Wie man einst Martin Walser warten ließ, weil man sich bei Ernst Jünger vertrödelt hatte, wie man durch Erweiterung des Sag- und Schreibbaren die eigene Stellung bei der WELT gefährdete und wie man sich per Mailbox auf das gemeinschaftliche »Abhetzen« einschwor: Dies und mehr ruft Heimo Schwilk in seiner Trauerrede auf Ulrich Schacht in Erinnerung, die am 10. Oktober im Hamburger Literaturhaus gehalten wurde und die wir hier dokumentieren.
Liebe Familie, liebe Freunde,
viel Staatstragendes ist in den letzten Tagen über Ulrich Schacht gesagt und geschrieben worden. Deshalb möchte ich an seine andere Seite erinnern, an den vor Witz sprühenden, unfassbar schlagfertigen und immer gut gelaunten Freund. Selbst sein Poltern und Wüten in politicis hatte ja immer auch etwas Komödiantisches. Das gab seinen Tiraden gegen den politischen Gegner einen Anstrich von Unernst. Ich jedenfalls hatte immer meinen Spaß daran.
Ich will nun preisgeben, welchen Trick ich anwandte, diese Ausbrüche geradezu herauszulocken und sie zugleich meinem elektronischen Archiv einzuverleiben. Wenn Ulrich mich anrief, ließ ich es erst einmal klingeln, bis der Anrufbeantworter ansprang. So wurde er in jene Ungeduld versetzt, die ihn zu großer Form auflaufen ließ. Nur eine kleine Kostprobe aus den zahlreichen Aufzeichnungen. Am 16. Februar dieses Jahres wetterte er auf mein Band:
»Pass mal auf, liebe Mailbox! Kannste mal aus deinem Bunker rauskommen! Du liegst doch nicht wieder im Bett? Du musst doch gerade kein neues Buch schreiben! Außerdem habe ich heute einen Freund da. Ich möchte mit dir eine Flasche Champagner trinken. Deniz, Deniz Yücel ist aus dem Gefängnis raus! Ulf Poschardt schreibt auf Twitter: ›Dies ist die schönste Nachricht der Weeeelt!‹ Also komm, ich will heute mit dir abhetzen über diese Idioten!«
*
Als wir im Frühjahr 1994 die Komposition zu dem Sammelband »Die selbstbewusste Nation« erarbeiteten, fand dies im Keller von Ulrichs Wohnung in Hamburg statt. Ich denke, ein neutraler Zuhörer im Parterre hätte meinen können, hier würden Herrenwitze gemacht oder eine Satire verfasst. Wir malten uns die Gesichter unserer politischen Gegner aus, das Erdbeben, das dieses gegen den Mainstream geschriebene Buch auslösen würde. Als es dann im Herbst 1995 genauso kam, stand allerdings auch unsere Existenz als Redakteure der »Welt am Sonntag« auf dem Spiel.
Doch das Lachen ist uns nicht vergangen, dazu waren die Reaktionen von der »taz« über die »Süddeutsche« bis zum »Spiegel« viel zu lächerlich. Die Schreiber konnten es nicht fassen, dass sich hier eine intellektuelle Fronde zu bilden begann, die nicht mehr ins vertraute Links-rechts-Schema passte.
Unvergessen auch unsere gemeinsamen Reisen, unter anderem zu Ernst Jünger, Martin Walser und Gaston Salvatore nach Venedig. Der Doppelbesuch bei Ernst Jünger in Wilflingen und Martin Walser in Überlingen hatte insofern einen humoristischen Hintergrund, als wir uns in der Wilflinger Oberförsterei ziemlich verplauderten und viel zu spät aufbrachen, um weiter nach Überlingen zu fahren. Bei einer Flasche Champagner, zu der Jünger eine ganze Schachtel Dunhill rauchte, hatte Ulrich von seinen Expeditionen in die Arktis erzählt, und Ernst Jünger hatte hochgespannt zugehört. Dass wir dann eine Stunde zu spät zum Abendessen am Bodensee erschienen, war eine besondere Pointe.
Anders als einige Jahre später, als Walser einen hymnischen Vortrag bei der Eröffnung der großen Jünger-Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hielt, stand er Ernst Jünger damals eher misstrauisch gegenüber. Als ich ihm den Grund für unsere Verspätung nannte, stöhnte Walser auf: »Auch das noch! Versetzen die mich ausgerechnet wegen Jünger!«
Eine nicht ganz ungefährliche Begegnung hatten wir im Palazzo von Gaston Salvatore, den man während der Studentenrevolte in Berlin »das schönste Gesicht der Revolution« nannte. Salvatore war ein enger Freund Rudi Dutschkes und Neffe des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, mit dem er die sozialistische Naherwartung teilte. In den Siebzigern wurde eine Reihe von Dramen aus seiner Feder an deutschen Bühnen aufgeführt, u. a. ein verharmlosendes Stalin-Stück, mit dem er internationale Aufmerksamkeit erregte. Ulrich hatte sich auf der Buchmesse mit Gaston angefreundet, wohl wissend, dass dieser verbitterte alte Mann sich mit allen anlegte, auch mit seiner Familie, sämtlichen Freunden und Verlegern.
Es dauerte dann nicht lange, nämlich bis kurz vor Mitternacht – wir saßen in Gastons Salon mit Blick auf den Canale Grande, unsere Koffer waren bereits in den Gästezimmern verstaut – als der Sturm losbrach. Wir gerieten in eine heftige Polit-Debatte, befeuert von Rotwein und viel zu viel Grappa, auf deren Höhepunkt der Hausherr uns »Faschisten« sogar Schläge androhte! Auf den süffisanten Hinweis Ulrichs, dass es sich bei seinem Begleiter um einen ehemaligen Fallschirmjägeroffizier handle, der bei Ernst Jünger in die Schule gegangen sei, warf Gaston vor Empörung seinen Sessel um und fegte alle Gläser und Flaschen vom Tisch.
Wir verließen fluchtartig den ungastlichen Palazzo und ließen uns von einem Wassertaxi über die nächtliche Lagune nach Mestre fahren, wo wir unseren Wagen geparkt hatten. Eingeklemmt zwischen Kolonnen von LKWs, steuerte ich – in durchaus bedenklichem Zustand – den Minicooper die hundert Kilometer bis nach Duino. Dort befreiten wir uns bei Spaziergängen um das Schloss von der venezianischen Düsternis. Mit Rilkes Engel gegen Salvatores stalinistische Dämonen! Ulrich fand die Szenerie so bizarr, dass er beschloss, eine Novelle mit dem Titel »Flucht nach Duino« zu schreiben. Vielleicht findet sie sich im Nachlass?
*
Zu guter Letzt möchte ich von der Fürsorge und Liebe Ulrichs zu seiner Patentochter Clarissa sprechen, meiner jüngsten Tochter. Leider konnte sie mich im August nicht nach Schweden begleiten, wo ich fünf sehr schöne Tage mit Ulrich und Stefanie verbrachte. Aber in Berlin trafen sich die beiden häufig, für Clarissa waren die gemeinsamen Abendessen in der »Paris Bar« oder in den »Hackeschen Höfen« immer Feststunden. Ulrichs Weihnachts- und Geburtstagspakete mit den sorgfältig ausgewählten, liebevoll eingepackten schwedischen Leckereien – ein Buch inmitten der Köstlichkeiten durfte nicht fehlen! – gehörten zum festen Bestand von Clarissas Gabentisch. Kurzum: Es war reine Liebe.
Meine Überzeugung, dass dieses so spannungs- und ereignisreiche Leben am 16. September 2018 nicht einfach endete, sondern sich im literarischen Werk längst voll-endet hatte, zumal nach der Publikation des großen Romans »Notre Dame«, finde ich bestätigt in eben diesem Roman. Auf Seite 259 lässt Ulrich seinen Helden Torben Berg über den Unfalltod Albert Camus‘ sagen: »Die wenigen Jahre aber, die er Zeit gehabt hatte, Bücher zu schreiben, haben ihn unsterblich gemacht. Manchmal kommt es zum Glück eben nicht darauf an, wie lange einer lebt, sondern dass er die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, nutzen kann, um so im Bewusstsein der Menschen zu bleiben, für immer.«
Also gedenken wir Ulrichs lesend, halten wir die Bilder fest, die uns mit ihm verbinden.
So bleibt er einer von uns.
Beiträge von Ulrich Schacht finden sich etwa in den TUMULT-Ausgaben vom Frühjahr 2017 oder Sommer 2018.