom Druck der Philosophie aus den USA zu verraten, der vermutlich für ihn ein Grund der begonnenen Rezeption war.
Es erscheint somit denkbar, daß über die Rezeption Heideggers in anderen Ländern, wie Frankreich und seit einer Reihe von Jahren in den USA Heidegger wieder nach Deutschland zurückkommt.
Vor allem in Nordamerika sind es wichtige Philosophen wie Richard Rorty, Charles Taylor und vor allem Hubert Dreyfus, die Heidegger als wichtigen zeitgenössischen Klassiker lesen und sich auf diesen beziehen.
Taylor (1985) beispielsweise hat die von Heidegger formulierte welterschließende Funktion der Sprache verwendet, um das opus magnum von Habermas (1980), die Theorie des kommunikativen Handelns in den Fundamenten zu kritisieren; Dreyfus (1993) hat in einem Aufsatz über künstliche Intelligenz (KI) gezeigt, daß das Scheitern früherer KI-Systeme dazu geführt hat, die Heideggersche Kritik an der Verwendung symbolischer Weltmodelle bei neueren Modellen zu berücksichtigen.
Charles Taylor und Hubert Dreyfus haben zusammen ein Buch 2015 veröffentlicht, das im Suhrkamp- Verlag - ins Deutsche übersetzt - herausgegeben wurde (Dreyfus und Taylor, 2016). Mit diesem Buch versuchen beide in einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit eine „Wiedergewinnung des Realismus.“ Der Titel ist mehrdeutig und es erfordert eine eigene, ausführliche Diskussion. An zentralen Stellen beziehen sich Taylor und Dreyfus auf Heidegger (1954, Vorträge und Aufsätze; 1977, Holzwege; 1953, Einführung in die Metaphysik; 2006, Sein und Zeit) und zeigen auf, daß dessen Denken für wesentliche Diskussionen der Gegenwart der Philosophie zentral ist.
Habermas (1987, S. 392) schreibt Gadamer zu, daß dieser die Heideggersche Provinz urbanisiert habe. Dreyfus und Taylor (2016) stellen klar, daß Gadamer im Kielwasser Heideggers segele. Und was besonders bedeutsam ist, Gadamer hat indirekt der Einschätzung von Dreyfus und Taylors beigestimmt, bei aller Kritik an Heidegger im Detail (in Dutt, 1995, S. 38- 40). Die umsichtige Einschätzung von Dreyfus/Taylor, nicht die ressentimentgeladene Aburteilung durch Habermas trifft hier die Wirklichkeit.
Eine gewisse Ironie liegt darin, daß ausgerechnet im Suhrkamp-Verlag - dem Verlag, in dem der Diskreditierung Heideggers so weitgehender Platz eingeräumt wurde (unter anderem Adorno, 1964; 1969; Habermas, 1971; 1987) - eine grundlegende Rehabilitierung des Heideggerschen Denkens und Betonung seiner Aktualität erfolgt, die frühere Diffamierungen als irrelevant oder unwahr entlarvt.
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Literatur
Theodor, W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt 1964.
Theodor, W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt 1966.
Beda Allemann: Martin Heidegger und die Politik, in: Otto Pögeler (Hg.): Heidegger: Perspektiven zur Deutung seines Werkes. Weinheim, 1994, S. 247- 260.
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt 1955.
Frank Dikötter: Maos großer Hunger. Stuttgart 2014.
Hubert Dreyfus: Was Computer immer noch nicht können, in: Dtsch. Z. Philos., Nr. 41/1993, p. 653-680.
Hubert Dreyfus und Charles Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus. Frankfurt 2016.
Carsten Dutt (Hg.): Hans-Georg Gadamer im Gespräch. Heidelberg 1995.
Victor Farias: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt 1989.
Emmanuel Faye: Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Berlin 2009.
Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung. Hamburg 2007.
Hans-Georg Gadamer und Silvio Vietta: Im Gespräch. München 2002.
Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt 1971.
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1980.
Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile, erweiterte Ausgabe. Frankfurt 1987.
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt 1985.
Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Frankfurt 1999.
Johannes Hoffmeister: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1955.
Max Horkheimer: Kritische Theorie, Studienausgabe. Frankfurt 1977.
Max Horkheimer: Gesellschaft im Übergang. Frankfurt 1981.
Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954.
Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt 1977.
Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt 1989.
Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, 6. Auflage. Tübingen 1998.
Martin Heidegger: Sein und Zeit, 19. Auflage. Tübingen 2006.
Hermann Mörchen: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno. Stuttgart 1980.
Hermann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. Stuttgart 1981.
Günther Neske und Emil Kettering: Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988.
Werner Post: Max Horkheimer: Die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, in Josef Speck (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Neuzeit IV. Göttingen 1981.
Alexander Schwaan: Politische Philosophie im Denken Heideggers. Opladen 1989.
Charles Taylor: Human agency and language. Cambridge 1985.
Silvio Vietta: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik. Tübingen 1989.
Franco Volpi: Hannah Arendts Rehabilitierung der Praxis, in: Intern. Z. f. Philosophie, Nr. 16/2007, p. 78- 91.
Willem van Reijen: Martin Heidegger. München 2009.
Albrecht Wellmer: Sprachphilosophie. Frankfurt 2004.
Albrecht Wellmer: Wie Worte Sinn machen. Frankfurt 2007.
Nikolaus Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stephane Courtois et al. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. München 1998, S. 51- 295.
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