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„ICH BIN KEIN RENEGAT“: Frank Böckelmann im Gespräch mit Aline Manescu und Till Röcke

Aktualisiert: 28. Jan. 2023

Böckelmann: Ich beginne mit einer Frage an Till Röcke. Ich zitiere aus Schlund, seinem in der Edition Finsterberg erschienenen Roman, einen exemplarischen Absatz: „Breit erging sich die Ausfallstraße. Von Bombast umstellt und in Khaki gesiedet. Abnormal versetzt. Geklotzte Mondlandschaft. Vehikel aller Art drückten sich gleichmäßig hindurch. Schlund drang vor, mit gesenktem Haupt. Eckzähne nach innen. Gehirn und Zahn, eine unzertrennliche Einheit. Todes-Drohnen bedrängten ihn. Manchmal sprachen sie auch, es waren Versuche der Mitteilung. Schlund schlug nach ihnen.“ Herr Röcke, warum schreiben Sie so karg und lapidar?


Röcke: Schlund, der Protagonist meines Romans, erfährt die Welt als Ansammlung von Eindrücken. Das Ganze ist Magischer Realismus der abseitigen Art. Ein krummer Nebenarm davon. Schlund erfährt diese Eindrücke, er lebt ja als Student in einer aberwitzigen Großstadt, sitzt an seiner Abschlussarbeit und kann nicht raus aus seinen Lebensumständen – aus seiner Haut ohnehin nicht. Schlund leidet darunter, keine Frage, aber er muss. Der Formungsdrang ist in ihm und herrscht. Also sammelt er die Eindrücke und versucht, sie in seinem Innersten irgendwie zusammenzufügen.


Böckelmann: Innerer Monolog?


Röcke: Ein Innerer Monolog als Rausch. Linear verläuft da nichts mehr. Schlund nimmt Eindrücke auf, er ist ja verstrickt in die Abartigkeiten dieser Welt, er zieht diese Eindrücke in sich hinein, wo sie sich vermischen mit anderen, früheren Eindrücken. Erlebt, halb erlebt oder angelesen, in Schlund herrscht die blinde Formung. Schlund weiß, dass da draußen ein „Außen“ ist, aber er kann es nicht mehr sauber vom „Innen“ trennen. Kaum ist der Eindruck aufgenommen, geht er mit anderen zusammen. Der Formungsdrang setzt ein und schafft Gebilde. Meistens irre, oft auch bizarre. Der Drang ist da. Schlund kann ihn nicht abstellen. In guten Momenten kann er ihn auf bestimmte Motive lenken. Manchmal flacht er ab, ist aber nie ganz weg. Das Formen-Müssen ist der innere Zwang, das Schicksal des Schlund. Eindruck auf Eindruck, es überkommt ihn und fordert ihn hart heraus.

Böckelmann: Also ein Eindrucksstenogramm.


Röcke: Sozusagen. Es geht von einem Eindruck zum nächsten. Im Grunde ist Schlund dem Wahnsinn verfallen oder verfällt ihm gerade, ist aber noch Teil der Wirklichkeit. Einigermaßen. Er muss formen. Es formt in ihm, diese Ausweglosigkeit wird deutlich. Das fördert seine wissenschaftliche Abschlussarbeit nur bedingt, der Drang in ihm ist mächtig und geht nach Größerem.


Böckelmann: Ist der Protagonist Schlund Ihr Alter Ego?


Röcke: Selbstverständlich. Man entdeckt sich ja immer selbst in den Büchern, auch in denen, die man selbst geschrieben hat. Das mag einem Autor erst hinterher auffallen, ändert aber nichts daran.


Böckelmann: Das führt mich zu der nächsten Frage: In welchem Verhältnis steht das Schreiben zum Schreiber und zu den sonstigen Etagen und Sektoren seines Lebens?


Röcke: Es steht in einem Missverhältnis. Schreiben und Schreiber sind zwingend verschränkt. Fantasy-Geschichten zu schreiben, das kann ich mir nicht vorstellen. Überhaupt, dass man etwas nimmt, einen fremden Stoff, dass man sich irgendwelche Wissensbestände anliest oder etwas über Verhaltensweisen anderer aus zweiter Hand erfährt und diese dann literarisch verarbeitet, das trifft bei mir nicht zu. Ein persönlicher Bezug muss da sein. Der Rest ist Steigerung. Frauenromane des 19. Jahrhunderts könnte ich gar nicht schreiben, weil ich keine Frau bin und nicht im 19. Jahrhundert lebe. Ohne jetzt Theodor Fontane zu nahe treten zu wollen.


Böckelmann: Nein, ich meine, wenn ein Leser den Autor Till Röcke aufsuchen möchte, hat er ja eine bestimmte Erwartungshaltung. Er sucht im Autor die Verkörperung dessen, was er in Röckes Buch gefunden hat. In welchem Verhältnis also stehen das Niedergeschriebene und das alltägliche Leben des Autors?


Röcke: Es ist ein verschränktes Verhältnis. Erlebt und gesteigert. Ein bisschen Drama und Weltekel. Am Ende steht Fiktionale Literatur.


Manescu: Wie ist das bei Ihnen, Herr Böckelmann?


Böckelmann: Was ich schreibe und das, was ich ansonsten tue und lasse, ergänzen sich wechselseitig, aber entsprechen sich nicht.


Manescu: Schreiben Sie Ihre Bücher, um Ihre eigenen Gedanken ins Reine zu bringen, um sie zu sortieren?


Böckelmann: Ich versuche zu schreiben, was noch nicht gesagt worden ist, zu erfassen, was noch nicht erkannt worden ist. Im Übrigen komplettiert der Autor die Privatperson. Anders gesagt, beide stehen versetzt zueinander. Was ich geschrieben habe, bin ich persönlich nur annäherungsweise. Wenn jemand das Geschriebene in meinem Alltagsleben wiederfinden will, bringt er mich in Verlegenheit. Wenn ich ein Buch fertiggestellt habe, ist es für mich erledigt.


Manescu: Damit ist es weg.


Böckelmann: Dann ist es weg. Ich habe es durchgestanden und kann es endlich vergessen. Ich möchte es beiseiteschieben. Doch dann verlangt man von mir eine Zusammenfassung des Buchs, Auskunft über seine Quintessenz in wenigen Sätzen. Damit die Leute das Buch nicht erst lesen müssen. „Was wollen Sie denn mit diesem Buch sagen?“ Der Autor soll komprimieren, was er geschrieben hat. Entsetzlich.


Manescu: Sie sind mit achtzehn Jahren nach München gezogen und begannen früh damit, Literaturzeitschriften zu gründen. Waren Ihre ersten Anfänge des Schreibens bereits ein Akt des Protests oder waren Sie in so jungen Jahren noch dabei, durch das Schreiben zu begreifen?


Böckelmann: Ich habe schon mit zwölf Jahren begonnen, Geschichten zu schreiben. Was mich dazu angetrieben hat, habe ich vergessen. Jedenfalls war es eine Lust, Worte aufs Papier zu bringen. Im Alter von 15 Jahren begann ich, Sartre zu lesen, und gebärdete mich als Existenzialist, was in den Fünfzigerjahren keine Seltenheit war. „Der Mensch ist das, was er aus sich macht.“ Offensichtlich war das ein Akt der Selbstbehauptung gegen die auf mich gerichteten Erwartungen. Heute hat dieser infantile Trotz die kulturelle Vorherrschaft erlangt: sich durch Sprechakte selbst zu erfinden. Das kenne ich. Das habe ich schon mit 15, 16 Jahren durchgemacht. Später begann ich, Gedichte zu schreiben. Da siegte der Formwille.


Röcke: Im klassischen Sinne?


Böckelmann: Orientiert an der Lyrik der Nachkriegszeit, aber durchsetzt mit Sprachfrüchten eigener Welterkundung. Ich habe nie aufgehört, Gedichte zu schreiben, aber mittlerweile schreibe ich nur noch eines pro Jahr. Im München der frühen Sechzigerjahre ging das Schreiben über in eine Praxis der Auflehnung. Auch das war nichts Außergewöhnliches. Rudi Dutschke sprach damals vom Ende der Rekonstruktionsperiode des Kapitals: Wenn es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte und die Produktivkräfte sich ungestört weiterentwickelt hätten, dann hätten wir ebenfalls das Niveau von 1960 erreicht. Das heißt, die elementaren Bedürfnisse waren befriedigt: das Essen auf dem Tisch, ein Dach über dem Kopf und eine ordentliche Alterssicherung. Wir Achtzehnjährigen waren gleichsam die erste postmaterialistische Generation. Wir fühlten uns freigesetzt und stellten die Sinnfrage.


Ich litt unter bornierten Vorschriften, familiärer Kontrolle, Gebräuchen und Karriereerwartungen. Das teilte ich mit vielen in dieser Generation, die dann später‚ 67, ‚68, die Protestbewegung initiierten. Die Schlagzeilen in der Stuttgarter Zeitung, die mein Vater abonniert hatte, inszenierten ein fadenscheiniges Brimborium aus Parteipolitik, Staatsbesuchen, Konjunktur, Tarifverhandlungen und sonstigem Biedersinn. Das war Abhub, Rückstand, Formsache, zerbröckelte Schlacke, aber spielte sich als Realität auf. Mir stand der Sinn nach der ganzen Wirklichkeit.


Dieser Anspruch auf unverstellte Wirklichkeit und uneingeschränkte Anwesenheit spielte mit bei allen Entscheidungen, die ich seit dem Ende der Fünfzigerjahre getroffen habe. Ihm entsprach zunächst auch den Wunsch nach Grenzüberschreitung. In meinem Leben gibt es aber noch ein drittes starkes Motiv, über das ich nur indirekt, nur annäherungsweise geschrieben habe: die Erfahrung einer elementaren Absurdität, anders, positiv ausgedrückt, die Erkenntnis, dass unser aller Leben unerklärlich ist, schonungslos gesagt, dass es im Geheimnis steht. Genau genommen begreifen wir gar nichts. Was soll das alles? Der elfjährige Junge sieht eine Uhr mit Perpendikel an der Wand und fragt sich: Warum gerade ich? Hier und in diesem Augenblick? Wir alle machen diese Erfahrung, bewusst oder vorbewusst, unabhängig vom Bildungsgrad. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? hat Friedrich Wilhelm Schelling gefragt. Das Staunen über mein Dasein hat sich mit zunehmendem Alter weiter verstärkt.


Demnach wären bei mir insbesondere drei Faktoren im Spiel: das Erstaunen über eine bestürzende Existenz, der Widerwille gegen Borniertheit und Scheinwirklichkeit und die Sehnsucht nach Anwesenheit. Die beiden letztgenannten kollidieren mit den Zuständen, in denen wir leben.


Röcke: Sind diese drei Motive auch für die Gestaltung der TUMULT ausschlaggebend?


Böckelmann: Nein. TUMULT dient vor allem dem Interesse an uneingeschränkter Erkenntnis.


Manescu: Diese Motive haben mich an einen Auszug aus einer Rede von Pfarrer Hans Milch erinnert: „Echte Frömmigkeit ist keine kopfhängerische Verschwiemeltheit von ‚Flaschen‘, denen die roten Blutkörperchen fehlen, sondern der Ausdruck eines großen Willens zu vollem, starkem Leben. Die Lachenden, die nicht aufgeben, die ihren eigenen Willen erproben, die von sich das Höchste abverlangen an Leistung und Überwindung, die das glut- und blutvolle Leben wollen, denen ist das alles, was sie sehen und vollbringen, noch viel zu wenig.“ Was war Ihr Eindruck vom Christentum in der Gesellschaft?


Böckelmann: Das Christentum gehörte in den 1960er Jahren zu den leeren Fassaden, zu den schal gewordenen Ansprüchen. Nichts regte mich damals dazu an, es zu entdecken. An manche Dinge im Religionsunterricht erinnere ich mich: „Was ist die Sünde wider den Heiligen Geist?“, fragte der evangelische Religionslehrer. Seine Antwort ist mir in Erinnerung geblieben: „Wenn jemand mit der einen Hand etwas aufbaut und mit der anderen Hand einreißt oder wenn er sich an dem vergeht, worin sein Leben gründet, das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.“ Einiges ist also hängengeblieben. Aber ansonsten habe ich versucht, mich von Verknöcherungen zu befreien. Schreiben, Worte zu setzen, ist ja auch ein Akt, um Überliefertes für null und nichtig zu erklären, um sich frei zu machen für das, was einem vorenthalten wird. Wir hielten damals das Leben gleichsam für ein leeres Blatt Papier, auf dem wir selbstherrlich zu schreiben begannen. Die Lettristen und die Situationisten propagierten, man müsse die Kultur erst einmal zu Fall bringen, um sie dann neu zu erschaffen. Auch das Christentum gehörte zum Hergebrachten und Überlebten. Aber natürlich sind wir auch als Nicht-mehr-Christen in der Christlichkeit aufgewachsen. Bei einem Symposium im Jahr 1999 habe ich einmal versucht, meinen Nebensitzer, den Erzbischof Dyba, mit diesem Gedanken zu versöhnen. Er hat mich nur missbilligend angeblickt und den Kopf geschüttelt.


Doch das Christentum ist eines der Fundamente Europas, und in dem Maße, in dem ich Europa von globalkulturellem Einerlei und von der Islamisierung bedroht sah und sehe, erschließt sich mir auch das Christentum: das erwartet-Unerwartete, das Umwälzende, das vor zweitausend Jahren in diese Welt brach, eine unbegreifliche Gestalt, die als Gottes Sohn das Wort brachte (und am Anfang war ja das Wort). Die Jesus Christus zugeschriebenen Worte sind – auch in einem geschichtlichen und geschichtsschreibenden Sinne – ungeheuerlich. Das erkennt man erst so richtig, wenn man im Neuen Testament liest und dann im Koran – ich habe es mir einmal auferlegt, die ersten 25 Suren des von Ludwig Ullmann übersetzten Korans zu lesen. Dieses heilige Buch besteht ja fast ausschließlich aus Ketten von Anordnungen und Strafandrohungen, wohingegen das Neue Testament vor Eingebungen strotzt. Von Unwillkürlichem. Der Unterschied ist selbsterklärend. Urteile, die irgendjemanden verletzen könnten, erübrigen sich. Man muss nur lesen. Es tut mir leid um alle jene, die um des lieben Friedens willen zwischen den Religionen Frieden stiften wollen. Ein solcher Frieden wäre ein Akt christlicher und europäischer Selbsterniedrigung.


Manescu: Das erinnert mich an einen Kommentar des Heiligen Augustinus über die Bibel: „So beschloß ich, mich zur Heiligen Schrift zu wenden. Ich wollte sehen, was sie zu bieten hat. Was ich entdeckte, war für stolze Leute unbegreiflich und für junge unverständlich. Sie hatte einen niedrigen Eingang, der sich im Fortgehen erhöht und ins Geheimnis getaucht ist. Ich war nicht in der Lage einzutreten oder den Kopf darin zu beugen, um Schritte zu tun. Damals, als ich an die Schrift trat, habe ich nicht so gefühlt wie ich jetzt davon rede. Sie erschien mir unwürdig im Vergleich mit dem Wert eines Cicero! Mein Blähhals sträubte sich gegen ihre Einfachheit, mein Blick war nicht tief genug, um in ihr Inneres zu dringen. Die Schrift als solche ist fähig, mit den Kleinen zu wachsen, aber ich wollte nicht klein sein, sondern, von Hochmut gebläht, fühlte ich mich groß.“ Befanden Sie sich damals im Grunde auf der Suche nach Transzendenz?


Böckelmann: Die Transzendenz in Gestalt des Bewusstseins, dass diese Welt unbegreiflich ist, war in meinem Leben immer gegenwärtig, aber eben nicht die Transzendenz in der doktrinären Gestalt der Kirche. Meine Wiederannäherung ans Christentum ist gepaart mit der Entschlossenheit zum Widerstand. Und ich bin kein Einzelfall. Wohl auch aus diesem Grund vermute ich, dass die einzige Chance für eine Wiederbelebung des Christentums im Widerstandskampf liegt, in der Gegenwehr gegen einen expansiven Islam. Auch ein überlebendes, politisch vereintes Europa kann nur aus der Gegenwehr gegen eine große Bedrohung erwachsen – gegen einen totalitären Islam, gegen ein übergriffiges China oder gegen die übergriffigen Vereinigten Staaten oder gegen ein übergriffiges russisches Imperium. So wie ja auch der Begriff von Europa im Widerstand gegen übermächtige Angreifer geboren wurde. Europa gewinnt keine Kraft aus tausend Tagungen oder tausend Studien über die Frage, worin eigentlich das Wesen Europas besteht. Gegenwärtig bewährt sich die Kraft zur Selbstbehauptung Europas im Beistand für das ukrainische Volk. Ich weiß, jetzt trete ich in ein Fettnäpfchen.


Manescu: Im Rahmen einer Aktion des SDS haben Sie 1967 eine Veranstaltung im Münchner Hofgarten in Anwesenheit des bayerischen Ministerpräsidenten gesprengt, indem Sie den amerikanischen Generalkonsul lautstark beleidigten und ihn mit den Verbrechen im Vietnamkrieg konfrontierten. Zogen Sie damals auch Aktionen gegen die Sowjetunion in Erwägung?


Böckelmann: Nein, das nicht. Unsere Umtriebe in der konsumistischen Einöde nahmen uns vollständig in Anspruch. Die Subversive Aktion existierte in den Jahren 1963 bis 1966. Wir Aktivisten verstanden uns als Berufsrevolutionäre und holten uns Anregungen aus der sexualpolitisch agierenden Psychoanalyse, aus der Kritischen Theorie, aus allen möglichen neuen Krisentheorien und auch bei Marx und Engels, nachdem Rudi Dutschke und Bernd Rabehl zu uns gestoßen waren, bei Karl Korsch, Rosa Luxemburg und anderen nichtkorrumpierten Sozialisten. Wir wollten zurück zu den Quellen des authentischen Marxismus und ihn von seinem Missbrauch in den bolschewistischen Diktaturen reinigen. Ich habe sehr viel Marx gelesen, war aber höchstens ein halbes Jahr lang überzeugter Marxist. Kurz nachdem ich Das Kapital studiert hatte, begann ich selbst, Kapital-Kurse zu geben. Die Kritik der politischen Ökonomie verstand ich als praktische Theorie, als Theorie aus Praxis, als Praxis und für die Praxis, verbindlich und anwendbar nur unter den Bedingungen des revolutionären Antagonismus‘ zwischen Lohnarbeit und Kapital, zwischen den Proletariern und den Besitzern der Produktionsmittel. Als 1967 die Protestbewegung begann, hatten wir ehemaligen Subversiven im Sozialistischen Deutschen Studentenbund den Marxismus bereits hinter uns gelassen. Wir beugten uns altklug über die jungen Leute auf der Straße und spekulierten: Vielleicht sei ja die Praxis der Theorie voraus. Vielleicht entstünden ja im Zuge der Straßenkämpfe Strukturkrisen neuer Art, die dann auch zu einer neuen revolutionären Lehre nötigten.


Manescu: Für einen Millenial hat die sexuelle Revolution es ja schon beinahe etwas Prähistorisches – in wieweit stand Ihr Leben damals unter deren Einfluss, waren Sie da auch daran beteiligt?


Böckelmann: Soweit ich mich erinnere, begrüßten ich und meine Gefährten durchaus den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt. Wir phantasierten sogar von der Automatisierung, von der realen Möglichkeit eines Lebens ohne Lohnarbeit – vorher galt es nur noch die Herrschaftsverhältnisse umzuwälzen. Und beim Ausleben der eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse stand die schrankenlose Kopulation ganz obenan. Im Rückblick ist zu erkennen, dass die Protestbewegung offene Türen einrannte. Sie passte sehr gut zu hedonistischen Marketingkonzepten. Ich meine die Lebenspraxis, nicht das plakative Selbstverständnis. Fleißig übten wir uns in „Grenzüberschreitungen“ – literarisch und künstlerisch, in Wohngemeinschaften, auf Reisen, im Drogenkonsum und vor allem auf der Lustsafari. In den Jahren von 1968 bis etwa 1978 hielt ich es für angemessen, stets drei oder vier Freundinnen zu haben. Und nie war es genug – im Gegenteil, ich rannte rastlos dem Glück hinterher. Höchstens minutenlang glaubte ich, am Ziel zu sein.


Ich will jetzt nicht wieder über das Zusammenspiel von Völlerei und Frustration sprechen. Ich habe das schon einige Male getan, und manchmal las es sich dann, als absolvierte ich Bußübungen. Aber ich war ja kein reuevoller Sünder, sondern ein ermüdeter Verschwender. Ich komme jetzt zum Punkt. Rastlosigkeit und Verdruss resultierten nicht aus der Sache selbst – ich kann keiner Frau und auch mir selbst nicht große Vorwürfe machen –, sondern aus der Ausgangssituation, aus der Hybris der Verfügbarkeit, aus der Vorstellung, die freie Wahl zu haben. Das selbstgefällige Bewusstsein von der Austauschbarkeit des Gewählten nahm die Enttäuschung bereits vorweg. Es dauerte lange, bis ich verstand, dass Wählen fade ist, wenn ich nicht auch selbst gewählt werde. Anders gesagt, das Gewählte befriedigt mich, wenn ich zunächst und letztlich gar keine Wahl habe.


Allmählich kehrte sich die Richtung meiner Sehnsucht um – vom Steigerungsverlangen zum Bedürfnis nach unwillkürlicher Anwesenheit. Sie sehen, ich bin kein Renegat. Statt nach Entgrenzung strebe ich heute nach Rückverortung. Der Wandel vollzog sich bei mir in einem unbestimmt großen Zeitraum und war erst Mitte der achtziger Jahre abgeschlossen. Ich assoziiere ihn mit meinen Wanderungen durch die deutschen Mittelgebirge und die der angrenzenden Länder und mit einer überraschenden Passion für bayerische Volksmusik und die Musik Richard Wagners. Aber ich führe ihn nicht auf diese Erlebnisse zurück.


Kurzum, ich bin kein Konservativer, sondern habe das Eigene, das mir Zugehörige entdeckt, nachdem die Selbsterhaltungskraft des Brauchtums, der Volksreligion und der nationalen Bindung in Deutschland und Westeuropa erschöpft, vielleicht schon zum Erliegen gekommen war. Ich empfehle nicht, Restbestände zu beatmen, sondern vermute, dass erst der Horror Vacui den Entgrenzungstrend aufhält und umkehrt – politisch, ökonomisch und massenkulturell. Notgedrungen, durch Not gezwungen, fliehen wir aus dem Alles-und-nichts und suchen das Unverwechselbare, Unersetzliche.


In zwei Tagen folgt hier der zweite Teil des Gesprächs.


Frank Böckelmann ist Herausgeber, Aline Manescu Autorin und Till Röcke Onlineredakteur der TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung.


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