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Frank Böckelmann und Carsten Germis: REPLIK AUF DEN RUNDUMSCHLAG VON LICHTMESZ

Aktualisiert: 8. Jan.

Martin Lichtmesz hat sich am 4. Januar polemisch auf unseren Jahresauftaktartikel „Die neue bodenlose Rechte“ eingelassen. Wie einer, der sich angegriffen fühlt und zurückschlägt, hat er unsere Thesen in ein schiefes Licht gerückt und dann abgekanzelt. Wir nutzen seine Kritik als Chance, unsere Auffassung zu verdeutlichen.


Eingangs fordern wir die Magazinmacher auf, sich darüber klarzuwerden, ob sie in erster Linie auf Erkenntnis aus sind oder politisch eingreifen wollen. Wenn es uns danach drängt, die Puppen tanzen zu lassen, sehen wir in unseren Lesern hauptsächlich Anhänger, die der guten Sache dienen können – und stellen hemmende Einsichten möglicherweise hintan.

 

Lichtmesz hält uns entgegen, dass „politische Parteinahme kein grundsätzlicher Gegensatz zu Aufklärung“ sei. Zugegeben, kein Artikel in politischen Magazinen ist politisch absichtsfrei. Ein klarer Standpunkt gehört zu einem guten Essay. Aber die Bereitschaft, Erwartungen der Klienten und Gefolgsleute zu bedienen, ist bei den einzelnen Organen und Plattformen doch sehr unterschiedlich ausgeprägt.


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Provoziert wurden wir zu unserem Neujahrsartikel, weil ausgerechnet viele neue Rechte – die Spitzen der AfD eingeschlossen – gegenüber den beiden Kriegen, die uns in Atem halten, bodenlose Positionen beziehen. Zunächst zum Krieg im Nahen Osten: Von „patriotischen“ Kräften wäre zu erwarten, dass sie ohne Zögern, ohne hypermoralische Floskeln und ohne hinhaltenden Beratungsaufwand den Kriegsausbruch im Nahen Osten als Gelegenheit zum Handeln ergreifen, wie es die Selbstbehauptung Deutschlands und Europas gebietet: der islamischen Landnahme und öffentlichen Machtentfaltung auf den Straßen unserer Großstädte den Kampf ansagen (vgl. Frank Böckelmann/Beate Broßmann: „Die Folgen des Nahost-Kriegs und die deutsche Zwangslage“, im TUMULT-Blog vom 20.10.2023). Die demografische Entwicklung und die tägliche Demonstration islamischer Ansprüche auf offensive Teilhabe am europäischen Gemeinwesen stellt – im wörtlichen Sinne – den Boden unter unseren Füßen zur Disposition. Dieser Boden ist Europa, der exzentrische Ausläufer Eurasiens, unser vielarmiger und kleinräumiger Landkörper. Er begreift ein, was unserer Erfahrung und unserem Handeln vorgeordnet ist: die eng verwandten Sprachen, die Ähnlichkeit der Gestalten und Gestaltungsweisen, die kulturellen Erbschaften und zivilisatorischen Errungenschaften im zerrissenen und doch kompakten Gelände von Griechenland bis Island und Portugal bis Finnland. Auch Teilen der AfD scheint das bewusst zu sein. So hat der Europaabgeordnete Gunnar Beck gerade erst vor einer „Enteuropäisierung unseres Kontinents“ gewarnt und das Gemeinsame betont, das von außen bedroht ist.


         Doch die Führung der AfD, auch der Spitzenkandidat zur Europawahl, und ein Großteil „alternativer“ Initiativen und Plattformen haben jene Gelegenheit verpasst. Der terroristische Überfall der Hamas, bei dem die ideologisierte Soldateska feiernde Jugendliche abschlachtete, Alte und Kinder (sogar Säuglinge wurden bestialisch ermordet und das mit dem Smartphone auch noch gefilmt), Frauen vergewaltigte und sich anschließend beim militärischen Gegenschlag hinter der eigenen Bevölkerung als Schutzschuld verschanzte, zeigt eine jeder Menschlichkeit spottende Aggression gegen andere Religionen und andere Ethnien, den Willen zur Vernichtung des Anderen als Programm. Das „Heilige Land“ vom „river to the sea“ judenfrei und christenfrei – wer eigentlich arbeitet hier am nächsten Genozid?


Die Frage, ob Deutschland nach seiner „Staatsräson“, für das Existenzrecht Israels einzutreten, notfalls Truppen nach Nahost senden müsse, stellt sich überhaupt nicht: Deutschland ist kein militärisch handlungsfähiger Akteur, und ein spezifisches deutsches Interesse an Kriegsteilnahme/Nichtteilnahme, unterscheidbar vom europäischen Gesamtinteresse, ist nicht zu erkennen. Wenn sich aber eine Frage gar nicht stellt, erübrigt sich die Frage, was man tun würde, wenn man könnte. Die Floskel, die uneingeschränkte Unterstützung einer Kriegspartei im Nahen Osten liege „nicht im deutschen Interesse“, ist folglich eine Leerformel, und diejenigen, die immer wieder auf sie zurückgreifen – insbesondere auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine –, räsonieren häufig zugleich über den Anbruch einer neuen „multipolaren Weltordnung“. Wie aber sollte die aussehen, wenn der von uns geforderte europäische Realismus als „Wolkenkuckucksheim“ abgetan wird? Mutmaßlich liegt es dann im richtigen „deutschen Interesse“, nunmehr bei Russland anzudocken.


Wohl aber haben Israel und Europa, neben divergierenden Interessen, starke gemeinsame Interessen: Beide haben einen gemeinsamen Feind, der mit brachialer Gewalt ihre Identität und Existenz in Frage stellt. Gegründet und zunehmend enger geknüpft wird dieser Interessenkonnex von den agilen Pionieren, Kämpfern und Statthaltern des politischen Islam, die Europa zum Areal der Durchsetzung ihrer unabänderlichen Expansionsabsichten erklärt haben. Frankreichs Vorstädte lassen grüßen, und jede Neujahrsnacht gibt auch den Deutschen einen Vorgeschmack von dem, was ihnen droht. Israel kämpft seinen exponierten Überlebenskampf, Europa den seinen, erst zögernd aufgenommenen. Aber es ist ein gemeinsamer Kampf. Das Massaker in Israel ist Europas Menetekel.

 

Das ist – zugespitzt – unsere Problemauffassung. Eine andere ist unserem Neujahrstext nicht zu entnehmen.

 

Martin Lichtmesz aber liest aus unserem Text heraus, wir forderten, deutsche Truppen an die Nahost-Front zu entsenden, und widersprächen uns im nächsten Absatz selbst, indem wir Deutschland für militärisch nicht satisfaktionsfähig hielten. Hätte er bedachtsam und ohne Sanktionsabsicht gelesen, hätte er verstanden.


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Die Ukraine ist eine große zweisprachige europäische Nation, die sich der Eingemeindung durch Russland widersetzt. Seit vielen Jahrzehnten kämpft sie verzweifelt und entschlossen um ihre Unabhängigkeit. Die anderen europäischen Nationen sind zur Nothilfe verpflichtet, um ihrer selbst willen, unabhängig davon, dass die USA ihre osteuropäische Einflusszone ausdehnen wollen (wie lange noch?) und am Kriegsausbruch verhängnisvoll beteiligt waren. Wenn wir unser gesamteuropäisches Interesse – unser elementares Dabeisein – missachten und für ein eurasisches Imperium optieren, handeln wir bodenlos, schlagen wir in den Wind, wer wir selbst sind – vorab, vor jeder strategischen Kalkulation. Als Beispiel für solche Bedenkenlosigkeit haben wir im Neujahrstext Hauke Ritz angeführt, der schon 2014 eine von Putin geschmiedete „Eurasische Union“ – mit Russland, Belarus, Kasachstan und Kirgisien – als alternatives Europa mit eigenen „kulturellen und politischen Standards“ anpries.


         Den Begriff „postmodern“ verwenden wir alternativ für „bodenlos“, kennzeichnen mit ihm eine Haltung von Akteuren, die aus politlogistischen Gründen zum willkürlichen Austausch der Bündnispartner neigen, als seien sie freischwebende, gleichsam aus dem Orbit heraus handelnde Subjekte: Wenn wir der US-amerikanischen Politik nicht mehr folgen, dann gehen wir eben mit Russland … Dann eben mit einer Eurasischen Union. Dann eben mit strenggläubigen Mohammedanern.  


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Die neue bodenlose Rechte sieht in der Ukraine keinen eigenständigen politischen Faktor. „Die Volkssouveränität spielt keine Rolle, die Ukraine wird als ‚Bauer im hegemonialen Schachspiel‘ abgetan, künstlich beatmet von knapp gehaltener US-amerikanischer Pressluft – letztlich vom Profitinteresse der Rüstungskonzerne und jener, die ukrainisches Lithium für die grüne Energiewende benötigen.“ So steht es im Neujahrstext. Die geopolitische Interessenlage ist allgemein bekannt, diskriminiert aber nicht im Geringsten den Willen der großen Mehrheit des ukrainischen Volkes, sich gegen Russland als souveräne Nation zu behaupten. Sollten die Ukrainer etwa die Waffen strecken, weil nicht nur Russland, sondern auch die USA – und in ungewissem Ausmaß sie selbst – für den Ausbruch des Krieges verantwortlich sind? Im Krieg kämpfen die ukrainischen Soldaten für die eigene Sache. Nehmen wir einmal leichtfertig an, dass auch die russischen Soldaten für sich selbst kämpfen. Ein „Stellvertreterkrieg“ findet jedenfalls nicht statt.

 

Das ist unsere im Neujahrstext klar erkennbare Einschätzung. Lichtmesz legt sich nun unsere Aussagen auf eine Weise zurecht, die den Faktor der ukrainischen Nation ausblendet und dem bekannten argumentativen Engpass zusteuert: Wer es nicht mit Russland hält, unterstütze „entschieden die Außen- und Geopolitik des amerikanischen Imperiums“. Indem er sich über unsere Metapher vom „politischen Wolkenkuckucksheim“ mokiert, rechtfertigt er indirekt sogar neue exklusive Arrangements zwischen Deutschland und Russland à la Nord Stream.  

 

Ja, es ist unangenehm, sich an der Seite von Grünen, Sozialdemokraten, Christ- und Freidemokraten zu finden. Aber wir ertragen es. In Kriegszeiten kommt dergleichen vor. Es werden andere Zeiten kommen, und andere Koalitionen, womöglich auch zwischen einem Großeuropa und einem (anderen) Großrussland.


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„Die Griechen, Rumänen, Kroaten, Polen, Litauer, Finnen Schweden, Iren, Schotten, Niederländer, Franzosen, Italiener, Katalanen und Portugiesen rücken uns in der globalen Neuordnung so nahe wie im 19. Jahrhundert den Schwaben und Sachsen die anderen deutschen Stämme“, stellen wir im Neujahrstext fest. Lichtmesz hält das für einen „paneuropäischen Traum“. Er könne „beim besten Willen nichts dergleichen erkennen“. Vielleicht fragt er gelegentlich mal bei Gunnar Beck nach. Aber die gegenseitige Annäherung der europäischen Völker ist keine Prämie für erfolgreiche Überzeugungsarbeit und noble Selbstüberwindung. Sie vollzieht sich unvermeidlich in einem für viele Länder schmerzlichen Prozess des Bedeutungsverlusts von Europa insgesamt. „Die Welt wird immer kleiner“, hieß es schon im 20. Jahrhundert, als die Massenkommunikation die Entfernungen aufsog und schließlich von der Digitalisierung selbst aufgesogen wurde. Nun zergliedert sich vor unseren Augen die Erde in neue politische Großräume. Die USA wird schon bald mit der Reaktion auf chinesische Ansprüche nahezu vollständig ausgelastet sein und sich vom Atlantik ab- und dem Pazifik zuwenden. Dann bleibt die europäische Staatenwelt sozusagen übrig, als „Hühnerhof“ lockende Beute für leicht benennbare Füchse. Aber wir erwarten nicht, dass sie sich fressen lässt, abgesehen von jenen Ländern, die schon jetzt Russland untertan sind. Die übrigen Länder, das „westliche“ Europa, werden sich nicht mit den Krumen zufriedengeben, die China und die USA unter ihre Welthandelstische fallen lassen. Sie rücken einander näher, nicht weil sie ein paneuropäisches Einsehen haben, sondern weil sie gemeinsam links liegen gelassen werden (einschließlich der US-amerikanischen Günstlinge) und sich nicht anders zu helfen wissen. Ein weiterer Faktor kommt dabei hinzu – siehe den nächsten Abschnitt.


         „Der Buhmann des russischen Bären hat in keiner Weise zu einem Zusammenrücken ‚unserer Leute‘ von Lissabon bis Helsinki geführt“, schreibt Lichtmesz. Im Ernst? Wir staunen noch heute über die nahezu geschlossene Solidarisierung der europäischen Länder mit der kämpfenden Ukraine. Die Ermüdungserscheinungen mehren sich, auch die Rufe nach „Verhandlungen“, doch es keimt keinerlei Zuneigung zu Russland. Diese würde auch nicht wachsen, falls die Ukraine niedergewalzt werden und der Fronten-Krieg in einen Partisanenkrieg übergehen würde.


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Auch Lichtmesz hält eine wehrhafte Allianz der europäischen Eigenbrötler „für durchaus wünschenswert“, allerdings unter den gegebenen Bedingungen „nicht für besonders realistisch“. Was, fragen wir nun, würde die Eigenbrötler wohl wirklich einigen und gemeinsam stärken? In dieser Frage scheiden sich die Geister. Damit Kontinentaleuropa statt abstrakter Menschheitsideale wieder die Interessen seiner eigenen Völker vertreten könne, müsse „das politische System ‚Westen‘ abgeschüttelt werden, das sich in Europa hineingefressen hat wie eine Säure oder ein Krebsgeschwür“, postuliert Lichtmesz. Dieser Bescheid erscheint nun wiederum uns recht blümerant und „nicht besonders realistisch“. Der Versuch, ein „System“ abzuschaffen, das sich in alle Lebensbereiche und Gemüter eingefressen hat und dessen Geschöpfe wir sind, erinnert uns an die Versuche, der diffusen Wesenheit „Kapitalismus“ auf den Leib zu rücken und dabei auszublenden, dass die Wirkungsweise der Geldwirtschaft nicht erst von Karl Marx, sondern bereits von Aristoteles analysiert worden ist, also wohl anthropologisch tiefer verankert und komplexer ist, als neomarxistische Theorien der 1970er Jahre suggerieren, über die auch die Kapitalismuskritik der neuen Rechten kaum hinausgekommen ist.


         Aber wir ahnen, was Lichtmesz dabei im Sinn hat, äußert er doch anschließend Verständnis dafür, dass „manche angesichts dieses Vakuums Richtung Rußland, China oder Türkei schielen, wie es dort gemacht wird“. Insbesondere gefällt ihm „die Idee einer ‚Eurasischen Union‘ als alternatives Europa“, die ja im postsowjetischen Raum bereits Gestalt angenommen hat. Das verblüfft uns – diese Empfehlung soll realistisch sein? Ließe sie sich doch derzeit, in der Putinschen Ära, nur unter Ausschluss der mittel-, ostmittel-, süd-, west- und nordeuropäischen Staaten in die Tat umsetzen. Ein besseres Beispiel für bodenloses Politisieren hätten wir uns nicht ausdenken können.


         Um keinem europäischen Wunschtraum zu erliegen, haben wir im Neujahrstext erklärt, dass die dreißig bis vierzig europäischen Staaten „erst in einer abgründigen Notlage“ zu einer „glaubwürdig wehrhaften Allianz“ zusammenfinden – „angesichts potenzierter Massenmigration oder im Wohlstandsabsturz oder in Erwartung weiterer russischer Invasionen, vor allem aber in der Erfahrung, alleingelassen zu werden“. Wir spitzen diese These hier noch zu (und ziehen dabei die Lehre aus der gesamten Geschichte Europas): Einigen wird sich Europa nicht in Konferenzen und Symposien, sondern ausschließlich in der Konsequenz gemeinsamer Gegenwehr, sei es im Abwehrkampf gegen den expansiven Islam, sei es in wirtschaftlicher Selbstbehauptung gegenüber US-amerikanischem und chinesischem Protektionismus und digitalem Totalitarismus – oder indem es einem übergriffigen Russland in den Arm fällt.


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Frank Böckelmann ist Herausgeber und Carsten Germis Chefredakteur der TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung.






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