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Frank Böckelmann: WIE REAL WAR DER ANSCHLAG IN HALLE?

Als fruchtbarer Nährboden für die Tat von Halle, so TUMULT-Herausgeber Frank Böckelmann, könne nicht zuletzt eine Geschichtspolitik in Betracht kommen, die auf dem tristen Zenit von allbetäubender Indifferenz den historischen Nationalsozialismus - sei es vorsätzlich oder absichtslos - zur letzten Bastion des schlechthin Anderen, zum rückversichernden Leuchtturm der Fraglosigkeit im Nebel der Nachgeschichte nobilitiert.



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Schreck- und Gedenkstarre liegt über dem Land. Es braucht nicht mehr als die Schandtat einer einzigen verlorenen Seele, um die mit Hypermoral gedüngte Bigotterie der regierenden Charaktermasken zu einem Exzess der Selbstgerechtigkeit aufzustacheln. Das Beste an der Bigotterie ist die Erlaubnis zu ungezügelter Diffamierung: „Die Rechtspopulisten haben in den vergangenen Jahren den Boden bereitet für den neuen Terror von rechts“ – „AfD-Wähler können ihre Hände nicht in Unschuld waschen.“ Der brachiale Beschuldigungseifer verrät eine tiefsitzende Neigung zu totalitärer Ausgrenzung. Es müssen nur passende Gefährder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesichtet werden.


Ich verstehe, dass die Allianz der um ihre Bestände fürchtenden Parteien jede Gelegenheit nutzen muss, um einen rasch erstarkten politischen Gegner zum Teufel zu wünschen, einen Gegner zumal, der sein ganzes Potenzial erst in Zeiten, die stürmischer sind als die heutigen, entfalten kann. Um ihre Siegeschance zu wahren, muss sie aber ein Mindestmaß an Realitätstüchtigkeit bewahren, darf insbesondere nicht den Sinn für Verhältnismäßigkeit einbüßen. In den Stunden und Tagen nach der Schreckenstat hat sie auf ihn bereitwillig verzichtet.


Diese Tat vollzog sich hauptsächlich auf einer imaginären Plattform des digitalen Gaming und beiläufig in der Realgeschichte des politischen Terrorismus. Sie fand in einem Durchdringungsraum virtueller und raumzeitlicher Prozesse statt. Auch wenn es die Selbstgewissheit der leidgeprüften jüdischen Gemeinde düpiert – die plausiblen, im Pamphlet des Täters beanspruchten Motive Antisemitismus, Widerstand gegen „Umvolkung“ und Antifeminismus sind in der ahistorischen Sphäre von allmachtstrunkenen Desperados mit einander überbietenden Gewaltphantasien grundsätzlich austauschbar, etwa gegen das Motiv eines Kampfes gegen eingesickerte Aliens oder das Motiv der Abstrafung von Klimawandelsleugnern. Als vorgebrachte Rechtfertigungen parodieren sie selbst noch die Paranoia eingefleischter Antisemiten.


Was in Halle geschehen ist, kann sich unabsehbar häufig wiederholen, mit wechselnden Zielgruppen und einer großen Bandbreite von Scores, Maskierungen und Trophäen.


Unsere politischen, kulturellen und spätchristlichen Repräsentanten sind im Strudel einer sich selbst verstärkenden Ratlosigkeit gefangen – mit wem nur soll man sich gegen wen um wessenthalben verbünden, wenn man doch den Stillen Ozean des ewigen Friedens der Gerechten ansteuert? In ihrer ehrlichen Orientierungsnot richten sie die Nachtsichtgeräte auf das Verfemte (NS, Antisemitismus, gruppenbezogene Verachtung) und versuchen – mit wachsender Verzweiflung – sich am eigenen Abscheu vor dem Bösen aus dem Nebel zu ziehen. (Unbeantwortet bleibt dabei die Frage: Woraus nur nährt sich das vielfach Bekämpfte, Besiegte und Untergegangene? Durch welche Wunder ersteht es wieder und wieder?) Hier sei Jean Baudrillard zitiert:


„Revival des Faschismus, des Nazismus und der Ausrottung – auch hier die Versuchung, die historische Urszene noch einmal herzustellen, die Leichen zu vertuschen und die Konten zu löschen, bei gleichzeitiger perverser Faszination für eine Rückkehr zu den Quellen der Gewalt, einer kollektiven Wahnvorstellung von der historischen Wahrheit des Bösen. Unsere heutige Einbildungskraft muß ziemlich schwach sein, unsere Gleichgültigkeit gegenüber unserer eigenen Situation und unserem eigenen Denken ziemlich groß, daß wir einen so regressiven Wunderglauben nötig haben.“

(Transparenz des Bösen, Berlin 1992, S. 103)



Dabei wird das Verfemte mit starker Gravitation aufgeladen und nahezu unwiderstehlich für jene, die in einer Zeit des forcierten Narzissmus aus ihrer Nichtswürdigkeit mit einer beachtungsheischenden Tat hervortreten wollen. Der nachgemachte Antifaschismus, das „Nie-wieder“ als Staatsdoktrin und der verspätete Feminismus nähren das Energiefeld für die verfemten Exzesse der Desperados in weit höherem Ausmaß als eine mögliche Übertragung nationalsozialistischer Gesinnung.


Wird nun in Deutschland auch jede distanzierte Beschreibung des neuen Kosmopolitismus einer erdumspannenden „Zivilgesellschaft“ („la gauche hashtag“, wie sie Christophe Guilluy nennt) als antisemitisch entlarvt und verfemt? Vermutlich macht man Anstalten dazu, um den Humanitären Universalismus gleichsam gesetzlich abzusichern. Dass die Juden, früher überall und heute vielenorts in der Diaspora, großenteils kosmopolitisch gesonnen waren und sind, ist nur allzu verständlich. Der jüdische Kosmopolitismus spielte als – noch weitgehend unerforschtes – Movens auch in der nationalsozialistischen Weltanschauung mit. Heute ist er von westlichen und digitalökonomischen Dominanzansprüchen breit überwölbt. TUMULT erhofft sich, dass es auch und gerade jüdische Analytiker mit den Algorithmen der IT-Konzerne aufnehmen. Stellen wir die Antisemitismuskeule zum Antisemitismus ins Archiv.




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