Bekanntermaßen betrachtete Wiens „Fackel-Kraus“ die Presse als persönlichen, wenn nicht gar Feind der Menschheit überhaupt. Wer dies bloß für die Schrulle eines exzentrischen Literaten hält, spürt nicht die Marter täglicher Medienbehelligung. Weiß wenig von den ins Kraut schießenden journalistischen Sumpfblüten, die selbst Stoiker in politicis stets aufs Neue peinigen. Jüngst wieder empfand ich dies bei der Lektüre von Michael Horenis Artikel „Woher kommt die Wut?“, erschienen am 18. dieses Monats in der FAZ – einem einst seriösen Blatt, das früher sogar eine (im ursprünglichen Wortsinn) ausgesprochen vielfältige Sportsparte besaß.
Doch war das zu Zeiten, als man noch auf faktenbasierte Information Wert legte, nicht nur auf Panpolitisierung im Sinne des Mainstreams und entsprechende „Haltung“, die gerade Horeni so penetrant verkörpert. Mit diesem Statement hat er sich nun vorläufig selbst übertroffen, indem er seinem üblichen Ideologiecocktail noch einen Schuss Heuchelei beimixt. Fragt sich der Biedermann doch tatsächlich, woher denn wohl die Aggressionen einer ominösen Öffentlichkeit gegen den von Australiens Regierung ausgewiesenen Tennisprofi Djokovic und Bayernspieler Kimmich rührten, die sich bislang dem Impfdiktat unserer globalen politischen Klasse verweigerten.
Die naheliegende Antwort, dass daran vornehmlich er selbst bzw. seine Zunftgenossen schuld sein könnten, fällt diesem ahnungslosen Einpeitscher natürlich nicht ein. Stimmungen bilden sich ja schlicht von selbst, wie sich ein blauäugiger Rousseau das Zustandekommen der „volonté générale“ vorstellte. Dabei spielt H. im medialen Kimmich- und Djokovic-Tribunal den Part, den beim Polizeiverhör etwa der Zigaretten spendierende „good guy“ einnimmt, während sein Kollege tobt und droht. Hier operiert ein Gentleman-Ausgrenzer nach dem Motto: „Jungs, prügelt tüchtig, aber mir lasst die Glacéhandschuhe!“
Insofern braucht niemand vor Rührung zu zerfließen, wenn H. sich pseudoempathisch in die beiden Ausgegrenzten hineindenkt. Wenn er an Ibsens „Volksfeind“ erinnert sowie den Umstand, dass hier ein „Duell zwischen David und Goliath“ stattfinde, ohne dass, wie sonst üblich, die Sympathien den Kleinen zuflössen. Von einem beispiellosen Ablehnungswirbel oder mehrheitlichen „Moralisieren“ und „Drangsalieren bis hin zum Ausschluss“ ist die Rede – ein vermeintlicher journalistischer Akt der Einfühlung, von dem ich mir wünschte, er hätte sich zuvor in einem Bereich geäußert, der noch viel prekärer zutage tritt als bei den Profis: im Bereich des Jugendsports etwa, wo gerade empathielose Potentaten zwölfjährigen Fußballern die Teilnahme an Wettkämpfen verbieten wollen, wenn sich ihre Eltern nicht zur Zwangspiekserei erpressen lassen.
Gleichwohl reibt man sich die Augen, wenn man liest, bei aller gebotenen Kritik an den Stars erscheine die „Maßlosigkeit“ gewisser Massenaffekte als diskussionswürdig, zumal angesichts von mit Händen zu greifenden „wissenschaftlichen Unsicherheiten über den Umgang mit Corona“. Oha, denkt man, welcher singuläre Mut im Mainstream! Bin ich hier mitten in einem „Qualitätsmedium“ auf ein Widerstandsnest gestoßen? Wie vereinbart sich das mit der Agenda seines Brötchengebers bzw. Hummerspenders?
Doch gemach. Von „Innerer Opposition“ mitten im Lager der Orthodoxie kann keine Rede sein. Gegen solche Fehldeutung hat der Mann rechtzeitig Gesinnungspflöcke eingeschlagen, als da sind: „Um es klar zu sagen: Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass öffentliche Personen, die in besonderer Weise Vorbilder für Heranwachsende sind, für ihre Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, kritisiert werden.“ (Warum eigentlich, wenn jemand nach reiflicher Überlegung des Pro und Contra für sich eine Entscheidung trifft, die er ja andern keineswegs aufdrängt oder nahelegt?)
Es sei „zweifellos irritierend, dass zwei Sportstars wie Djokovic und Kimmich, die auf extreme Weise auf ihren Körper achten, … die Ratschläge der größten Experten in den Wind schlagen“ und „die überwältigende Mehrheitsmeinung der Experten ignorieren.“ (Sind es tatsächlich die „größten Experten“ oder nur diejenigen, die weltweit fast einzig gehört werden?)
Zudem unterscheidet er die beiden Superstars von anderen medizinischen Nonkonformisten. Die nennt er einfach „Spinner“, „durchgeknallte Querdenker und rechtsextreme Corona-Leugner“, ohne auch nur zu erwägen, dass die pauschal Geschmähten wohl mehrheitlich ein Vielfaches an Zeit zur Analyse der Problematik aufwenden als im Schnitt ihre covidgläubigen Gegner – gängige sog. Sportjournalisten inbegriffen. Und mit dem, was nun folgt, lässt H. endlich die Katze aus dem Sack. Denn die simulierte Parteinahme für Ausgegrenzte läuft im Endeffekt darauf hinaus, das, was bei Vertretern des anderen politischen Lagers durchweg als „Hetze“ qualifiziert würde, letztlich zu rationalisieren und zu plausibilisieren.
Berühmte Sportler, heißt es, würden gemeinhin in hohem Maße – sogar als „Alleinstellungsmerkmal“ – mit Idealismus in Verbindung gebracht. (Stimmt das? Politiker sind hinsichtlich ihres Betrugsimages zwar kaum zu überbieten. Aber sollte tatsächlich der nicht selten geldgierige Typus des Profisportlers – vielfach in Wettkämpfen tricksend, Schwalben produzierend, Vereinstreue nur simulierend und sich teils mit dubiosen Mitteln aus Verträgen windend, generell derart angesehen sein?)
Daher werde an solche Akteure, wenn sie z.B. „den Erfolg von ‚Team Deutschland‘ in der Corona-Krise“ gefährdeten, ein höherer Maßstab angelegt. Und die üblichen linken „Solidaritätsinstinkte“ mit dem Einzelnen (m.W. richten sich linke Sympathien vornehmlich auf die Masse), funktioniere hier nicht, weil die Sportler in diesem Fall von Solidarität „wenig spüren“ ließen. Es herrsche nämlich „mittlerweile eine Staats-Solidarität“. (Welch herrlicher Begriff für die momentane Restaurierung einer Obrigkeits- und Untertanengesellschaft!) Und diese neue Solidarität habe sogar „endlich über den Profit und das Geld gesiegt“. (Wäre mir etwa beim Blick auf gigantische Pharma- und Big-Tech-Gewinne allerdings nicht als erstes eingefallen.)
Wenn diese Solidarität nicht gezeigt werde, könne es schon mal zu Überreaktionen kommen. („Solidarität“, erfährt man von diesem Politdenker, realisiert sich also offenbar ausschließlich gegenüber einer sog. Mehrheit. Früher sahen das manche auch anders – nicht zuletzt in Hinblick auf unselige Zeiten.) Damit sind wir immerhin vorbereitet auf Horenis Fazit im Sinne des von ihm gewünschten Herdenverhaltens:
„Vielmehr hat die Tatsache, dass sich ausgerechnet ein bis dahin als besonders vernünftig und verantwortungsbewusstwahrgenommener Sportler gegen die Impfung wendet, zu entsprechend harten Abwehrreaktionen geführt. Selbst die eigenen Kollegen aus der Fußball-Bundesliga … fällen ein eindeutiges Urteil. Als zum Jahreswechsel der größte Verlierer der Hinrunde gesucht wurde, war er schnell gefunden: Joshua Kimmich.“ Punkt und Schluss des Artikels.
Okay, wir haben verstanden. Wer sich gegen die Mehrheit positioniert, kann nur unvernünftig und unverantwortlich sein. Auch dass einige Bundesligakollegen ihm deshalb gram sind, glaube ich sofort. Der domestizierte Hund war schon immer der grimmigste Feind des freilaufenden Wolfs. Nur eines stimmt bei diesem aufwändigen Argumentationsgebäude nicht. Wurde es doch ähnlich konstruiert wie das unseres postdemokratischen Establishments, wonach man per Panik und Druck erst eine Stimmung herbeiführt, die es anschließend erlaubt, sich als Exekutor solcher „Volksmeinung“ zu inszenieren.
Umso ärgerlicher ist, dass die krude Wirklichkeit Horeni die Pointe gänzlich verhagelt hat. Denn das, was er suggeriert, stimmt peinlicherweise ja gar nicht: Deutschlands Fußballvolk hat Kimmich gar nicht verstoßen. Zumindest die Fans der Nationalmannschaft wählten ihn soeben zum Spieler des Jahres mit 33,8 % deutlich vor Havertz (22,7) und Sané (13,6). Der ‚superwoke‘ Goretzka landete übrigens ganz „unter ferner liefen“.
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Über den Autor: Der Historiker Prof. Dr. Günter Scholdt war bis zum Ruhestand 2011 Leiter des Saarbrücker Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Veröffentlichungen u.a.: Autoren über Hitler (1993); Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten sreiten über den Ersten Weltkrieg (2015); Literarische Musterung (2017).
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