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Hans Günter Holl: EUROPA?

  • vor 7 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Douglas Murray hat im Zusammenhang mit der islamischen Invasion vom „Selbstmord Europas“ gesprochen. Doch wenngleich seine Diagnose zutrifft, erfasst sie nur das Endstadium einer langen Vorgeschichte der Krise. Der innere Drang zum Ableben wurzelt also viel tiefer. Man könnte sagen, dass er mit dem begann, was wir heute als „Aufklärung“ im weitesten Sinne verherrlichen: Europa wählte den Weg der Selbstzerstörung und kam (im Dreißigjährigen Krieg) schon ein gutes Stück voran, als es die vitalen, antiklerikalen Manifeste der Renaissance abwürgte, um mit Hilfe der Reformation einen siechen, korrupten Katholizismus zu reanimieren.


Während die Renaissance in philosophischer Hinsicht „sokratisch“ gesinnt war, betonte der siegreiche Klerus ihren Platonismus. Darauf gestützt leisteten „idealistische“ Schulphilosophen später maßgebliche Beiträge dazu, die ebenfalls vitalen Anstöße der neuen experimentellen Naturwissenschaften in Begriffssystemen zu neutralisieren und deren Entdeckungen als ewiggültige Dogmen zu vereinnahmen. Diese entwicklungsfeindliche Auffassung prägte die Rezeption der innovativen, originellen Forscher sowohl in der statischen Transzendentalphilosophie Kants – der seine Abwehr als Kopernikanische Wende bemäntelte – als auch in der vom absoluten Wissen berauschten Dialektik Hegels.



Empirismus brutal. Europa, weltweit.
Empirismus brutal. Europa, weltweit.

In ihren gelehrten Stillleben porträtierten diese späten Scholastiker die Welt als nature morte und bekämpften deshalb vehement den Empirismus. Ein Ketzer wie David Hume, der ihnen ein Dorn im Auge war, hatte philosophische genau wie theologische Systeme als „Träume kranker Menschen“ gegeißelt und kurz vor seinem Tod noch innig ersehnt, dass man „die Kirchen dichtmacht und den Klerus zum Teufel schickt“. Daher ist es kein Wunder, dass brave staatsfromme Philosophen ihn verachteten und ablehnten.


Hume hatte keine Flausen im Kopf, sondern er teilte das strikt pragmatische Programm seines Vorgängers Francis Bacon, Phänomene genau zu beobachten, alle Schlussfolgerungen für vorläufig zu halten und Abstraktionen zu misstrauen. Insofern wäre er, bei aller Bewunderung für das englische Genie, nicht wie später Kant auf die Idee gekommen, Newtons System zu verabsolutieren. Newton selbst war ja auch bekennender Empiriker und sich als solcher des provisorischen Charakters seiner Principia bewusst: Erstens erklärten sie alle Erscheinungen, auch das Licht, rein mechanisch, und zweitens mussten sie das Problem der Gravitation vorerst offen lassen („Hypotheses non fingo!“).

Doch gerade solche Bescheidung und der Verzicht auf jene Anmaßung, die Hayek später als „the pretense of knowledge“ geißelte, macht das kreative Potenzial des empirischen Denkens aus.


Da also die eigentliche Aufklärung, als Kritik an Dogmen jedweder Art, von der experimentellen Naturforschung ausging, sorgte die erfolgreiche Desavouierung des Empirismus dafür, dass sich immer neue Phantasmen oder Ideologien durchsetzten und die Schwächung der europäischen Zivilisation vorantreiben konnten. Ein Goethe verfolgte Newton wie seinen Todfeind; Kant idealisierte ihn dagegen zum Apostel der menschlichen Natur und wollte derart, wie unlängst Fukuyama, das Ende der Geschichte proklamieren; Hegel strebte in seiner Enzyklopädie eine begriffliche Alternative zur experimentellen Forschung an; und Marx beschloss das Dilemma, indem er zusammen mit Engels eine vollends absurde „Dialektik der Natur“ verkündete.


Im Grunde nutzte man dabei stets präventiv errichtete Schematismen mit der Intention, Entwicklungen in das von Hölderlin besungene „Offene“ zu unterbinden. Wenn es nach den Gralshütern der orthodoxen Ideologien gegangen wäre, hätte es Fortschritte nur im Sinne des schematisch abgesteckten Rahmens gegeben, wie die Muster der Scholastik beweisen. Aber eigenwillige Erfinder machten den klugen Planern immer wieder Striche durch die Rechnung. Bekannt ist zum Beispiel, dass keine gezielte Sozialreform auch nur annähernd so viel für die Emanzipation der Frau erreicht hat wie die ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konsequenzen entwickelte Waschmaschine. Wenn jedoch Ideologen irgendwelche Neuerungen ersinnen, kommen stets lebensfeindliche Einschränkungen heraus. Dabei fällt auf, dass es bisher nie gelang, wirklich effektive Regelungen zur Verhinderung von Machtmissbrauch einzuführen.


Stattdessen haben Dogmatiker stets alles darangesetzt, ideologiefreie, ergebnisoffene, aber methodisch strenge empirische Forschung nach Kräften einzuschränken. Ihre vom Grundkonsens diktierten Angriffe auf Freigeister dienten ausschließlich dem Zweck, den jeweiligen weltanschaulich begründeten Status quo zu verteidigen, auch wenn sich bereits abzeichnete, dass er vor dem Kollaps stand. Der entsprechend zunehmende politische Druck trug dann sogar dazu bei, dass die ideologischen Zwänge auf die Ausrichtung der empirischen Forschung selbst übergriffen und ihre Resultate frisierten.


Der hier beschriebene Konflikt zwischen kategorischen Vorgaben und von wissenschaftlicher Neugier getriebener Experimentierfreude entspricht recht genau dem Spannungsverhältnis, in dem dirigistische und liberale Organisationsformen zueinander stehen. Erstere müssen auf Zwang und Gewalt bauen, da es keine wissenschaftlich begründbaren Aussagen gibt, die sie legitimieren würden, während letztere ihre Legitimation aus genau dieser Willkür ableiten. Wenn der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, so gilt dies auch für die säkulare Wissenschaft. Die daraus resultierende Offenheit kennzeichnet den Empirismus ebenso wie den Liberalismus. Sie sind als Brüder im Geiste gleichermaßen dem Lebensprinzip der Autopoiese verpflichtet, wohingegen jeder Absolutheitsanspruch auf Totenstarre hinausläuft.


Während die experimentelle Forschung ihre Vitalität bewies, indem sie aus eigener Kraft immer wieder Unstimmigkeiten und Antinomien auflöste, wechselten die konzeptuellen Denkschulen nur überholte Paradigmen aus, ohne taugliche Kriterien des Fortschritts zu besitzen. Trotzdem beanspruchten sie Deutungshoheit auch in kosmologischen Fragen, da die Wissenschaftstheorie eine allgemein philosophische Disziplin sei. Auf diese Weise konnten sie die vitalen, zukunftweisenden Impulse der empirischen Methodik einfangen, ausgrenzen und als implizite Kritik am ideologischen Gesamtdiskurs der dogmatischen Orthodoxie unschädlich machen.


Wenn also die von der Dame Europa geborene Wissenschaft dem Fluch Thomas Hoods unterläge – „Man born of woman must of woman die!“ –, da eine ebenfalls in Europa geborene Ideologie sie stranguliert hätte, wäre zugleich das in der Aufklärung angezettelte Schicksal der Alten Welt insgesamt besiegelt. Und nach einer schleichenden Agonie sieht es derzeit in der Tat aus. Allerdings zeigt diese Art des kulturellen Selbstmords im globalen Rahmen eine leicht ironische Färbung: Europa exportierte nämlich sowohl seine großen Errungenschaften – speziell den Empirismus und darauf gestützt den Liberalismus –, als auch genau die Ideologie, die sie zerstörte. Naturgemäß florierten die Empfängerstaaten in dem Maße, wie sie erstere anzuwenden und letztere einzudämmen verstanden. So sehen wir heute diverse Länder, die Europa bereits mit dessen eigenen Waffen geschlagen und überflügelt haben, während andere dank der unseligen Importe im Elend versinken und praktisch den darin angelegten Suizid am eigenen Leibe erfahren.


Wieder andere halten an religiös geprägten archaischen Kulturen mit ihrer intrinsischen Armut fest, tragen die blutigen Konflikte konfessioneller Schismen aus oder setzen ihre kriegerische Tradition von Raubzügen und Eroberungen fort. Dafür bietet sich das heutige Europa in seinem (w)ehrlosen Zustand geradezu an. Immer neue Horden fallen darüber her und lassen sich die Landnahme nicht nur organisieren, sondern auch großzügig bezahlen. Man kann nur vermuten, wie sich die als „Schutzsuchende“ gekommenen Eroberer aufführen werden, wenn sie erkennen, dass ihnen in einer sterbenden Zivilisation die Rolle von Nachlassverwaltern zufällt.



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Über den Autor: Hans Günter Holl, geb. 1949, ehemals Übersetzer (Whitehead, Bateson), heute Essayist und Rechtsanwalt.



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