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Eva Rex: RETTET DEN GESUNDEN MENSCHENVERSTAND (II)

Aktualisiert: 24. Jan. 2020

Sind wir dabei, einen neuen Totalitarismus vorzubereiten? Und wenn ja, was ist das für eine Art von Totalitarismus? Offenbar einer, der nicht leicht zu erkennen ist, weil nicht für alle spürbar. Ein Totalitarismus jedenfalls ohne Führer, KZ und Gulag. Ist es trotzdem gestattet, von einem solchen zu sprechen? Dies sind nur einige beispielhafte der Fragen, die Eva Rex im zweiten Teil Ihres Beitrags entlang der Lektüre von Hannah Arendt stellt und beantwortet.



*



Was haben uns Hannah Arendts Überlegungen in ihrem Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" heute zu sagen?


Am Beispiel dreier Punkte soll dieser Frage nachgegangen werden:


1.) Wir leben in einer Massengesellschaft, die sich immer weiter fragmentiert. Orientierungs- und Haltlosigkeit nehmen zu, gleichzeitig urteilen wir immer mehr, äußern Meinungen zu jedem Sachverhalt, doch wer verfügt noch über echte Urteilskraft, wenn die Basis für Denkfähigkeit, die sich, nach Hannah Arendt, in Erfahrungsfähigkeit begründet, weggebrochen ist?


Dass sich diese gar nicht erst ausbildet, dafür sorgt der Ablenkungsschirm elektronischer Medien. Welche Erfahrungen sollten wir auch machen, wenn uns suggeriert wird, dass es irrtümlich und gefährlich ist, sich auf die eigene Wahrnehmung zu verlassen und die Austreibung des gesunden Menschenverstandes in großem Maßstab betrieben wird? Wenn wir fortwährend auf den sechsten (digitalen) Sinn und auf das Urteil von Experten verwiesen werden? Zudem sind wir als Angehörige der Wissensgesellschaft viel zu abgeklärt. Wir wissen bereits alles, noch bevor wir unsere Augen anstrengen. Abgeklärtheit ist jedoch nicht Aufgeklärtheit, sondern deren Umkehrung.


Seinen eigenen Sinnen nicht zu trauen, den eigenen Verstand nicht zu bedienen, bedeutet indes freiwillig unmündig zu werden. Ein freiwillig unmündig gewordenes Subjekt begibt sich unter die Obhut von jenen, die es besser wissen und Träger vermeintlich unumstößlicher Wahrheiten sind. Bleibt ihm denn etwas anderes übrig, nachdem alle verlässlichen und metaphysischen Autoritäten und Instanzen (Gott, Kirche, der König) abhanden gekommen sind und sich als Orientierungshilfe nur noch die Wissenschaft anbietet? Eine Wissenschaft freilich, die, vermittelt durch die Vulgärapparate der Medienpropaganda schnell Gefahr läuft, zur Pseudowissenschaft zu verkommen. Und so nimmt in einer Zeit, in der der Glaube an die Wissenschaft den Glauben an Gott ersetzt hat, paradoxerweise die Leichtgläubigkeit zu, indem wir Statistiken wie Orakel bestaunen und Studien mehr vertrauen als unserem inneren Kompass.


Was sind das für Experten, denen wir uns ausliefern, und welche Wahrheiten verkünden sie?

Es sind jene, die uns lehren, dass tradierte Gewissheiten keine Gültigkeit mehr haben, da sie als Irrtümer oder Vorurteile anzusehen sind: Es gibt keine eindeutig definierten Geschlechter, keine natürlich definierte sexuelle Orientierung. Das Erkennen von schwarzer und weißer Hautfarbe beruht auf Sinnestäuschung (worauf sonst?) und das Beharren auf der Existenz von Völkern und Kulturen auf Chauvinismus. Es sind jene, die uns versichern, dass der Islam eine Religion des Friedens ist und unsere eigene Religion eine nicht enden wollende blutige Kriminalgeschichte. Jene, die verkünden, der demographische Wandel sei nicht aufzuhalten, da ein Naturgesetz - im Gegensatz zum Klimawandel, denn der sei menschengemacht. Wir haben es mit Experten zu tun, die uns allen Ernstes weismachen wollen, dass die Welt an unseren Sünden (CO2-Ausstoß) zugrunde gehen wird, sollten wir nicht rechtzeitig bereuen, Buße tun und umkehren. Damit wird einer besonders perfiden Form von Okkultismus Vorschub geleistet - und das in einer Gesellschaft, die hochtechnisiert und hochspezialisiert ist, und die scheinbar jedem Aberglauben abgeschworen hat.


Staunend sehen wir uns einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern und Medienschaffenden gegenüber, die täglich und mit großem Erfolg die Simulation einer kunterbunten Bilderbuchwelt betreiben. Einer Welt, die gewiss in sich stimmig, folgerichtig und, wie Hannah Arendt sagen würde, zwingend evident ist - aber nur in der Theorie. Die Praxis hingegen kann niemals ausprobiert werden, da sich immer wieder Menschen finden, die dumm oder niederträchtig (oder nicht leichtgläubig genug) sind und sich gegen die schöne Idylle zur Wehr setzen (die Theorie ist perfekt, die Welt könnte es auch sein, wenn da nicht die rechten Störenfriede und Populisten wären ...). Es sind Experten am Werk, deren Pseudowissenschaftlichkeit mittels Selbstimmunisierung und bewußt gesetzter Undurchschaubarkeit sektenartige Strukturen angenommen hat (sie ist so "wissenschaftlich", dass niemand sie widerlegen kann, nicht einmal die Wissenschaft selbst). Es sind Experten, die nicht müde werden, alles und jedes zu dekonstruieren, auch dann noch, wenn es bereits in Trümmern liegt.


Auf die Dekonstruktion freilich folgt die Konstruktion - einer Ersatzwelt, die mit neuem Sinn ausgestattet wird.


Um es mit den Worten von Arendt zu sagen:


"Während so die totale Herrschaft einerseits alle Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normalerweise rechnen und in denen wir normalerweise handeln, errichtet sie andererseits eine Art Suprasinn, durch den in absoluter und von uns niemals erwarteter Simmigkeit jede, auch die absurdeste Handlung und Institution ihren "Sinn" empfängt. Über die Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thont der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben." (1)


2.) Mangelnde Urteilskraft sowie das Versagen der eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit führen in direkter Linie zum Schwund von Selbsterhaltungsinstinkten. Eine Entwicklung, die fatalerweise ungeheure Verstärkung dadurch erlebt, dass sie von besserwissenden Sozialtechnikern und Diversitäts-Apologeten gewünscht und befeuert wird: Stolz und Selbsterhaltungswille sollen für immer lahmgelegt werden, damit sich nie wieder eine Nation über die andere erhebt. Wir Deutschen sind es gewohnt, die in unserem Wesen so übermächtig ausgeprägte Autoaggressivität auf historische Schuld zurückzuführen. Dass dies kein Alleinstellungsmerkmal ist, zeigen westliche Länder mit kolonialer Vergangenheit, die uns in Sachen Schuldkomplex in nichts nachstehen.


Hannah Arendt zufolge sind selbstzerstörerische Tendenzen Kennzeichen des modernen Massenmenschen. Sie waren es schon an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, also noch vor dem Holocaust, und vor der "Bewußtmachung" der Kollektivschuld durch "post-colonial studies":


"Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts haben viele bedeutende Historiker und Staatsmänner das Herannahen eines Massenzeitalters prophezeit. (...) Was sie kaum vorausgesehen oder doch in seinen eigentlichen Folgen nicht richtig eingeschätzt haben, war dies ganz unerwartete Phänomen eines radikalen Selbstverlustes, diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten." (2)

Allerdings hat der Selbstverlust, wie er heute in Erscheinung tritt, eine neue Gestalt angenommen: Der moderne Massenmensch ist nicht selbstvergessen, wenn es um ihn als Individuum geht (als Hedonist und dionysischer Individualist darf er selbstverliebt und egozentrisch sein, ja er muss es sein), wohl aber als Typus (Deutscher, Europäer, weißer Mann) - als Gesamtwesen.


Potenziert wird der Schwund der Selbsterhaltungsinstinkte durch die Inthronisierung der Selbstverleugnung zu einem christlichen Ideal. In einem säkular verstandenen Christentum (ohne Gott, ohne Religion), vermengt mit der Hoffnung, durch kollektive Selbstaufgabe sich von kollektiver Schuld loszulösen, führen all diese Komponenten zur vollständigen Abtötung aller Selbsterhaltungsinstinke, denn diese gelten, der post-christlichen Gnosis zufolge, als unmoralisch, rassistisch, suprematistisch, völkisch, unrein.

Individualpsychologisch gesehen gehen Selbstlosigkeit und Selbstvergessenheit auf einen Identitätsverlust zurück, der wiederum Folge und gewünschtes Ergebnis der gesellschaftlichen Atomisierung ist.


Inzwischen ist, so scheint es, die kollektive Selbstanklage zu einer neuen Identität des westlichen Menschen geworden.


3.) Der vielbeschworene Glaube an die Unausweichlichkeit von Geschichte, der uns in Formeln wie "Alternativlosigkeit" oder "Ende der Geschichte" begegnet, bedeutet, dass die Entwicklung gesellschaftsbildender Prozesse eine Richtung, sogar einen Zweck hat. Dies führt dazu, dass die Prinzipien der sozialen Ordnung dem anvisierten Telos angepasst werden. Alles, was dieser zielgerichteten Entwicklung im Wege steht, muss beseitigt werden, weil es störend, überflüssig oder überholt ist. Kurz: weil es ein Modell ist, das keine Zukunft hat. Derartige Auslaufmodelle der Geschichte bzw. "zu überwindende Konstrukte" sind: Nationalstaaten, die traditionelle Familie, die Polarität der Geschlechter, das Patriarchat, der weiße Mann, Hierarchien zwischen Menschen (aber auch solche zwischen Mensch und Tier). Grundsätzlich gehören alle Unterschiede auf den Müllhaufen der Vergangenheit. Selbstverständlich auch die Religion, denn sie ist, wie ihr Name schon sagt: Re-ligio ("Rückbindung"), jene geheimnisvolle Kraft, die sich am meisten der geforderten Aufhebung aller Bindungen widersetzt.


So ist es nur als folgerichtig anzusehen, dass sich Politik dazu aufschwingt, als Vollstrecker objektiver Gesetzmäßigkeiten zu fungieren. Wenn man ohnehin weiß, was Zukunft werden soll, warum sollte man die Zukunft nicht schon zur Gegenwart machen? Das Wissen um den notwendigen Untergang des angeblich Feindlichen, so Arendt, verleitet dazu nachzuhelfen, so dass nur noch Sterbendes zu Fall gebracht wird ...


Führen wir uns also die genannten drei Elemente vor Augen, die nach Arendt Voraussetzung und Bestandteile einer totalen Herrschaft sind (Schwund der Wahrnehmungsfähigkeit, Schwund der Selbsterhaltungsinstinkte, Geschichtsdeterminismus), müssen wir konstatieren, dass diese in unserer Zeit nicht nur vorhanden, sondern geradezu überrepräsentiert sind.


Sind wir dabei, einen neuen Totalitarismus vorzubereiten? Und wenn ja, was ist das für eine Art von Totalitarismus? Offenbar einer, der nicht leicht zu erkennen ist, weil nicht für alle spürbar. Ein Totalitarismus jedenfalls ohne Führer, KZ und Gulag. Ist es trotzdem gestattet, von einem solchen zu sprechen? Ist es nicht maßlos übertrieben, die Kategorien eines derart kontaminierten Begriffs auf unsere (von "grenzenloser Freiheit" geprägte) Gesellschaft anzuwenden?


Nun, angesichts des enormen Verblendungszusammenhangs, dem wir auf Schritt und Tritt ausgeliefert sind, liegt der Gedanke nahe, dass an uns ein politisches Modell ausprobiert wird, das, vorsichtig ausgedrückt, alles andere als demokratisch ist. Wir haben es, drastischer gesagt, mit einer Herrschaftsform zu tun, die man, fernab von den Elementen des Terrors und der Unterdrückung, durchaus total, d.h. allumfassend und jeden Seelenwinkel durchdringend, nennen kann. Es handelt sich um eine "softe" Totalität, in der sich jeder wohlfühlt, der angepasst lebt. Der es gewohnt ist, Augen und Ohren zu verschließen, seinen Verstand auszuschalten und sich mit Sex, Drogen, Konsumismus und Unterhaltung vor eigener Erkenntnis zu verschließen. Es handelt sich um eine Herrschaftsform, die sich scheinbar als das Gegenteil von totalitärer Machtausübung präsentiert, weil sie "Diversität" und "Pluralismus" feiert, was aber nichts anderes bedeutet, als dass sie dem hedonistischen Individuum gestattet, seine Obsessionen auszuleben (jeder darf queer, gepierct, tätowiert, bunt, gestreift und sonstwie exzentrisch sein) - zum Preis politischer Gleichschaltung. Es ist eine Gesellschaftsform, an der die meisten ihrer Mitglieder mit Inbrunst hängen, weil sie so schön ist wie in Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" beschrieben. Es ist eine auf Grundsätzliches ausgerichtete Herrschaftsform mit totalem Zugriff, die nicht ohne Weiteres als solche erkannt wird.


Lassen wir noch einmal Hannah Arendt sprechen:


"Die Strukturlosigkeit der totalen Herrschaft, ihre Nichtachtung aller materiellen Faktoren und Interessen, ihre Unabhängigkeit von Zweckmäßigkeitserwägungen und bloßem Machthunger haben (...) alles politische Handeln schlechterdings unberechenbar gemacht. Weil die totale Herrschaft ein völlig neues Macht- und Realitätsprinzip in das Leben der Völker geworfen hat, ist es dem an der Vergangenheit geschulten gesunden Menschenverstand der nichttotalitären Welt noch nicht einmal möglich, die objektive Stärke dieser neuen Gebilde zu beurteilen oder zu berechnen." (3)


Die richtige Bezeichnung für dieses neue politische Modell, das auf einem völlig neuen Macht- und Realitätsprinzip beruht, muss erst noch gefunden werden. Es ist ein Herrschaftsgebilde, in dem das Prinzip der Herrschaft grundsätzlich geleugnet wird. An die Stelle eines launischen Despoten, einer machthungrigen Clique, ja auch der uns vertrauten (und immer noch angenommenen) Stellvertreterdemokratie ist die systemische Herrschaft einer wirkmächtigen Ideologie getreten, die sich verselbständigt hat. Sie ist, da nicht personal gebunden und auch nicht von einem einzelnen Urheber ersonnen, unserem Verständnis und dadurch unserem Zugriff entzogen.


Welches nun ist die neue Ideologie? Es ist die Alternativlosigkeit des Globalismus, One World, die Vereinigung aller Menschen zu einer "Menschheit", mit einem Wort: der humanitäre Universalismus (Rolf Peter Sieferle), der nebenbei handfeste ökonomische Interessen verfolgt.


Die notwendigerweise zu gehenden Schritte, die dorthin führen sollen, kennen wir: Zum einen der Egalitarismus, der keine eingebaute Stop-Taste hat, und den man immer weiter drehen kann - wenn alle und alles bereits gleich sind, findet sich immer noch eine subtile Ungerechtigkeit, die ausgeglichen werden muss (Toqueville-Paradoxon), und der in seinem Prozesscharakter immer auf die Zukunft gerichtet, also immer progressiv, dynamisch und in Bewegung ist. Zum anderen die Zerschlagung stabiler sozialer Zusammenhänge sowie aller Gewissheiten, die Fragmentierung und Segmentierung der Gesellschaft durch Auflösung kultureller Identitäten (Nationalität, Religionszugehörigkeit) sowie natürlicher Identitäten (Rasse, Geschlecht). Erreicht werden soll dies durch die (wissenschaftlich fundierte) Lehre von der Konstruiertheit aller natürlichen und kulturellen Lebensformen. So sind wir zu unfreiwilligen Zeugen einer großangelegten Entstrukturierung und Entdifferenzierung geworden, an deren Ende die Errichtung der heißersehnten universalistischen Utopie steht.

Interessanterweise haben wir es heute, anders als zu Arendts Zeiten, mit einer Ideologie zu tun, die aus der Zerschlagung der Gesellschaft resultiert und dabei diese zu ihrem Programm erklärt. Die Atomisierung der Gesellschaft heutzutage ist gewollt, vor hundert Jahren war sie unweigerliche Folge der Zerschlagung der Stände- und Klassengesellschaft.

Heute wird sie sowohl als Naturgesetz ausgegeben (es geschieht einfach, die Menschen wollen es so, sie wollen ihren individualistischen Neigungen folgen ...) als auch als Befreiung gefeiert: Wenn es keine Unterschiede mehr gibt, gibt es auch keine Ungerechtigkeiten - jeder Mensch kann sich in seiner persönlichen Entwicklung frei entfalten.


Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Zerschlagung der Gesellschaft in Atome in Wirklichkeit dazu dient, die Menschen hilfloser und gefügiger zu machen. Es geht um bewußt vorangetriebene Destabilisierung, die verhindern soll, dass sich der Einzelne mit den ihm nahe stehenden Mitmenschen verbündet und dadurch die systemische Herrschaft der Ideologie erschüttert:


"Tyrannen und Despoten haben immer gewusst, dass Gleichheit ihrer Untertanen, Ausschaltung von Rangunterschieden und Verhinderung jeder gesicherten, gesellschaftlichen und politischen Hierarchie die unabdingbare Voraussetzung ihrer Herrschaft bildete." (4)


Uns hingegen wird vermittelt, dass es sich um Emanzipation aus unterdrückerischen Strukturen handelt, um die Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der alle gleich, frei und glücklich sind, weil es keine Rangunterschiede und ergo keine Diskriminierung gibt. Uns wird vermittelt, dass, wenn dies noch weitergetrieben und auf planetarische Ebene gehoben wird (also die Durchsetzung des humanitären Universalismus weltweit), wenn also wirklich alle Menschen, nicht nur die in unserem Land, sondern auf der ganzen Erde, befreit - also nicht mehr "Nationen", "Völker" und "Rassen" sind, sondern einfach "Menschen", wenn alle Hindernisse überwunden sind und überall der gleiche Wohlstand herrscht, wenn also die ganze Menschheit so ist wie ein Mensch, dann öffnen sich die Tore zum Garten Eden und die Menschheit wird in den ursprünglichen Zustand der Unschuld zurückversetzt.

Und deshalb laufen alle Anstrengungen auf Hochtouren, Vereinheitlichung und Homogenisierung - die Verflüssigung der Menschen - herzustellen.


Das Ziel wäre erreicht, wenn es gelänge, identische Kopien von Menschen herzustellen.

Für die einen das Paradies, für die anderen ein Horrorszenario:


"Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellen, ist nur möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so dass jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist. Es handelt sich dabei darum, das herzustellen, was es nicht gibt, nämlich so etwas wie eine Spezies Mensch". (5)

Dass mit fortschreitender Fragmentierung und Egalisierung auch ein fortschreitender Souveränitäts- und Ich-Verlust einhergeht, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Schon jetzt leben wir in einer Gesellschaft von Narzissten und Autisten (dass eine Ikone der heutigen Jugendbewegung ausgerechnet dieses Merkmal trägt, ist mehr als bezeichnend).

Es sind keine hellseherischen Gaben nötig, um zu erkennen, was das Ziel einer solchen ökonomisch-humanitär ausgerichteten Bewegung ist: Menschen zu Plastikgranulat zu zerreiben, damit aus ihnen, bei Bedarf, eine neue PET-Flasche geformt werden kann.

Dafür bedarf es der Vernebelung der Gehirne, und dafür sind Spezialisten zuständig, die mit "wissenschaftlichen Beweisen" begründen sollen, dass die Lösung jener Probleme, die ihre Ideologie geschaffen hat, in der Durchführung exakt jener Ideologie besteht.


Wissenschaft wurde in totalitären Systemen schon immer herangezogen, um großangelegte Experimente eines gesellschaftlichen Umbaus vorzunehmen. Bei Hitler war es die Rassenbiologie, bei Stalin der Lysenkoismus mit seiner der marxistisch-leninistischen Doktrin angepassten Genetik.


Heute steht uns das große Experiment bevor, dass eine "monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische" (Yascha Mounk) verwandelt werden soll. Und dafür braucht es die Homogenisierung - das Zerreiben der Menschen zu ethisierten, ökologisierten, pazifizierten, feminisierten und durchgegenderten Bestandteilen des humanitären Universalismus. Dass dadurch die Handlungsfähigkeit des politischen Bürgers unmöglich gemacht wird, sollte uns längst klar geworden sein.


Das seit der Aufklärung laufende und in wechselnder Intensität durchgeführte Projekt der Rationalisierung des Menschen (wovon die Egalisierung nur ein Teil ist), ist übrigens noch lange nicht abgeschlossen. Es wurde gerade erst damit angefangen, mit ihm Ernst zu machen. Vorläufig benügt man sich damit, die Vereinheitlichung auf der Ebene von Rasse, Kultur, Geschlecht, Bildung, Aussehen etc. durchzusetzen. Aber warum sollte der Egalitarismus vor anderen Ungleichheiten Halt machen? Zum Beispiel vor der genetischen?

Schon lange wird in den Laboratorien der entwickelten Länder an der genetischen "Optimierung" gearbeitet. Neuartige Reproduktionsverfahren, Pränataldiagnostik, Stammzellenforschung, die "gläserne Gebärmutter" - mit jedem Schritt ("ein kleiner für einen Menschen, ein riesiger für die Menschheit") kommen wir der "Schönen neuen Welt" näher. Und wir freuen uns darüber und beklatschen den Fortschritt.


Zum Heraufdämmern eines neuen Totalitarismus ist es indes nicht weit. Es ist, wie man sieht, ein freiwillig losgetretener und mit freudiger Ungeduld herbeigesehnter Totalitarismus. Es ist ein Totalitarismus ohne Knechtschaft. Ein Totalitarismus, bei dem immer alles in Bewegung ist, dynamisch, fortschreitend, nimmer satt, progressiv, teleologisch, chiliastisch. Ein Totalitarismus, der nicht eher Ruhe gibt, bis die letzte Grenze gefallen ist. Bis der letzte Mensch zu Granulat zerrieben sein wird und sich nicht mehr wird vorstellen können, dass es auch noch etwas anderes geben könnte - weil mit dem alten Menschen auch alle Erinnerung, alle Geschichte, alle Erfahrung gelöscht sein werden.

Nicht Trump, Orban und Putin sind die neuen Führer einer neuen autoritären Herrschaft. Auch nicht Merkel oder Björn Höcke. Was "Anti-Faschisten" und "bekennende Demokraten" immer wieder als Drohgebärde ins Feld führen, nämlich das Auftauchen eines "neuen Hitlers", sollte den populistischen Strömungen kein Widerstand geleistet werden, ist vor diesem Hintergrund völlig an der Wirklichkeit vorbei. Klassische Führer gibt es nicht mehr und wird es auch nicht geben - das ist nun wirklich etwas, was von der Geschichte überholt ist. Statt dessen haben wir uns unter die Obhut einer systemischen Führung begeben. Der neue Totalitarismus hat sich entpersonalisiert, seine Personalausstattung ist austauschbar und dezentral. Der systemische Totalitarismus ist in seiner nicht fassbaren Körperlichkeit virtuell, gleichsam transzendent. Hier heißt es, Hannah Arendts Ideen weiterentwickeln.

Es ist ein freundlicher, und daher von nur wenigen bemerkter Totalitarismus, dem, da er auf große Zustimmung stößt, eine lange Haltbarkeit bevorsteht. Allerdings haben, Arendt zufolge, totalitäre Systeme keine Langlebigkeit: Mit ihrem Lügengewebe und ihrer Inszenierung einer Scheinrealität scheintern sie früher oder später an den alltagspraktischen Evidenzen, anders gesagt: an der Macht des Faktischen.


Und doch muss man in Rechnung stellen, dass jedes politische Systeme lern- und anpassungsfähig ist, dass es in der Lage ist, von den vorigen Systemen erprobte und bewährte Elemente zu verfeinern und auf eine neue Stufe zu stellen. Denn die Probleme des modernen Massenzeitalters sind immer noch die selben wie zu Arendts Zeiten. Sie haben sogar an Brisanz zugenommen, wie es sich in dem Problem der Überbevölkerung und des "Überflüssigseins" deutlich zeigt:


"Ganz gleich wie lange die gegenwärtigen totalitären Systeme sich halten können - und der erstaunlich schnelle Untergang des "tausendjährigen Reiches" der Nazis ist ein Zeichen für die diesen Regimen innewohnende Instabilität -, es steht zu fürchten, dass die Konzentrationslager und Gaskammern, welche zweifellos eine Art Patentlösung für alle Probleme von Überbevölkerung und "Überflüssigkeit" darstellen, nicht nur eine Warnung, sondern auch ein Beispiel bleiben werden. So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben." (6)


Machen wir uns nichts vor: Auch wenn in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt die Geburtenzahlen zurückgehen und daurch die Bevölkerung schrumpft (ungeachtet der Auffüllung durch Migranten), können wir aufgrund von Digitalisierung das Überflüssigwerden von Menschen feststellen: Immer weniger Menschen werden notwendig sein, um Ökonomie und Produktion am Laufen zu halten. Nur die Funktionselite, hochspezialisierte Arbeitskräfte und post-nationale Weltbürger, die frei auf der Ebene der globalen Systeme agieren, werden in Zukunft nicht überflüssig sein. Was aber geschieht mit den anderen, für die es keine Verwendung gibt? Und die in einem aufgeblähten Sozialstaat frecherweise Ansprüche auf Alimentierung anmelden? Was geschieht mit den überflüssigen Menschen, die nach der Marktlogik nur unnütze Esser sind? Was geschieht mit ihnen, wenn es keine vereinigenden Bande mehr wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Volksbewußtsein und Volkssolidarität gibt? Wie geht man damit um, dass vor dem Hintergrund des reibungslosen Funktionierens von Maschinen Menschen grundsätzlich überflüssig werden? Schließlich sind Maschinen unfehlbar und leisten sich, anders als der Mensch, keine moralischen Fehltritte. Wie geht man mit dem Überflüssigsein des Menschen (als Zerstörer der Natur) gegenüber anderen Kreaturen um? Hat man nicht Lebewesen, die friedlicher sind, den Vortritt zu lassen? In seinem Selbsthass und in seiner Überzeugung, ein Parasit der Erde, ein Auslaufmodell der planetaren Geschichte zu sein, läuft der Mensch Gefahr, Maschinen oder anderen Kreaturen das Feld zu überlassen und sich selbst auszurotten.

Das sind die die Probleme, die uns heute und morgen bevorstehen.


Um diese in den Griff zu bekommen, bieten sich drei Varianten einer möglichen Totalherrschaft an:


1.) Der humanitäre Universalismus als systemische Herrschaftsform überwindet die Vorstufe der Erprobungs- und Konsolidierungsphase und wird totalitär.


2.) Es formiert sich eine politische Gegenkraft, die versucht, die Gesellschaft wieder in einen "gesunden" Zustand zu überführen. Diese Kraft wird sich nur mit totalitären Mitteln durchsetzen können


3.) Eine dominante, gegen alle Egalisierungsbestrebungen immune Kultur wird aufblühen (Islam) und die ihr inhärenten totalitären Züge breitflächig entfalten. Die einheimische Kultur wird sich freiwillig unterwerfen, weil sie müde geworden ist.


Lassen wir es gar nicht erst dazu kommen. Deshalb gilt:

Wahrnehmungsschulung tut Not. Es gilt Aufmerksamkeits- und - warum nicht? - Achtsamkeitstraining zu praktizieren (wenn mit Achtsamkeit verschärfte Geistesgegenwart gemeint ist). Lassen wir uns nicht gaslichtern! Machen wir Augen und Ohren auf - sie sind dazu da, in Gebrauch genommen zu werden!


Erkennen wir Formen und Muster, die gesellschaftlichen Prozessen zugrunde liegen. Vor allem: Erkennen wir an, dass es Unterschiede gibt! Vertrauen wir auf unsere fünf Sinne und lassen uns nicht vom elektronischen Schattentheater eine Matrix vorgaukeln, die uns zu gesteuerten Einzelteilchen degradiert. Besinnen wir uns auf unsere Intuition. Seien wir dabei jedoch nicht wissenschaftsfeindlich, wie unsere Gegner uns immer vorwerfen. Betreiben wir Wissenschaft, aber echte Wissenschaft - nicht deren okkulte Verformung. Wahre Wissenschaft begründet sich im Streben nach Erkenntnis und letzten Endes nach Wahrheit. Sie stellt sich nicht in den Dienst von Ideologien, was das Erkennungsmerkmal von Pseudowissenschaftlichkeit ist.


Erleben wir eine Welt echter menschlicher Beziehungen - eine gegenständliche und nicht eine erdachte Welt.


Benutzen wir unseren eigen Verstand, unser eigenes Urteilsvermögen, denn darauf beruht letztlich unser Ideal von Aufklärung.


Retten wir den gesunden Menschenverstand!





*





Quellennachweis:

Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Piper Verlag München, Auflage Juli 2006, ungekürzte Taschenbuchausgabe

(1) S. 939

(2) S. 680

(3) S. 867

(4) S. 694

(5) S. 907

(6) S. 942



 

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