In unseren letzten Druckausgaben findet sich eine zweiteilige Kritik des chinesischen Politikentwurfs aus dezidiert westlicher Perspektive. Hans-Georg Deggau reagiert auf unserem Blog seinerseits mit einer zweiteiligen Replik, zunächst mit einem ernüchterten Blick auf westlich-konservativ grundierte Therapie- und Lösungsansätze für die europäische Großkrise von David Engels bis Egon Flaig.
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Der aufschlussreiche zweiteilige Beitrag „Der Judaskuss der chinesischen Dystopie“ (TUMULT Frühjahr und Sommer 2021), gewährt einen erstaunlichen Einblick in die technologischen und politischen Entwicklungen in China. Die Autoren Lehmann und Weber entwerfen ein dunkles Zukunftsbild. Sie schauen kritisch auf die chinesischen Verhältnisse, die als historisch höchst bedeutsame Gewitterwolken im Osten aufgezogen sind. Sie befürchten, auch bei uns könnte sich ein totalitärer Überwachungsstaat à la chinoise entwickeln, die Entstehung „einer unsichtbaren Dystopie – der gläsernen Versklavung unseres Geistes“. Im Folgenden will ich zunächst die Validität der europäischen Kritik an der chinesischen Politik, sodann prüfen, wie weit bei und die Dinge in Richtung auf totale Gesellschaft gediehen sind.
Die Autoren gehen davon aus, dass China einen globalen Machtanspruch erhebt, den es unter Einsatz der prononciertesten Technologien realisieren will. Dass das Reich der Mitte „global anwendbare digitale Regierungstechnik“ durchzusetzen versucht, erscheint ihnen evident. Ein wesentliches Ziel sei es, die Vormachtstellung der USA zu brechen, ihre Wirtschaft und die Bedeutung des Dollar zu überwinden. Dazu gehörten die Entwicklung einer „digitalen Währung auf Blockchain-Basis“ sowie die zentrale Steuerung der Wirtschaft. Als Basis dafür soll die DCEP, die Chinese Digital Currency Electronic Payment, dienen. Diese Technologie erlaubt eine effiziente Überwachung aller finanziellen Transaktionen und reduziere so die Möglichkeiten illegaler Aktionen wie Geldwäsche oder Betrug. Als Folge wird das Bankwesen verzichtbar. Die Blockchain-Technologie wird zentral und in ihrer weiteren Entwicklung vom Staat gefördert und forciert. Das System, das China mit der Einführung einer digitalen Währung begonnen hat, solle ein „unumgängliches System zur Verwaltung einer Weltgesellschaft“ werden.
Das Überwachungssystem ist in einigen Millionenstädten schon in Betrieb. Erforderlich für dieses totale Steuerungssystem sind umfassende Informationen über die einzelnen Bürger. Diese lägen in China schon weitgehend vor und wurden anlässlich der Corona-Krise durch eine „Health-App“ noch erweitert. Das erleichtere die Sammlung und Auswertung der Individualdaten. Zur gesamtgesellschaftlichen Steuerung wurde das Konzept „Governement-as-a-platform“ entwickelt. Es soll in Zusammenarbeit des Staates „mit Partnern aus der Privatwirtschaft, mit Bürgern und sogar mit Robotern“ die Effizienz und Sicherheit der öffentlichen Dienste erhöhen – so die offizielle Lesart. Die Aktivitäten und Kontakte der Bürger werden gespeichert und für verschiedene Bereiche (Politik, Gesundheit, Arbeit, …) ausgewertet. Demokratisch legitimierte Instanzen oder Institutionen sind dabei überflüssig. Das Endziel: „alle Menschen mittels einer Smartphone-App zu betreuen“. Das bedeutet die Aufgabe jeglicher Privatsphäre. Die „vollständigen Kontrolle einer Gesellschaft mit geo- und finanzpolitischen Mitteln“ erscheint so realistisch.
Dieses umfassende Konzept der „Volks“-Herrschaft soll nicht auf China begrenzt bleiben, da es für alle Staaten tauglich ist. Die Autoren vermuten, dass „China sein hocheffizientes >Völkermanagement< den Ländern der Welt kostenlos zur Verfügung stellen“ wird, so dass ärmere Länder gerne auf dieses Angebot eingehen werden. Damit könnte China „die Welt unblutig, aber vollständig beherrschen“. Die USA werden leise entmachtet, China tritt an ihre Stelle. Dass das Land seine demographische Entwicklung mit Argwohn betrachten muss und deshalb eine Drei-Kind-Politik eingeführt hat, dass es die großen Massen der Landbevölkerung und der Wanderarbeiter bildungsmäßig integrieren muss, auch seine Territorialansprüche im südchinesischen Meer, das Großprojekt der neuen Seidenstraße oder das finanzpolitische Engagement in Afrika und anderswo ist hier nicht Thema.
Diese Kritik arbeitet, wie der Titel schon anzeigt, mit harschen Worten und verurteilt die chinesische Entwicklung aus einer europäischen Freiheitsperspektive. Die Argumentation wirkt auf den ersten Blick überzeugend, wenn man diese Perspektive teilt, weckt aber bei näherem Hinsehen Zweifel. Schon der „Judaskuss“ im Titel spricht von Verrat; der Text selbst versteht Chinas Politik als „Verrat des Menschen an sich selbst“. Was steht hier auf dem Spiel? Auf welche Weise kritisieren die Autoren die chinesische Entwicklung und die Tendenz zu einem totalen Überwachungsstaat? Sie rekurrieren auf althergebrachte europäische Vorstellungen vom Menschen. Sie sprechen von „Versklavung“, um die Freiheit zu betonen. Sie kritisieren die Unwissenheit der Versklavten, um für Reflexion, Information und Aufklärung zu plädieren. Sie handeln vom „Verrat des Menschen an sich selbst“, „von der Abschaffung des Menschlichen“, um diese Prozesse im Namen des Menschen zu verurteilen und seine Menschlichkeit als fundamentale Gegenposition zu verklären. Sie polemisieren gegen Menschen, die begonnen haben, ihre „Versklavung zu lieben“ und ihren freiwilligen Freiheitsverzicht. Die behauptete Dystopie ziele auf die Vernichtung dessen, „was den Menschen ausmacht“. Mit ihr werde tendenziell „das westliche Konzept von Freiheit auf dem Richtblock des Henkers geopfert“, um „Sicherheit und Bequemlichkeit“ zu gewinnen. Ihre Perspektive ist, wie die Autoren selbst sagen, die „der westlichen Auffassung in individueller Freiheit und Selbstbestimmung“.
Gegen die globalen modernen technologischen Entwicklungen, die zu einer hoch kontrollierten Gesellschaft zu führen drohen, werden hier die alten europäischen Werte gesetzt: ein behauptetes Wesen des Menschen, seine Freiheit und Selbstbestimmung. Diese Perspektive – eurozentrisch – hält an dem Begriff des mündigen und freien Bürgers fest, obwohl sie kaum noch Substanz hat, zur Phrase für Sonntagsreden verkommen ist und sich längst als Illusion erwiesen hat. Die Zerstörung der europäischen Traditionen ist weit fortgeschritten, faktisch und ideologisch. Es wirkt deshalb bei näherer Betrachtung eigenartig, einer fundamentalen, möglicherweise unumkehrbaren technologischen Entwicklung eine alte und in vielem als Illusion durchschaute Ideologie entgegenzusetzen.
Diese Struktur findet sich, so meine Vermutung, bei vielen kritischen Stimmen. In ihren Analysen vieler Phänomene der Gegenwart sind sie überzeugend, in den zugrunde liegenden Kriterien ihrer Kritik aber wirken sie in einer Epoche tiefer Umbrüche halt- und hilflos. Sie rekurrieren auf die europäischen Topoi von Freiheit und mündigem Bürger. Sie halten alle die großartigen und in das allgemeine republikanische Gedächtnis eingegangenen Argumente und Gedanken der großen europäischen Philosophie fest. Aber das „autonome Subjekt“ ist so illusorisch wie der „mündige Bürger“ oder der opferbereite Republikaner. Ich glaube, dass alle diese gelehrten und klugen Schreiber, die sich wehren, wissen, dass sie auf verlorenem Posten stehen. In ihrer Verzweiflung greifen manche auf unglaubwürdig gewordene Traditionen oder überkommene Topoi zurück. Dass sich die Kritik der chinesischen Entwicklungen auf den europäischen Freiheitsbegriff und das sog. Menschenbild beruft, ist problematisch, weil der Sache kaum angemessen. Warum ist ein solcher Rekurs aber nötig? In ihm zeigt sich nicht das Dilemma, mit Argumenten zu kritisieren, die brüchig sind, und zu schreiben, obwohl die Wirkungen sehr zweifelhaft sind, das Tun also vergeblich sein könnte.
Ich will meine These des häufigen Rückgriffs auf den abendländischen Theoriebestand kurz an unterschiedlichen, zufällig ausgewählten Autoren und ihren Texten überprüfen, nämlich an der Soziologin Gabriele Kuby, die die moderne „sexuelle Revolution“ und ihre verhängnisvollen Folgen thematisiert; an den Althistorikern David Engels und Egon Flaig, die den politischen und geistigen Zustand Europas thematisieren, an den Philosophen Rudolf Brandner, der die Signatur der Epoche dingfest zu machen sucht, und Harald Seubert, der mit Heidegger davon überzeugt ist, dass wir in einer Übergangsperiode der Seinsgeschichte leben. Die Komplexität dieser Werke ist hoch und kann hier nicht angemessen, sondern nur sehr verknappt und zugespitzt dargestellt werden.
(1.) Gabriele Kuby
Ihre Darstellungen und Analysen (Die globale sexuelle Revolution6, 2016; Arme Kinder, Cato 2/21) zeigen in bestürzender Weise, wie weit die Zerstörung von Freiheit und Individuum im Namen von Freiheit und Individuum fortgeschritten sind, unterstützt von internationalen Organisationen, Staaten und einer Vielzahl von oft öffentlich finanzierten NGOs. Ihre Kritik zielt auf die sexualpädagogischen Initiative gegen Kinder und Jugendliche und die Angriffe auf die Familie. Sie weist eine erstaunliche moralische Verkommenheit der Gesellschaften nach, die sich auch einem naiven Standpunkt des gesunden Menschenverstands erschließen.
Aber was setzt sie dagegen, aus welcher Perspektive führt sie ihren Kampf? Es ist die heute nicht mehr tragfähige Sexualmoral der katholischen Kirche. Sie rühmt eine heile christliche Familie, die es vermutlich nie gegeben hat. Letztlich empfiehlt sie eine „Erziehung zur Keuschheit“, erklärt ein Kind „als Geschenk Gottes“, vor dem jeder einzelne Verantwortung zu übernehmen habe, damit der „Plan Gottes mit den Menschen“ aufgeht; sonst drohe der „Verlust des ewigen Heils“. Auf der gleichen Linie der katholischen Sexualmoral soll die „Familie durch lebenslange eheliche Bindung eines Mannes und einer Frau“ begründet werden, die auf Kinder zielt. Damit beschwört sie eine Welt herauf, die es so wohl nicht gegeben hat und die auch für gläubige Katholiken eine Herausforderung darstellt, übersieht alle negativen Seiten der Institution Familie und bietet weder analytisch noch praktisch eine Zukunftsperspektive.
(2.) David Engels
Kuby liegt mit ihren Vorstellungen ganz auf der Linie der aktuellen polnischen Regierung, den Schutz der natürlichen Familie zu gewährleisten und sie als Institution zu verteidigen. Diese Politik begrüßt auch David Engels (Auf dem Weg ins Imperium; Präambel, Cato; Briefe aus Warschau, Cato fortlaufend; Was tun?) mit seiner Kritik an den EU-Institutionen, „die unter dem Vorwand des Minderheitenschutzes aktiv an einer Unterhöhlung der letzten Reste von Stabilität arbeiten, die das Abendland vor der völligen Implosion schützen.“ Sich gegen die propagandistische Frühsexualisierung schon in Kitas u.ä. zu wehren, solle einem nicht indoktrinierten Bürger trivial vorkommen, was es aber in der aktuellen Lange und bei der Macht des „bunten“ Mainstreams nicht ist. Zur „Rettung“ greift auch Engels auf alte Traditionsbestände zurück. Er entwirft eine „Präambel zur Verfassung einer Europäischen Konföderation“, in der „vor Gott und unserem eigenen Gewissen“ ein „Bekenntnis aus den Weiten unserer Überlieferung“ gefordert wird.
Der tragende Rekurs auf Tradition und Erbe als Bekenntnis „zu eigenen kulturellen Werten“ und den „Erfahrungen der Vergangenheit“ schließt bei Engels das Christentum ein. Aber die geforderte „sorgsame Pflege der geschichtlich gewachsenen kollektiven Identitäten“ und die „Wiederbelebung der kulturellen Wurzeln unserer Identität“ stellen sich als schwierig heraus; denn „Europa verfällt vor unseren Augen“. Wir müssen „leben mit dem Wissen, dass die Tage der abendländischen Zivilisation, so wie wir sie heute kennen, gezählt sind“. Damit ist das objektive Dilemma der Verfechter der abendländischen Traditionen gekennzeichnet: das Unheil liegt klar vor Augen, aber Abhilfe ist nicht in Sicht, weil die Beschwörung der vergangenen Größe nicht weiterhilft. Also: „Was tun?“
(3.) Egon Flaig
Der Rückgriff auf überkommene Werte und Tugenden prägt auch die Folgerungen von Flaig, die sich aus seinen Gegenwartsanalysen ergeben. Er spricht das Motiv klar aus, das für die Autoren ein Antrieb sein dürfte: „das Überleben der abendländischen Kultur“. Die Grundlagen der aktuellen Demokratien des Westens, denen „die Fähigkeit zum kollektiven politischen Entscheiden abhanden gekommen“ sei, hält er aus deren eigenem Verschulden für defizitär, da die Gemeinwohlbindung fehle. Er sorgt sich um den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Rechte des einzelnen. Die Auflösung der Staaten und die gleichzeitige „sozialistische Ausweitung“ ihrer Aufgaben gefährden den Bestand der Demokratie als wichtiger und bewahrenswerter politischer Form. Gerechtigkeit und Freiheit, zwei klassische Grundbegriffe der politischen Philosophie, müssten jedenfalls gewährleistet sein, um die Stabilität der Staaten zu garantieren. Werden die Bürger zu „freien Untertanen“, droht Unheil, denn Untertanen „sind außerstande, die Demokratie zu bewahren“. Ein starker Gemeinwohlbegriff ist für ihn unabdingbar.
Seine Überlegungen halten den Begriff eines Bürgers für zentral, den es heute vermutlich kaum noch gibt. Flaigs Forderung, der Bürger solle Opferbereitschaft zeigen, geht ins Leere. Sie dürfte so wenig verstanden werden wie die, die er unter Berufung auf Kant und Schiller als Maxime einer Dankbarkeit gegenüber den Vorfahren artikuliert; und das, obwohl er selbst von einer „Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten“ spricht. Das scheint weltfremd. Der dankbare und opferbereite Bürger ist nicht einmal eine brauchbare Fiktion. Da hilft auch ein Rückgriff auf Platon und Seneca nicht weiter. Ist es die Verzweiflung über die Zustände, die ihn ein Gebäude ohne tragfähiges Fundament errichten lässt?
(4.) Rudolf Brandner
Anders liegen die Dinge bei Brandner (Warum Heidegger keine Ethik geschrieben hat, 1992; Analytik des Gutmenschen, TUMULT Sommer 2016). Tiefschürfender versucht er in der Auseinandersetzung mit Heidegger das Wesen der technologischen Zivilisation auf den Begriff zu bringen. Er charakterisiert es durch seinen Grundzug zur „Ent-negativierung“. Zwar hält Brandner die von ihm mit „Nicht“ bezeichnete Widerständigkeit der Welt und ihrer Erfahrung durch den Menschen für „konstitutiv für seinen Lebensvollzug“, gleichsam als anthropologische Qualität. Dieses „Nicht“ ist für ihn „die Gesamtheit aller existenziellen >Negationsphänomene< wie Arbeit und Mühsal, Anstrengung und Verzicht, Entfremdung und soziale Ausgeschlossenheit, Scheitern und Versagen, Schmerz und Unglück, Verletzung und Krankheit“ – also fast alle negativ bewerteten Widerfahrnisse. Ohne diese Phänomene des „Nicht“ sei kein sinnvolles, sich bildendes menschliches Leben möglich. Deshalb habe der Mensch „die Aufgabe, das Nicht leben zu können“. Dieser Aufgabe ist er heute nicht mehr gewachsen. Und die Ent-negativierung schreitet voran. Nicht die Verdinglichung ist danach das Problem, sondern die „Ent-gegenständlichung“; heute gefasst als Un-ding: die Information oder die virtuelle Realität.
Die moderne Welt sei dadurch gekennzeichnet, dass Technik und Wissenschaft „auf die Verfügung des Nicht und allen physischen Seins zur Herstellung eines ent-negativierten Innenbereichs“ zielen, vulgo: auf Erleichterung des Lebens, Hilfe in jeder Notlage (auch ohne Not), Fortschritt als Steigerung der Bequemlichkeit und Entlastung von Misslichkeiten. Der heutige Transhumanismus formuliert das als Steigerungsverhältnis in der „technischen Negation von Arbeit, Mühsal, Schmerz oder Krankheit“. Als Versuch der Überwindung der Physis soll sich eine Meta-Physik als „Angriff auf die Grundstruktur physischen Seins – seine Negativität“ bilden, in der die Existenz eine neue Form „als die physisch–soziale ent-negativierte Wirklichkeit der Menschheit gewinnt. Damit entsteht ein Gefühl des Verlustes, so dass die Wirklichkeit in ihrer Härte z.B. im Extremsport gesucht wird. “. In der Konsequenz dieser Theorie wäre eine Gesellschaft der totalen Kontrolle und der technologischen Vernichtung des „Nicht“, der stringenteste Ausdruck der modernen Entwicklung. Der Gutmensch wäre Produkt und Vollender dieser Tendenz. Dann aber stellt sich heraus: auch Brandner kann dem Dilemma zwischen einer hellsichtigen Analyse und dem Rückgriff auf vergangene traditionelle Topoi nicht entkommen.
In seiner „Analytik des Gutmenschen“, fast 30 Jahre später, verurteilt Brandner genau das, was er als Entwicklung der technologischen Zivilisation beschrieben hatte. Diese ziele auf die „Befreiung des Menschen von aller Negativität“ und könne dem „Erkenntnisverhalten der Vernunft“ nichts abgewinnen. „Der Moralfanatismus des >politisch Korrekten<“ weise einen „Vernichtungs- und Vertilgungswillen“ auf, so dass von ihm „die ethische Diffamierung aller anderen ausgeht“. Die damit einhergehende „Heuchelei und Selbstverstellung“ halte „Vulgarität für Freiheit“. So folge der Gutmensch „dem technologischen Wunschdenken der Beseitigung allen Übels“ und fordere deshalb „die allseitige Unverletzlichkeit“. Er kritisiert die Gutmenschen, also die Subjekte, die nach seiner Erkenntnis dem neuen Zeitalter der Ent-negativierung angemessen sind, und tut das im Namen des Ideals einer menschlichen Bildung, die das Nicht akzeptiert und sich an ihm abarbeitet. Er verlässt damit seine analytische Linie und argumentiert letztlich moralisierend: der Gutmensch repräsentiere „ein habituell gewordenes Unvermögen, mit der realen Negativität menschlicher Verhältnisse umzugehen“. Ist der Gutmensch nicht der adäquate Ausdruck dessen, was Brandner als Signatur des Zeitalters herausgearbeitet hatte? Woher also der Affekt gegen den Gutmenschen?
Brandner will sich dem Zeitgeist nicht beugen. Er rekurriert auf klassische Vorstellungen von Bildung. Er negiert mit Verve die Wirklichkeit, die er analysiert hatte. Er hält sie für falsch, da sie die Negativität des lebendigen Lebens negiert. Damit kann er diese unerwünschte Wirklichkeit nicht überwinden, aus der Negation der Negation geht nicht das richtige Leben in seiner sich am Widerstand der Welt abarbeitenden Bildung und Formung hervor. Auch er rekurriert, weil er mit der ent-negativierten Wirklichkeit nicht einverstanden ist, auf traditionelle Vorstellungen über ein adäquates menschliches Leben, da sich seiner Aufgabe stellt. Besonders deutlich wird diese Haltung in Brandners Kritik des Corona-Regimes. Er stellt sich im Namen der alten Werte gegen die von ihm diagnostizierte Entwicklung. Aber n ein zu „re-animierendes Freiheitsbewusstsein“ glaubt niemand mehr.
Brandner will das Alte „zu einer grundlegenden Selbstbesinnung“ der Moderne nutzen, die er „nicht an sich selbst zugrund gehen“ lassen will. Er fordert vom modernen Staat eine „Anerkennung des Bürgers als mündigem Subjekt“ und kritisiert, dass der Staat den Bürger „in seiner Eigenverantwortlichkeit entmündigt“. Brandner beharrt auf dem „modernen Freiheitsbegriff“ und dem „eigenverantwortlichen Handeln der Bürger“. Die Verantwortungsdiffusion und „der Zug zur KI“ „ersetzt das freie, sich selbst bestimmende und eigenverantwortliche Denken und Handeln“. Zugleich konstatiert er „die existenzielle Leere und Orientierungslosigkeit“ und die „moderne Angst vor der Freiheit“ – wie aber sollte der existenziell leere und orientierungslose Bürger sich finden? „Die freie Kraft des Selbstseins, mit Gegensätzen umzugehen, Herausforderungen durchzustehen und daran zu wachsen“, gilt ihm als Ideal menschlicher Bildung. „Dem moderne Verhältnis von Bürger und Staat“ hält er die Treue, obwohl es längst zu einem fast einseitigen Leistungsverhältnis degeneriert ist und von „autonomer Selbstbestimmung des einzelnen“ nur noch eingeschränkt die Rede sein kann. Trotzdem scheint mir, dass Brandners Gedanke der Ent-negativierung der Welt als anthropologisch verankertes Bemühen des Menschen, sich dem Negativen nicht zu stellen und es zu vermeiden, einen starken sachlichen Anhaltspunkt für eine Kritik der Entwicklung zur Dystopie leisten könnte.
Brandner verfährt in der Sache also letztlich nicht anders als Flaig oder Engels, indem er mit alten Bestimmungen und Setzungen Kantscher oder Hegelscher Provenienz operiert. Das ist erstaunlich, weil die von ihm festgestellte Tendenz zur Ent-negativierung der Welt in der Corona-Politik des Staates konsequent auch nur eingebildete Widrigkeiten unter Einsatz von Lügen und sinnlosen Zahlen zu überwinden sucht.
(5.) Harald Seubert
Neben diesem argumentativen Strang des Rekurses auf das abendländische Erbe gibt es auch andere Auffassungen, von denen hier nur eine kurz dargestellt werden soll. Harald Seubert (TUMULT Herbst 2020) entwickelt im Rückgriff auf Heidegger eine andere Perspektive. Er stellt zunächst fest, dass „immer noch an eine >humane Kultur<“ appelliert werde, die allerdings „zur bigotten Fassade“ verkommen sei. „Die menschliche Weise, in der Welt zu sein“, sei „unkenntlich gemacht“, „der Homo humanus im Kern längst ersetzbar geworden“; denn „der neue >Weltbürger< (hat) weder eine Welt noch (kann er) Bürger sein“. In dem digitalen Kosmos werden „Weltsimulationen“ erzeugt, gegen die Widerstand absurd werde. Der homo digitalis ersetzt den homo humanus. Das Pathos des Anthropos bricht sich am implantierten Chip. „Die großen Ideologien erweisen sich als Bestände, anachronistisch einerseits, letztlich der globalen Unifizierung nicht gewachsen“. Denken „ist in keiner Weise imstande, die digitale Macht zu >brechen<“. also „Was tun?“ (Engels)? – sollte diese Frage für ihn noch legitim sein.
Seubert bringt „Lanthanonten“ (von gr. lanthano, verborgen/unbekannt sein oder bleiben) ins Spiel, die „Wenigen, Seltenen“, die Verborgenen, die „niemals im Hauptstrom schwimmen“. Er plädiert für die Heideggersche Haltung, nämlich „die einer >inneren Emigration< und standhaltenden Abstandnahme“. In einer Welt, die den Homo humanus nicht mehr braucht, ihn zum User degradiert. Die Digitalstruktur der Welt lässt auch dem Denken keine Möglichkeit mehr, „wenn man sich ihr nicht lanthanontisch entzieht“. Die Gegenwart begreift er mit Heidegger als Übergangsepoche der Seinsgeschichte. Demgegenüber „ist jeder Aktionismus Teil der Seinsverwahrlosung“. Gefordert ist eine „Haltung, in der im besten Fall die Verwindung des lanthanontischen Schmerzes mit der Gelassenheit als Seinlassen konvergiert“.
Das erinnert stark an gnostisches Denken, bei dem die wenigen, Wissenden, Erleuchteten den Schlüssel zur Erlösung haben, das Erlösungswissen, das auf den Zeitpunkt wartet, an dem die Zeit des Übergangs vorüber ist. Das trifft sich mit esoterischen Strömungen, die ihr Geheimwissen bewahren wollen und nur wenigen Zutritt zu ihrem Reich gewähren. Solche Vorstellungen dürften die wenigsten überzeugen. –
Diese Analysen von Phänomenen der Gegenwart sind oft glänzend und zutreffend, wobei der Leser bei allen Autoren immer wieder von seiner eigenen Zustimmung zu den alten Topoi überrascht wird. Aber gegen den Zeitgeist haben sie keine Chance. Vereinfacht und pointiert gesagt, sehen wir einen Rekurs auf Vergangenes und dessen Beschwörung, der insofern elitär ist und deshalb auch in seiner Wirkung reduziert bleibt, weil der Resonanzboden einer einst gebildeten Schicht mehr und mehr ausfällt oder sich begrünt hat. Der Bildungsbürger liegt in seinen letzten Zügen. Wer sollte diesen Kampf um die Vergangenheit denn führen? Wer sollte ihre großen Schätze wirksam heben?
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