Als das Literarische Quartett jüngst im Rahmen der Frankfurter Buchmesse auch Eugen Ruges Stalinismus-Roman 'Metropol' besprach, griff Gastkritikerin Sibylle Berg, statt unnötig lange beim historisch-linken Schrecken zu verweilen, zielsicher auf das mythisch-rechte Böse zurück, um ihren - diffusen? - Ängsten vor ominösen Todeslisten oder neurechten Verlagen Ausdruck zu verschaffen. Wovor sich demgegenüber der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt, emeritierter Professor an der Universität des Saarlandes, im Nachgang der Morde von Halle ängstigt, hat er TUMULT zur Dokumentation anheimgestellt.
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Wieder einmal hat die politische Zerklüftung in diesem Land Menschenopfer gefordert. Man nimmt Anteil oder resigniert. Und selbst der Versuch, seine Bestürzung angemessen auszudrücken, verebbt im Chor der falschen Töne oder stößt an Grenzen zur moralischen Banalität, mit der wir uns nicht begnügen dürfen. Sehen wir tiefer!
1. Ja, es gibt hierzulande Grund, sich zu fürchten. Durch Politik und Gesellschaft bedingte oder stimulierte Gewalt ist Teil unseres Alltags geworden. Eine von postdemokratischen Unzulänglichkeiten bestimmte öffentliche Kultur und die mangelnde Bereitschaft, über Interessens- und Empfindungsdifferenzen angemessen parlamentarisch zu streiten, birgt in zunehmendem Maße Konfliktpotential. Gewaltaffine Trittbrettfahrer, die ihre persönlichen Probleme ideologisch bemänteln, klinken sich ein. Das gilt von einer (teils sogar öffentlich alimentierten) linksextremistischen Antifa-Szene bis zu Hooligans unter rechter Flagge.
Zur „konventionellen“ Kriminalität ist eine durch Massenimmigration verursachte hinzugetreten, die im Schnitt täglich ein Menschenleben fordert. Es gibt auch (als Bruchteil dieses Quantums) Tötungsdelikte im sog. „rechten“ Lager, begangen aus einer Mischung von Charakterdefekten, verpatzter Sozialisation und Frustration über das, was uns täglich von unserer politischen Klasse zugemutet und durch verbreitete mediale Tabuisierung verstärkt wird. Wir müssen also wohl in absehbarer Zeit mit zwei kontradiktorischen zusätzlichen Kriminalitätstypen leben – als Folge sozialer Verheerungen, die sich bislang leider erst wie Vorboten ausnehmen. Eine wahrlich beunruhigende Aussicht!
2. In der öffentlichen respektive veröffentlichten Einschätzung dieser (politischen) Verbrechensformen stehen sich zwei unterschiedliche Wahrnehmungen gegenüber: eine privilegierende, verständnisvolle und eine gänzlich verdammende, Verständnis verweigernde. Im ersten Fall belehrt uns das politmediale Establishment, sei es falsch oder gar unmoralisch, sich über Morde und Attentate besonders zu empören. Wir hätten Ruhe zu bewahren, dürften keine „Ängste“ schüren. (Nebenbei gesagt: Je konkreter und anschaulicher sich Gefahren zeigen, umso häufiger verwenden unsere „korrekten“ Lehrmeister das Wort „Angst“ im Plural, vielfach mit dem Zusatz „diffus“.) Aber auch im Singular gilt: „Angst ist ein schlechter Ratgeber.“ Und so melden sich zahllose bestellte oder selbst ernannte psychologische Gutachter, die vieles tun, um im Mainstream-Interesse zu „deeskalieren“ und einer angemessenen Bedrohungsanalyse entgegenzuwirken. Denn keinesfalls dürfe man verallgemeinern und sich schon gar nicht in Panik vor den Karren von „Populisten“ spannen lassen.
Die Gewaltszenerie bevölkern gemäß dieser Lehre weithin Einzel- respektive Beziehungstäter. Viele ihrer Motive seien „ungeklärt“. So wird etwa ein terroristischer Hintergrund eines Amokfahrers allein deshalb ausgeschlossen, weil man (noch) kein ihn stützendes Netzwerk gefunden habe. Zuweilen wird tödliche Gewalt durch (über)betonte Traumata fast entschuldigt (Muster: „Was muss einer gelitten haben, um so etwas zu tun.“). Verbreitete Apologien nennen die Täter „geistig verwirrt“, was den Opfern allerdings wenig Trost spendet. Ansonsten sind sich unsere „Qualitätsmedien“ einig, dass man nicht über alle Fälle berichten soll. Selbst eine Enthauptung auf offener Straße sei nicht zwingend ein öffentlich-rechtliches Nachrichten-Muss.
Gänzlich andere Wertung erfährt die unterprivilegierte zweite Verbrechenskategorie. Für sie gibt es – muss ich es überhaupt noch ausführen? – natürlich keine irgendwie nachvollziehbaren Beweggründe. Hier befinden wir uns – laut Medien – in einer gänzlich amoralischen Sphäre eigentlich unergründbarer Verruchtheit bzw. ungeheuerlicher, unfassbar irrationaler, unverzeihlicher Hasstaten. Wer immer für sie ein relativierendes Wort einlegen sollte, und sei es zur puren Rechtswahrung, wird den Ruf als Verharmloser oder gar Sympathisant kaum noch los. Von „Einzeltaten“ oder „-tätern“ ist fast nie die Rede, dafür umso häufiger von einem auszutrocknenden „braunen Sumpf“, in dem sie, von „dumpfen (Internet-)Parolen“ gespeist, offenbar zu Dutzenden hausen. Mehr noch: Sie repräsentieren eine ganze Politszene, wie selbst unser seriös recherchierender Bundespräsident weiß. Man kann also den Kreis dieser angeblich verbrecherischen Stichwortgeber, Drahtzieher oder geistigen Brandstifter gar nicht groß genug ansetzen. Ausrotten müsse man das ganze alternative Treiben mit Stumpf und Stiel. Allzu lange sei man ohnehin zu nachsichtig gewesen, heißt es, ungeachtet des Umstands, dass schon seit Jahrzehnten jedes einschlägige halbwegs aggressive Wort mindestens politkriminalisiert wird.
Eine Staats- und Medienwelt, die diagnostisch solche (nicht zuletzt öffentlich-rechtliche Rundfunk-)Blüten treibt und unter die Leute streut, ist schlechterdings furchterregend. Denn sie zielt auf eine (von Lieschen bis Dr. Lieschen Müller reichende) schafsdumme Bevölkerungsmehrheit, der man durch Wiederholung und suggestive Bilder offenbar fast alles eintrichtern kann.
3. Kommen wir zur schamlosen Instrumentalisierung der Balliet-Morde, die man gesinnungsmäßig flugs der AfD in die Schuhe schob, was bezeichnenderweise selbst Halles Jüdische Gemeinde rügte. Die Attacken des Establishments erfolgen gegen jede Plausibilität und moralisch verantwortbare Auslegungslizenz der alternativen Politagenda – aber was heißt das schon, sofern man Medien besitzt, die sich und anderen schlechterdings alles verkaufen. Dabei führt bereits die Frage nach den „Cui bono“ ins Erkenntniszentrum. Denn dass eine (noch dazu im politischen Aufwind befindliche) Partei wie die AfD durch antisemitische Vorfälle ausschließlich verlieren konnte, ist allen klar. Allein deshalb gibt es in der verleumdeten Partei keine nennenswerte Tendenz, judenfeindliche Stimmungen zu schüren. Auch die Existenz der Bundesvereinigung „Juden in der AfD“ spricht dagegen. Und es war die AfD, die immer wieder auf die Gefahr hinwies, die gerade Juden durch islamistischen Extremismus droht.
Der von den Altparteien lancierte Pauschalverdacht ist somit nicht nur skrupellos, sondern zugleich analytisch absurd. Er hat den Wahrheitsgehalt von Außenminister Powells gefälschten Karten mit angeblichen Atomraketen Saddam Husseins. Dass als Replik gegen dergleichen Beschuldigung ein manipulativer Inszenierungs-Verdacht aufkam, gründet vor allem darin, dass die Nutznießer dieses Amoklaufs eindeutig feststehen: jenes Machtkartell, das auf Teufel komm raus eine andere Politik verhindern will.
Immerhin könnte man fragen: Gibt es nicht auch abstraktere Formen von Verantwortlichkeit, z.B. Formulierungen als ideelle Basis für Untaten? Reicht etwa schon die Forderung nach einer anderen Gedächtnispolitik, um Judenfeindschaft zu enthüllen oder zu entfesseln? Das ist eine kurzschlüssige Unterstellung, die zudem den Nachweis zu erbringen hätte, dass unsere seit Jahrzehnten alle Lebensbereiche inkludierende Vergangenheitspolitik tatsächlich der Königsweg zur Verhinderung ethnischer Phobien war. Denn sollten diese endlos-periodischen Antisemitismus-Warnungen zutreffen, darf man doch wohl an einem Erfolgsrezept zweifeln, das auf Schreckenspädagogik setzt und bereits kleine Kinder nach Auschwitz befördern will. Es ließe sich sogar die These aufstellen, dass Exzesstäter wie Stephan B. durch die Penetranz einer Dauerbewältigung erst zu ihren Ungeheuerlichkeiten provoziert werden und dass es aussichtsreicher wäre, wenn jüdische wie nichtjüdische Deutsche ihre Anstrengungen auf eine gemeinsam zu erarbeitende positive Identität richten.
Darüber mag man streiten. Aber dass (im Verein mit Dutzenden anderer Pöbelmeister) Herr Söder einen ungeliebten Politkonkurrenten in rüdester Weise allein deshalb zum Antisemiten erklärt, weil der ein anderes historisches Gedenken fordert, gehört zum eigentlichen Skandal-Kern dieses an Unappetitlichkeiten so reichen Falls „Halle“. Auch dies fördert Angst, und vermutlich ist das sogar sein unausgesprochener Zweck. Und um auch dies noch zu klären, da „Antisemitismus“ meist gleich im Dreierpack gemeinsam mit „Rassismus“ und „Fremdenhass“ serviert wird: Selbst der konsequenteste Befürworter von Abschiebung abgelehnter Asylbewerber bräuchte in einem intakten Rechtsstaat den „Nazi“-Vorwurf nicht zu dulden. Denn Grenzschutz ist nicht Völkermord, und wer dies nicht unterscheiden kann oder will, ist entweder ein einfältiger Vielfaltspinsel oder ein zynischer Demagoge. Vor beiden muss man sich fürchten.
4. Dass aktuell unsere politmediale Klasse, vom Staatsoberhaupt bis zur kleinsten Parteisoldatin, höchste Eskalationsstufe fährt, kann nur in einer weiteren Beschädigung unseres Rechtsstaats enden: Auch in der McCarthy-Ära wurden zahlreiche Meinungsdelikte ersonnen, die im Nachhinein befremden. Und der peinlich versatile Horst Seehofer ruft ja gerade wieder nach juristischen Konsequenzen bzw. hat sie bereits konzeptionell ersonnen. Der Tag scheint nicht mehr fern, an dem (wie verklausuliert auch immer) ein Strafrechtsbestand „geistige Brandstiftung“ im StGB auftaucht. Dass nicht bereits jetzt unter unseren so honorigen obersten Richtern oder Staatsrechtslehrern Alarmsirenen schrillen, ist ein schlechtes Zeichen. Müsste ihnen doch langsam dämmern, dass in einem zunehmend etablierten Verbots- und Gesinnungsstaat in heiklen Lebensfragen der Nation bald überhaupt keine engagierte Opposition mehr betrieben werden kann, ohne dass ihre Träger kriminalisiert werden. Das mag ja manchem aus unserer politischen Klasse erstrebenswert sein, weil es Regieren bequemer macht. Aber um es direkt zu sagen: Das hatten wir im Laufe des letzten Jahrhunderts schon zweimal auf deutschem Boden. Und wer darin Anlass zu größter Sorge sieht, liegt gewiss nicht falsch.
5. Als Antwort auf die gegenwärtige öffentliche Hetze gegen die AfD erfolgten in sozialen Medien verschiedentlich in Zweifeln gründende Gegenattacken. Der Umstand, dass ausgerechnet an diesem Tag ein sonst nicht ganz unüblicher Polizeischutz unterblieb, wurde als verdächtig erörtert, desgleichen dass nun ausgerechnet ein ZDF-Reporter den Täter ablichtete und dabei – welcher Zufall! – denunziatorisch ein AfD-Plakat mit aufs Bild nahm. Man rätselte über Ungereimtes wie Waffenproduktion per 3-D-Drucker, über Platzpatronen-Rauch auf dem Foto, eine doch leicht zu überwindende, niedrige Mauer zur Synagoge, eine fragliche Radio-Einspielung im Tat-Film oder B.s widerstandslose Festnahme. Vermutungen in Sachen „Tiefer Staat“ sprießen, was die Gegenseite wiederum unter leichtgläubige Anfälligkeit für Verschwörungstheorien rubriziert. Ich will das nicht kommentieren. Denn eines scheint mir ohnehin wichtiger und keineswegs weniger makaber als eine unterstellte verdeckte Aktion. Liegt doch das schlechterdings Infame bereits im Medienhype selbst, in einer perfiden Agitations- und Kampagnenroutine zulasten eines Politkonkurrenten, die sich nahezu verselbständigt hat.
Seit Monaten ahnte (nicht allein) ich, dass kurz vor der Thüringen-Wahl irgendetwas zur Verhinderung eines spektakulären Wahlerfolgs passieren würde. Dabei verfügen weder ich noch meine Bekannten über hellseherische Qualitäten oder besondere Nachrichtenquellen im Untergrund. Und gewiss haben wir diese spezifische Irrsinnstat nicht vorausgesehen, die alles an emotionaler Reizüberflutung auslöst und mobilisiert, was die deutsche politische Seele peinigt und gegenüber Manipulationen hilflos macht. Aber vorausgesehen haben wir, dass, sollte nichts von sich aus Skandalwürdiges geschehen, irgendein Ereignis medial so hochgekocht würde, dass es fast Lübcke-Standard erreicht. Wir erwarteten es schlechterdings und hätten darauf gewettet, weil wir inzwischen längst die Mechanismen und Äußerungsformen eines postdemokratischen Herrschaftsverständnisses durchschaut haben. Weil wir wissen, dass man AfD-bezogen gar nicht mehr auf argumentativen Wettbewerb, sondern ausschließlich auf Vernichtungskampagnen setzt. Nur politischen Tölpeln macht das keine Angst.
6. Dem Historiker drängen sich – ähnlich wie im Fall Lübcke – sofort Parallelen auf. Auch Bismarcks Sozialisten-Gesetze kriminalisierten umgehend eine Partei und machten sie für Attentate direkt verantwortlich. Hitler, Goebbels & Co. nutzten den Reichstagsbrand, mit dem die linken Parteien nichts zu tun hatten, zu ihrer „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ – eine Zuschreibung, die vor Bösartigkeit strotzte. Ist es schon so weit, dass deutsche Politik sich wieder solcher Traditionen besinnt? Die Befürchtung, dass noch mehr von dieser Art „Pragmatismus“ übernommen wird, ist schwer zu verdrängen.
7. Ein Freund von mir wollte sich im Netz Details zu Halle besorgen und tat es anhand eines Videos von Hagen Grell. Das dort Gesagte mag falsch oder richtig sein. Ich habe es nicht überprüft. Stattdessen schockiert, welches Risiko hierzulande mittlerweile jemand geht oder welchen Hindernissen ausgesetzt ist, wer sich schlicht informieren will. Vom Fortgang seiner Bemühung kündet sein Bericht: „Ich hatte einige Mühe, dieses Video aufzurufen, ich wurde darauf hingewiesen, dass dies ‚gefährlich‘ sei, und gefragt, ob ich es ‚wirklich‘ öffnen will. Nachdem ich bejahte, wollte man, dass ich meine Email-Adresse UND mein Passwort eingebe, was ich tat. Dann erst konnte ich mir Hagen Grell ansehen. – Und dann der Clou. Kurz nachdem ich euch den Link geschickt habe, wurde ich von meinem Server gesperrt, ohne Angabe von Gründen. Die Sperre dauerte sechs Stunden. Erst danach konnte ich wieder Emails verschicken. Freunde, das ist Nudging vom Feinsten; zu deutsch: Erziehung und Bestrafung. Wir gehen lustigen Zeiten entgegen.“
Ja, das tun wir – im Orwell’schen „Fürsorgestaat“ postdemokratischer Prägung. Und wer sich davor nicht gebührend ängstigt, hat in politicis wohl noch nie etwas wirklich begriffen.
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Über den Autor:
Der Historiker Prof. Dr. Günter Scholdt war bis zum Ruhestand 2011 Leiter des Saarbrücker Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Veröffentlichungen u.a.: Autoren über Hitler (1993); Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten sreiten über den Ersten Weltkrieg (2015); Literarische Musterung (2017); Anatomie einer Denunzianten-Republik (2018) .
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