In unseren letzten Druckausgaben findet sich eine zweiteilige Kritik des chinesischen Politikentwurfs aus dezidiert westlicher Perspektive. Hans-Georg Deggau reagiert auf unserem Blog seinerseits mit einer zweiteiligen Replik, zunächst mit einem ernüchterten Blick auf westlich-konservativ grundierte Therapie- und Lösungsansätze für die europäische Großkrise von David Engels bis Egon Flaig. Wie weit tragen diese Theorien und Ansätze im 21. Jahrhundert und seinen veränderten Diskursen noch?
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Es stehen, scheint´s, keine anderen Theorien als die zur Verfügung, die sich in der langen europäischen Tradition finden. Das macht solche Analysen weder falsch noch überflüssig. Ihre Beurteilung der Gegenwart lässt sich so vielleicht am überzeugendsten oder einfachsten darstellen. Die Einsicht aber, dass sie häufig auf tönernen Füßen stehen, weist auf ein objektives Dilemma hin: der Notwendigkeit der Kritik und gleichzeitig ihrer unzureichenden begrifflichen Mittel. Ohne neue, dem technologischen Zeitalter entsprechende Theoreme wird es nicht gehen können.
Sind also die großen geistig-emotionalen Ressourcen der Vergangenheit erschöpft? Es dürfte kaum möglich sein, sie wiederzubeleben; denn ist die Substanz erst verloren, ist sie nicht wieder herstellbar. Die geistigen, literarischen oder künstlerischen Erbschaften sind für viele kaum noch verständlich; ihre Selbstverständlichkeit und Überzeugungskraft sind im letzten halben Jahrhundert verloren gegangen. Jede Kritik, die sich auf das alteuropäische Erbe beruft, ist vergeblich. Hier gilt, was P. J. Brenner über Esders glänzendes „Sprachregime“ lakonisch festgestellt hat: „Die Erwartung, dass seine sachkundigen und luziden Ausführungen irgendeine aufklärende Wirkung haben könnten, wäre selbstbetrügerisch“ (TUMULT Herbst 2020).
Ein Grund, warum das so ist, liegt auch am allgemeinen Desinteresse: kaum jemand interessiert sich dafür. Auch hier ist die von Brandner diagnostizierte Ent-negativierung am Werk; die Auseinandersetzung mit kritischen, also „negativen“ Meinungen, ist mühsam und zeitraubend und führt womöglich zu unwillkommenen Ergebnissen. Es ist einfacher und bequemer, sich dem Mainstream etwa in Fragen des Klimawandels anzuvertrauen. Eine eigene „souveräne“ Meinungsbildung ist nicht erforderlich. Die seit Geburt indoktrinierte Anti-Klimawandel-Jugend will davon nichts wissen, sie muss sich um ihre Smartphones und ihre Feiern kümmern; andere wollen nichts davon wissen, weil sie alles außer dem Konsum für uninteressant halten; die Politik reagiert ablehnend, weil ihr sonst ihr existenznotwendiger Gegner von „rechts“ verloren gehen könnte. Trotzdem ist sie jedem, der an der abendländischen Rationalität und dem ungeheuren Reichtum des kulturellen Erbes festhält, ein Anliegen und schon deshalb notwendig.
Wie soll man die neuen Entwicklungen aufgreifen, sich ihnen stellen und produktiv mit ihnen umgehen? Vielleicht sind es doch diejenigen, die die ganze Tradition verabschieden wollen, wie die Autoren des New Materialism. Könnte er eine theoretische Entwicklung darstellen, die ein adäquates Begreifen der gegenwärtigen Weltlage erlaubte und besser verstehen ließe, wie unsere Stellung in der Welt ist? Diese vornehmlich angelsächsische Strömung zielt auf eine Überwindung des cartesischen Dualismus von Subjekt und Objekt und auf einen ontologic turn, indem sie eine posthumane Ontologie und Ethik entwickeln will. Kann sie die traditionelle Binarität von menschlich-nichtmenschlich aufbrechen, um den Anthropozentrismus aufzulösen – den die Maschinen wahrscheinlich schon selbst in Frage stellen. Die neue Ontologie muss dann akzeptieren, „dass wir auch nonhuman sind und dass Dinge auch vitale Spieler in der Welt darstellen“ (Jane Bennett). Die Traditionen des europäischen Denkens soll verabschiedet werden. Manchmal tendieren solche Versuche zu einem Holismus, der auch den Dualismus von Subjekt und Objekt überwinden will. Mir scheint, dass dieses Denken in seiner möglichen Abhängigkeit vom traditionellen westlichen Denken wohl keine Hilfe bieten kann. In seiner Ablehnung von traditionellen Unterscheidungen übersieht es vielleicht die zukünftig wichtigste Unterscheidung, nämlich die von Mensch und Maschine. –
Nach der Selbstreflexion auf die Möglichkeiten konservativer Kritik ist auch zu fragen, in wie weit bei uns die technologischen und legislativen Voraussetzungen gegeben sind, um chinesische Verhältnisse – natürlich in einer europäischen Form – durchzusetzen. Deshalb frage ich im nächsten Abschnitt, wie weit die Entwicklung bei uns gediehen ist und komme zu dem Ergebnis, dass die technologischen und legislativen Voraussetzungen weit gediehen sind.
Unabhängig von allen möglichen philosophischen, psychologischen, ideologischen oder politischen Einwänden gegen die „chinesische Dystopie“, frage ich mich, wie weit die Dinge bei uns gediehen sind. Es ist äußerst schwierig, hier auch nicht machbar, die Entwicklungen in ihren vielen Komponenten darzustellen und zu beurteilen, wie es Klaus Schwab in Die vierte industrielle Revolution unternommen hat. Die technologischen Entwicklungen von der KI bis zur Bionik folgen ihrer eigenen Logik und Vernetzung. Verbote in einem Land hindern Weiterentwicklungen in anderen Ländern nicht. Ich will deshalb hier nur auf zwei Elemente hinweisen, die mir auffällig zu sein scheinen. Das erste sind die technologischen Voraussetzungen und ihre Folgen für den klassischen Begriff des Menschen; das zweite sind die rechtlichen Bedingungen.
Technologische Aspekte
Dass Gesundheit, d.h. ihre mindestens vermeintliche Bedrohung, ein mächtiger Hebel zur Durchsetzung auch unverhältnismäßiger Maßnahmen des Staates ist, hat die Corona-„Krise“ in extenso gezeigt. Die technischen Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der Staatsgewalt in Richtung Überwachungsstaat sind günstig. Eine zentrale Rolle spielen dabei der Einsatz moderner Geräte wie des Smartphones und die Entwicklung entsprechender Algorithmen. Die Verbreitung der Smartphones ist sehr hoch. Laut statista.de gibt es in Deutschland allein über 60 Millionen Smartphone-Nutzer. In der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen soll die Quote der Nutzer sogar über 95 % liegen. 82 % von 800 weltweit befragten Führungskräften gehen davon aus, dass es implantierbare Smartphons geben wird, die sich noch in diesem Jahrzehnt auf breiter Front durchsetzen werden. Ihre Vernetzung und ein Anschluss an das Internet sind gegeben. –
Ein weiteres technologisches Instrument ist das elektronische Geld. Trotz gegenteiliger Beteuerungen der Zentralbanken und der Politik ist damit zu rechnen, dass das Bargeld über kurz oder lang abgeschafft wird. Begonnen hatte das in der EU damit, dass 500-€-Scheine mit der fadenscheinigen Behauptung aus dem Verkehr gezogen wurden, damit einen Schlag gegen die organisierte Kriminalität und Geldwäsche zu führen. Ohne Bargeld sind Zahlungen nur noch über elektronische Medien möglich, etwa Smartphones. Jede Zahlung ist dann überprüfbar und verfolgbar, und gegen negative Zinsen ist kein Kraut mehr gewachsen. –
Ein drittes Element findet sich im Bereich der Gesundheit, der politisch besonders sensibel ist. Alle Voraussetzungen dafür, dass sämtliche relevanten Gesundheitsdaten des Staatsvolkes in absehbarer Zeit zusammengetragen werden können, dürften vorliegen. Dazu zählt die elektronische Gesundheitskarte, auf der Krankheiten, Diagnosen, Krankheitsverläufe, Krankenhausaufenthalte oder Medikamentationen für jeden einzelnen festgehalten werden können. Ergänzt wird sie durch den elektronischen Impfausweis, der EU-weit gelten soll. Die technischen Voraussetzungen sind also gegeben, sofern die fehlenden Elemente noch ergänzt werden.
Die Grundlagen für eine breite Überwachung sind damit gelegt. Die Kontrolle von Bewegungen im Raum, Konsum, Kontakte, Lektüren oder die Befolgung gesundheitlicher Vorschriften ist möglich und kann Algorithmen überlassen werden. Diese könnten dann z.B. feststellen, ob ein Diabetiker häufig ins Café geht und dort Kuchen isst – eine Abmahnung mit Androhung weiter Folgen könnte die Folge sein. „Regulierung des Essverhaltens“ (K. Schwab) bei Adipositas wird ebenso möglich. Die Überwachung von gebotenen sportlichen Aktivitäten oder eine automatische Überprüfung, ob die angesagten 10000 Schritte täglich gemacht werden, könnten sich zur Alltagsroutine entwickeln. Die Einführung eines Sozialpunktesystems wie in China liegt dann nahe, samt positiver oder negativer Sanktionen – natürlich nur zu Besten der Betroffenen. Eine Begründung liegt dann nahe: die Sorge und den einzelnen und die Verbesserung der Volksgesundheit, die Schonung der Krankenkassen oder eine bessere Bekämpfung der Kriminalität. Das setzt aber eine Zentralisierung voraus.
Deshalb lässt alles das die Herzen der Bürokraten und Politiker in Brüssel höher schlagen; denn es bedarf keiner ausgeprägten Fantasie, um sich die Erfüllung der Träume der EU vorzustellen. Die Voraussetzung zu ihrer Erfüllung sind gegeben: die elektronische Gesundheitskarte, der elektronische Impfpass, die behauptete Souveränität der EU, die Abschaffung des Subsidiaritätsprinzips, der Typ des Ermächtigungsgesetzes, den das Impfschutzgesetz praktiziert. Es kann schneller gehen, als wir denken. Die Daten sind vorhanden, sie müssen nur noch zusammengeführt und konzentriert werden. Und alle Zentralisierungen und Machtballungen sind rational und selbstverständlich im ausschließlichen Interesse der Bürger …
Die Zentralisierung in den einzelnen Staaten wird von den Träumen der EU überflügelt. Sie ist die einzige Organisation, die die Möglichkeit hätte, einen großen Zentralstaat in Europa zu etablieren. In einer solchen EU verlören die heutigen Mitgliedsstaaten ihre Bedeutung. Die Absicht zeigt sich explizit schon darin, dass die Kommissionspräsidentin von der Leyen durch eine semantische Verschiebung die Richtung weist: sie spricht von einer „souveränen“ EU, als sei diese ein Staat und sie die Regierungschefin. Das ist nicht der Fall. In dieselbe Richtung zeigt die symptomatische politische Empörung, die dem früheren Präsidenten des BVerfG, Voßkuhle, entgegenschlug, als er die Meinung äußerte, die EU wolle ihre Mitgliedsstaaten auf kaltem Weg entmachten, indem sie im Vertrauen auf den zentralstaatsfreundlichen EuGH und in „kollusivem Zusammenwirken“ mit den anderen EU-Institutionen sich auf dem Weg in den Bundesstaat befinde. Argumente waren dagegen nicht zu hören, nur die übliche Erregung. Dem entspricht auch die Behauptung, dass sich unter den aktuellen Bedingungen der sog. Corona-Pandemie oder einer Hochwasserkatastrophe alles besser, also zentraler managen ließe. Damit wären auch die „klimabewahrenden“ Lieblingsziele einer rot-grünen Politik erreichbar, die z. Zt. noch auf den Widerstand lebenspraktischer Selbstverständlichkeiten der Bevölkerung treffen.
Der große Clou des Überwachungsstaates besteht aber in Folgendem: Vielleicht findet der Sozialstaat sein Telos und seine Vollendung im totalen Betreuungsstaat. Zynisch gesagt: ein Sozialstaat, befreit von seinen Beipackzetteln „Würde“ und „Freiheit“, könnte sich vor- und fürsorglich um alle kümmern, ob sie wollten oder nicht. Hier und heute schon erscheint die große Mehrheit als hilfsbedürftig und muss staatlich unterstützt werden. Der Staat ist das große Sozial- und Hilfeunternehmen, das für alle da ist und an das sich alle wenden können. Die Ansprüche und Erwartungen an seine „Hilfsbereitschaft“ sind enorm. Werden sie nicht erfüllt, am besten in Rechte umgewandelt, die einklagbar sind, fühlen sich alle „allein gelassen“: ob Kriminalitätsopfer oder Alleinerziehende, ob Autofahrer oder Mieter, ab Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, ob Arbeitslose oder Steuerzahler. Immer soll der Staat aktiv werden. In Deutschland fließt ca. ein Drittel der Wirtschaftskraft in Soziales. Dieses wird aber immer individualistisch von den Erwartungen oder Ansprüchen der einzelnen aus gesehen. Dass eine vernünftige Infrastruktur oder andere Einrichtungen vielleicht in höherem Maße sozial sind, bleibt im Dunkeln.
Wenn Gesundheitsvorsorge groß geschrieben wird oder Antidiskriminierung – wie könnten sie besser gelingen als durch technologisch gesteuerte Vorsorge und Kontrolle? Jeder einzelne wäre durch einen implantierten Medi-Chip unter Kontrolle, so dass schon vor Eintritt einer Krankheit die entsprechenden vorbeugenden Maßnahmen getroffen werden können. Die medizinische Kontrolle wäre total und führte zu einer Verringerung der Krankheiten und einer Erhöhung der Lebenserwartung. Der vorsorgende Betreuungsstaat hätte sein Ziel erreicht. Ähnliches gilt auch für Antidiskriminierungsmaßnahmen. Jede SMS oder Whats-App-Mitteilung könnte auf diskriminierende Inhalte untersucht werden, nicht nur auf „Hass und Hetze“. Diskriminierende Witze über Ostfriesen, Blondinen oder Frauen würden verschwinden. Und natürlich könnten „rechte“ Nester ausfindig gemacht und zerschlagen werden. Auch Kriminalität verschwände weitgehend. Insofern wäre der Überwachungsstaat, der rein elektronisch arbeitete und keine Gewaltmittel einsetzen müsste, die Vollendung des Sozialstaates.
Ich bezweifele, dass sich viele gegen diese Vollversorgung wenden würden, die ihnen damit angetan würde. Denn Freiheiten des Subjekts bestehen ja weiter: die selbstbestimmte Wahl des eigenen Geschlechts, die Freiheit, sich den richtigen Film bei Netflix rauszusuchen, irgendwann die freie Wahl aus den erlaubten vegetarischen Gerichten, die heute auf dem Menuplan steht, oder die Wahl aus den erlaubten Urlaubszielen, Hier haben wir eine Umwertung vieler Werte vor uns, die eine Generation betreffen wird, die unter anderen Bedingungen und mit anderen Wertvorstellungen und Wertigkeiten sozialisiert wurde. Solche historischen Umbrüche hat es immer gegeben. „Die neue Situation entwertet die alten Maßstäbe so grundlegend, dass diese sich gleichsam auflösen“ (Chr. Hennig). Verluste wird diese Generationen wahrscheinlich kaum empfinden, weil sie keine Erfahrungen mit anderen Zuständen gemacht hat und ihr die Kriterien dafür fehlen. Wenn unsere Vorstellungen entfallen, die Vorstellungen darüber, wie es sein soll, nur noch wenige teilen, wenn neue technologische Normalitäten Platz greifen, die für jüngere Generationen selbstverständlich sind und „natürlich“ werden, die in solche Verhältnisse hineingeboren werden und sich anderes nur noch schwer und schlecht vorstellen können, dann fragt sich, wie weit die normative Kritik des anthropologischen Ansatzes noch greift oder Bedeutung hat. Das gilt aber zusätzlich besonders dann, wenn sich das physische Substrat des Menschen dahingehend verändert, dass er gleichsam unauflöslich mit Maschinen verbunden ist.
Fügt man die genannten Komponenten mit anderen Entwicklungen wie der Nanotechnologie oder dem 3-D-Druck zusammen, was wohl nicht schwer zu bewältigen ist, liegt eine ungeheure Datenfülle vor, die den einzelnen in sehr vielen Aspekten erfasst. Propagiert wird nicht, das alles beim Staat zu konzentrieren, sondern es ist eine brauchbare und effektive Lösung, wenn der Staat mit großen Unternehmen oder auch Privatpersonen zusammenarbeitet. Die Struktur dazu liegt in dem Modell der PPP (Privat public partnership) bereit. Damit hätte der Staat Zugriff bzw. Informationen über den einzelnen Bürger, die auch von Dritten erfasst werden können und die sich auch auf sein privates Leben erstrecken.
Kritik an dem technologischen Stand der Dinge mit anthropologischen Kriterien wie der Ent-negativierung Brandners oder der Würde des Menschen werden dann obsolet. Der Mensch, der stets als natürliche Größe vorgestellt wird, hat eine andere Qualität angenommen: er ist etwa bei implantierten Smartphones zur Mensch-Maschine mutiert. Das Pathos des Anthropos bricht sich am implantierten Chip. Dann fragt sich, ob die alten Kriterien für ihn noch gelten können.
Rechtliche Aspekte
Nicht nur zwischenstaatlich in der EU, sondern auch innerhalb Deutschlands finden sich judikative und legislative Vorgehensweisen, die der Einschränkung fundamentaler Rechte dienen (können). Hier sei nur auf einen Komplex eingegangen, der selten thematisiert wird – Brandner hat auf ihn hingewiesen. Den Ausgangspunkt bildet die Verlängerung des Notstandes („Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“) durch den Bundestag am 11.6.2021 aufgrund des neu eingeführten § 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ohne Vorliegen eines Notstandes. Diese Regelung bildet die Grundlage für die Möglichkeit neuer oder weiterer Freiheitseinschränkungen. Diese müssen aber nicht sachlich bestimmt sein, sondern darüber wird politisch entschieden. Die Weiche Richtung unkontrollierter Macht ist mit der Novelle des IfSG gestellt worden.
Die folgenden Überlegungen stützen sich auf eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „Epidemische Lage von nationaler Tragweite. Verfassungsrechtliche Fragestellungen“. Dort heißt es: „Der Deutsche Bundestag ist mithin frei, (jeweils) eigene Kriterien für die Ausrufung der epidemischen Lage zugrunde zu legen. Die in § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG angesprochenen >Voraussetzungen für ihre Feststellung<, nach deren Wegfall die epidemische Lage aufzuheben wäre, sind nicht durch weitere Merkmale unterlegt. Der Beschluss des Bundestages ist also maßgebend, unabhängig davon, ob tatsächlich eine epidemische Lage angenommen werden kann“ (S. 6, meine Hervorhebung).
Es geht nur oberflächlich um die sachliche Begründung für die Feststellung eines Notstandes. Das Gesetz ist nach Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes so konzipiert, dass auch OHNE tatsächliches Vorliegen einer Epidemie eine „epidemische Lage“ festgestellt werden kann. Das ist mithin keine sachliche Frage, wie der gesunde Menschenverstand und jeder normale Bürger meinen sollte, sondern eine Machtfrage: die epidemische Lage kann willkürlich festgestellt werden. Wenn der Bundestag die Notlage qua Beschluss feststellt, dann liegt sie rechtlich vor, auch wenn sie de facto nicht vorliegt. Der Bundestag kann die Kriterien der Ausrufung des epidemischen Notstandes souverän, nach eigenem Gutdünken und letztlich ohne sachliche Bindung festlegen. Auch Fiktionen, auf die sich der Bundestag einigt, sind dann Kriterien der Realität. Das kann auch die Behauptung einer drohenden künftigen Mutation eines Virus sein, auch wenn sie nicht droht – von Delta bis Omega ist noch viel zu behaupten. Das neueste Stichwort lautet „Restrisiko“.
Die Novellierung des Gesetzes dient dem Staat als Ermächtigungsgrundlage für mögliche, auch radikale Beschränkungen der Freiheitsrechte. Das ist politische Macht, die keiner sachlichen Beschränkung unterliegt, da sie selbstdefiniert ist. Deshalb ist es nicht ganz unberechtigt, von einer fundamentalen, von faktischen Zusammenhängen abgelösten Selbstermächtigung des Bundestags zu sprechen; denn das Gesetz ermächtigt zu beliebigen Grundrechtseinschränkungen von der Berufsfreiheit bis zur Bewegungsfreiheit – ohne sachliche Grundlage. Es ist also durchaus nicht abwegig, von einer Art „Ermächtigungsgesetz“ zu sprechen (obwohl ich das Wort nicht verwenden würde). Hier geht es der Demokratie an den Kragen, nicht bei irgendwelchen Querdenkerdemonstrationen, die die Medien so gerne aufgreifen.
Mit der Novelle des Gesetzes hat sich die Politik ein passgenaues machtvolles Instrument geschaffen, das sie jederzeit einsetzen kann. Der tiefere Sinn besteht in der Ausübung realer und sachlich ungebundener Macht mit unabsehbaren Folgen. In diese Richtung hat sich auch der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann geäußert, der für Maßnahmen gegen die „Pandemie“ plädierte, „die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig“ sind, was ein offenes Plädoyer für ein rechtwidriges Vorgehen darstellt. Letztlich auf nichts anders zielt auch die verhängnisvolle Entscheidung des BVerfG zum Klimaschutz, nämlich auf eine solche Struktur legaler, aber nicht legitimer staatlicher Machtausübung. Sie hält freiheitseinschränkende Maßnahmen für den Klimaschutz für möglich und billigt sie. Willkürliche, von einer panischen oder auch fanatisierten Mehrheit behauptete Kriterien können dann das politische und legislative Handeln durch Grundrechtseinschränkungen bestimmen; denn es braucht nicht mehr als einen souveränen Beschluss des Bundestages.
Denkt man einen Klimanotstand in Analogie zu dem Gesundheitsnotstand und dem legislativen Vorgaben, wie sie im IfSG gefasst sind, stehen dem Bundestag zur Ausrufung eines Klimanotstandes die analogen Möglichkeiten zur Freiheitsbeschränkung, also Grundrechtsverkürzungen, zu, wie sie eben in Anlehnung an die Äußerungen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages dargestellt wurden. Werden vom Bundestag definierte Kriterien, die er autonom festsetzen kann, ohne dass objektiv eine Notlage bestehen müsste, erfüllt, so kann, wieder in Analogie zum Gesundheitsnotstand, der Klimanotstand erklärt werden. Das muss nichts mit dem realen Klima zu tun haben. Die Realität wird dann durch Fiktionen des Gesetzgebers ersetzt, die medial problemlos als Realitäten verkündet werden können.
Der Beschluss des BVerfG eröffnet Möglichkeiten von Eingriffen in Grundrechte, wenn die Politik auch ohne sachliche Grundlage meint, sie seien für den Klimaschutz nötig. Vorsichtshalber hat das BVerfG den Hinweis darauf, dass nationale Maßnahmen angesichts der globalen Lage ineffektiv sein können, gleich als irrelevant ausgeschlossen; denn „der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen“ (Leitsatz 2 c, S. 4). Die staatliche Verpflichtung bestehe trotz der Tatsache, „dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung des Problems des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt“ (LS 2 c, S. 4). Eine besondere Pointe liegt zusätzlich darin, dass Grundrechte wegen Ereignissen eingeschränkt werden dürfen, die ungewiss sind, in der Zukunft liegen, über die wir also nichts wissen, sondern nur Vermutungen anstellen können, Hochrechnungen, Simulationen:
„Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung (!) vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20 a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft“ (LS 4, S. 2). Der Schutz künftiger Generationen vor möglichen künftigen Entwicklungen macht aktuelle Maßnahmen rechtmäßig - ob sinnvoll oder nicht; denn es ist notwendig, die Lebensgrundlagen so zu „hinterlassen“, „dass nachfolgenden Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten“ (LS 4, S. 3). Damit ist letztlich einer grünen Ideologie Genüge getan, die sich als Wissenschaft geriert und – wie das BVerfG in diesem Verfahren – anderen Meinungen keinen Raum geben kann. Damit billigt der Rechtsstaat im Namen einer unsicheren „Klimarettung“ unsachliche und wissenschaftlich nicht gerechtfertigte Rechtssetzungen, die sich auf eine unbekannte Zukunft beziehen, also Willkür. Insgesamt zeigen sich darin Tendenzen zum Ausnahme- und Maßnahmenstaat, in dem eine (behauptete) „Not“ regiert, nicht aber Recht und Gesetz, wie es die Verfassung vorsieht. –
Muss es also so kommen, dass bei uns bald chinesische Zustände herrschen? Die Geschichte ist nicht vorhersagbar. Und falls ja: wäre das für die Mehrheit der Betroffenen wirklich schlimm – oder würden sie es im Sinne eines gewollten Versorgt- und Behütetseins willkommen heißen? Die Römer kannten die Befriedigung der Massen durch panem et circenses. Heute müssen die User und Gamer zufrieden gestellt werden. Was folgt aus alledem? Es folgt jedenfalls nicht, die Kritik an den herrschenden Zuständen aufzugeben; nötig aber ist, ihre begrenzte Reichweite zu bedenken und sich auf die technologische Wende auch analytisch und politisch einzustellen.
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