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Erik Ahrens: JOSCHA WULLWEBERS »ZENTRALBANKKAPITALISMUS«

Aktualisiert: 23. März 2022

Joscha Wullweber (*1973) ist Politikwissenschaftler und Heisenberg-Professor für Politische Ökonomie, Transformation und Nachhaltigkeit an der Universität Witten-Herdecke. 2021 erschien sein Buch »Zentralbankkapitalismus – Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten«, in dem der den gegenwärtigen Zustand des globalen Finanzsystems analysiert und insbesondere die Rolle der Zentralbanken herausstellt.




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Expertenwissen


Das Buch ist eine umgeschriebene und erweiterte Ausgabe der 2019 eingereichten Habilitationsschrift Wullwebers, was man ihm auch anmerkt. Es ist umfangreich und detailliert beschrieben, doch nicht besonders didaktisch aufgebaut. Als Leser, der nicht selbst tief in der Materie steckt, kann man hier zwar Einiges über die Funktionsweise der internationalen Geldwirtschaft verstehen, aber man muss es sich selbst im Buch zusammensuchen und etwaige Verständnislücken aus andere Quellen füllen. Wer sich für Geld interessiert, wird die entsprechenden Informationen schnell online und in anderer Literatur finden können – wer jedoch ein leicht zugängliches Einstiegswerk sucht, wird mit »Zentralbankkapitalismus« eher nicht glücklich werden.


So findet sich zum Beispiel weit am Ende des Buches eine kurze und bündige Erklärung der Schöpfung von Buchgeld durch Banken – während lange vorher, im Unterkapitel »Geldschöpfung, Zentralbankgeld und Bankkredite«, über dasselbe Thema gesprochen wird, als wüsste der Leser bereits, was gemeint ist. Die Ebenen einer simplen Einführung in den konkreten Prozess der Geldschöpfung und einer komplexen akademischen Diskussion verschiedener Geldschöpfungstheorien sind also verkehrt herum angeordnet. Man merkt an vielen solcher Stellen, dass hier eine Habilitationsschrift im Nachhinein zu einem Buch für die Öffentlichkeit umgeschrieben wurde. Dies nimmt ihm leider die Empfehlungsqualität für Neueinsteiger und komplette Laien.

Für alle anderen Leser ist »Zentralbankkapitalismus« jedoch ein ausgesprochen gut und verständlich geschriebenes Werk, das seinem Autor den Habilitationsstatus in Fragen der methodischen Stringenz und argumentativen Klarheit sicher zurecht eingebracht hat. Der umfangreiche Anmerkungsapparat und die lange Bibliographie – sowie die Tatsache, dass Wullweber alleine 18 eigene Publikationen zitieren und aufführen kann – weisen auf die Professionalität und Gründlichkeit des Autors hin. Man merkt, dass hier ein ausgewiesener Fachmann schreibt, wenn auch kein besonders guter Lehrer.



Zentralbank & Schattenbanken


Inhaltlich handelt der Großteil des Buches vom titelgebenden »Zentralbankkapitalismus«, der laut Wullweber die gegenwärtige Wirtschaft in den westlichen Ländern ausmacht. Dem zugrunde liegt die These, dass das neoliberale laissez-faire an den Finanzmärkten in einer Reihe von Krisen kulminierte, die von Zentralbanken durch unkonventionelle Geldpolitik aufgefangen und abgemildert werden. Dies tun sie laut Wullweber vor allem darum, weil die Regierungen ihrer wirtschaftspolitischen Verantwortung nicht nachkommen, sodass nur Zentralbanken die Lücke stopfen und große Krisen hinauszögern und abmildern können.


Doch das ganze hat einen Haken: Weil die Zentralbanken eben Zentralbanken sind, müssen sie ihre wirtschaftlichen Eingriffe mit den Methoden der Geldpolitik durchführen. Dazu gehören neben der Veränderung des Leitzinses und der Überbrückung von Liquiditätsengpässen (die konventionellen Methoden) insbesondere seit 2008 zunehmend Vorgehenseweisen, die ursprünglich als kurzfristige Notfalllösungen eingeführt wurden, mittlerweile aber zum Standardrepertoire gehören. Zu nennen sind vor allem Bereitsstellung von Liquidität durch Aufkaufen von Staatsanleihen und anderen Vermögenswerten (Quantitative Lockerung) sowie die Interaktion mit dem sogenannten Schattenbanksystem.


Letzteres nimmt einen großen Teil im Buch ein; man könnte so weit gehen, es statt »Zentralbankkapitalismus« auch »Schattenbankkapitalismus« zu nennen. Denn die zweite Kernthese Wullwebers läuft darauf hinaus, dass das immense Wachstum der sogenannten Schattenbanken – so bezeichnet der Autor Finanzunternehmen wie z.B. Investmentfonds, die selbst keine Banken sind und daher auch weniger Regulationen unterliegen, zugleich jedoch wie Banken Kredite vergeben usw. – sowohl Ursache als auch Folge der gegenwärtigen Zentralbankpolitik ist.


Nach der Finanzkrise 2008 entschied sich die US-Notenbank, Investmentfonds und Vermögensverwaltern über bestimmte »Repo«-Transaktionen (Rückkaufvereinbarungen) Zugriff auf Zentralbankgelder zu ermöglichen. Damit etablierte sie eine Sicherheitsstruktur, wie sie bis dato nur für reguläre Banken vorstellbar war. Somit konnte der komplette Zusammenbruch der internationalen Finanzwirtschaft zwar aufgehalten werden, doch nur mit der Folge, dass das »Schattenbanksystem« erneut massiv anwuchs – diesmal in vollkommener Abhängigkeit von den Zentralbanken.



Transformation statt Crash


Wullweber erachtet diese Entwicklung nicht grundsätzlich als problematisch; im Gegenteil wirft er sogar der EZB vor, hinter der Experimentierfreudigkeit der US Federal Reserve zurückzuhängen. Tatsächlich merkt man dem Autor einen gewissen Optimismus an: Wenn er beschreibt, wie Zentralbanken als »Dealer of Last Resort« im Schattenbanksystem mitmischen und mit immensen Geldbewegungen indirekte Wirtschaftspolitik betreiben, könnte dem einen oder anderen Leser nur mehr blau vor Augen werden. Wullweber hingegen lässt bei aller professoralen Sachlichkeit anmerken, dass er im Handeln der Zentralbanken einen Schlüssel zur Lösung unserer Zeitkrisen gefunden zu haben glaubt. Nur müsse dieser Schlüssel noch aus den Händen der Zentralbanker in die Hand des demokratischen Staates übergehen.


Dies wird besonders an einer Stelle deutlich, an der er das Eingreifen der Zentralbanken in der Krise mit Thomas Hobbes‘ Leviathan assoziiert. Dies ist etwas, das einem Politikwissenschaftler nicht zufällig rausrutscht, ohne sich der Implikationen bewusst zu sein. Der Leviathan ist bei Hobbes »A Mortal God«, ein allmächtiger Souverän in der politischen Sphäre. In der Fähigkeit der Zentralbanken, in der größten Finanzkrise der Menschheit Ordnung und Stabilität zu gewährleisten, sieht Wullweber das gegenwärtige Zentrum dieser Souveränität, die allerdings noch zum Volkssouverän heimkehren muss.


Schließlich muss es mit dem Zentralbankkapitalismus auch bald wieder ein Ende haben, wenn es nach Wullweber geht. Das Handeln der Zentralbanken betrachtet er als richtige, aber nur übergangsweise geeignete Form des »life support« für eine internationale Finanzwirtschaft, die an sich längst zur bloßen Spekulationsblase verkommen ist. Hier ergreifen die Zentralbanken notgedrungen die Zügel, wo der demokratische Staat mit oder ohne Vorsatz nachlässig wurde. Doch weil sie dies nur über die Beförderung des Schattenbankensystems erreichen können, federn sie die Krise ab und verstärken zugleich die Krisenfaktoren. In diesem Sinne kaufen sie Zeit für ein System, das auf seinen eigenen Untergang wartet. In einem Interview sagte Wullweber passend dazu, dass eigentlich jeder in der Finanzbranche mit einem erneuten Zusammenbruch rechne und alle nur darauf hoffen, als erste rechtzeitig auszusteigen.


In dieselbe Richtung gehen auch Aussagen Wullwebers, dass sich bereits 2019 (also vor der Coronakrise) Anzeichen für eine erneute Finanzkrise mehrten. Sowohl im Buch als auch in Interviews äußerte er sich bereits mehrfach in diese Richtung, ohne jedoch auf die naheliegende Schlussfolgerung einzugehen, dass die Pandemie vor diesem Hintergrund als opportune Gelegenheit für die Politik erschien, mit überzogenen Maßnahmen einen Mini-Crash herbeizuführen und der Realwirtschaft eine Transformation aufzuzwingen, die diese an die veränderten Rahmenbedingungen anpasst. In das gefährliche Fahrtwasser, die Pandemiemaßnahmen ebenfalls aus politisch-ökonomischer Perspektive zu betrachten, könnte er sich als eher linkslastiger Akademiker auch gar nicht begeben, ohne umgehend gecancelt zu werden.



Wohlstand für alle


Dafür begibt er sich jedoch auf anderes Terrain: Für ihn ist klar, dass Staat und Gesellschaft politische Entscheidungen treffen müssen, um eine neue Wirtschaftsordnung für die Zeit nach dem Zentralbank-Kapitalismus zu entwerfen. Dies bedürfe ihm zufolge einer massiven Regulierung der internationalen Finanzmärkte, einer grundlegenden Neubewertung bekannter ökonomischer Kategorien (freier Markt, Neutralität der Notenbanken), der Rückführung des Finanzsystems »zu seiner eigentlichen Funktion: der Bereitstellung von Kredit und Liquidität für die produktive Ökonomie« (S. 255), sowie einer linksprogressiven Gesellschaftsreform:


»Geldpolitik sollte inklusiver werden. Wenn darüber hinaus Geld- und Fiskalpolitik Hand in Hand gehen würden, basierend auf einer demokratisch gestärkten Gesellschaft, könnten wir uns mit ganzer Kraft den wirklich wichtigen Themen unserer Zeit widmen und soziale, ökologische und nachhaltige Antworten auf den Klimawandel und andere gesellschaftliche Herausforderungen entwickeln, finanzieren und umsetzen.« (S. 256)

Natürlich darf der Souverän also nicht durch einen Nationalstaat repräsentiert werden, sondern muss in Form einer internationalen, wenn nicht globalen Instanz auftreten. Man könnte Wullwebers Zentralbankkapitalismus somit auch als Übergangsphase zwischen dem Abdanken des nationalen Souveräns (ca. mit Beginn der Globalisierungswelle in den 70ern und 80ern) und dem (Wieder-)Eintritt des Souveräns in supranationaler Form beschreiben. Die Perspektive, die im Buch eingenommen wird, legt mit ihrem stark identifizierenden Bezug auf die EZB nahe, dass der neue Souverän europäisch sein soll.



Politische Ökonomie


Dabei wirkt der Klimawandel sowohl im Buch als auch in den diversen Interviews Wullwebers teilweise noch wie ein eher unvermitteltes Argument, das urplötzlich herangezogen wird, um die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher politischer Weichenstellungen zu betonen. Man könnte meinen, dass es sich hierbei um eine austauschbare Variable, die auf ein beliebiges großes politisches Ziel verweist (vgl. Marianna Mazzucatos Mission Economy). Hier könnte also auch statt der Eindämmung des Klimawandels die Bewahrung der europäischen Zivilisation stehen. Doch bleibt Wullweber im gegenwärtigen Diskurs jedoch keine andere Wahl, als (z.B. in Interviews) wiederholt zu betonen, dass der Klimawandel das drängendste Problem sei und die Wirtschaft im Sinne einer »grünen Null« (net-zero emissions) umstrukturiert werden müsse.


Dies gibt bereits zu verstehen, was auch sonst aus vielen Äußerungen Wullwebers durchscheint: Er ist kein Ideologe, hat sich nicht von sich aus eine große Idee ausgedacht, mit welcher der Staat die Wirtschaft von nun an beseelen soll. Gleichwohl will er, dass dies geschieht. Nur gilt sein Interesse weniger der Frage, welcher Idee sie untergeordnet werden sollen, sondern wie diese Unterordnung vonstatten geht. Wullweber will das Feld der Ökonomie politisieren und mit der Vorstellung aufräumen, dass Wirtschaft etwas Unpolitisches, von der Gesellschaft losgelöstes wäre. Seine Betonung der unglaublichen Macht der Zentralbanken übersetzt sich sehr direkt in den Willen, politische Entscheidungsmacht in alle Fragen der Wirtschaft einzuführen.


Der ideengeschichtlich informierte Leser merkt überdies schnell, wo die Inspirationen herkommen. Im dritten Kapitel namens »eine politische Theorie des Geldes« führt der Autor eine Geldtheorie ein, die teils direkt aus Marx‘ »Kapital« übernommen ist (Wullweber spricht auch in Interviews von der »Geldform«), um diese dann in Auseinandersetzung mit anderen Geldtheorien zu einer postmarxistisch-linksliberalen Diskurstheorie des Geldes zu entwickeln (Geld als »Mastersignifikant« und Ausdruck eines »gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses«). Interessanterweise ist Wullwebers Theorie der Geldform zwar in ihrem Kern von Marx übernommen, aber völlig aus dem im »Kapital« vorliegenden Zusammenhang der sog. Wertformanalyse gelöst, welche letztlich auf eine Revolution hinausläuft. Wullweber vertritt statt der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« (Untertitel des »Kapitals«) eine konstruktive politische Ökonomie, die auf Transformation der Gesellschaft abzielt. Mit diesem Spezialwissen ausgestattet ist er ein wertvolles asset für jede künftige grüne Regierung.



Geldpolitische Ermächtigung


Wullwebers explizites Ziel ist ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung wirtschaftlicher Zusammenhänge, die nicht mehr als eine autonome Sphäre mit eigenen Gesetzen und größtmöglicher Autonomie, sondern als Aspekt eines politisch-ökonomischen & sozial-ökologischen Gesamtzusammenhangs betrachtet werden sollen. Den Markt-Staat-Dualismus betrachtet er als falsche Dichotomie, was sich konzentriert an seiner Geldtheorie ausmachen lässt. Er knüpft an Marx‘ Begriff der »Äquivalenzform« an, die das Geld als diejenige spezifische Ware betrachtet, die aus dem Kreis der Waren hinausgelöst wird und somit als deren Souverän fungiert. Im Gegensatz zu Marx jedoch (der den Streit um die Frage, ob das Geld nun aus dem Gold stammt oder ob es ein austauschbares Zeichen ist, in das Reich der bürgerlichen Ideologie verdammte) schlägt sich Wullweber eindeutig auf die Seite der Zeichen- und Diskurstheoretiker.


Somit hat er eine Theorie, die nach außen hin an die gegenwärtig hegemonialen Diskurstheorien anknüpfen kann, die aber zugleich in ihrem Kern eine politische ist, weil sie Geld als diejenige Ware versteht, die von einer souveränen Instanz dezisionistisch zum allgemeinen Äquivalent erklärt wird. Die Feststellung, dass auch andere Dinge als Gold Geld sein können, wenn nur eine genügend mächtige Instanz dies festlegt, dient hier vor allem dazu, klarzumachen, dass Geld ganz bestimmt kein Zeichen für Gold oder ein anderes knappes Gut sein darf. In der Theorie ist Geld also zugleich einerseits Ergebnis eines Aushandlungsprozesses und andererseits ein mit staatlicher Macht abgesichertes Zwangsmittel, von dem der Staat folglich auch beliebig Gebrauch machen kann, ohne dass es deshalb notwendigerweise an Wert verlieren muss.


Eine Vision aus dem Albtraum jedes Libertären: Der rein theoretisch interessierte Politökonom will einen starken Staat, der mit Geld so umgeht, wie die Zentralbanken bereits jetzt mit Geld umgehen, nur ohne Umweg über die Finanzmärkte – das Geld soll direkt in die Realwirtschaft gehen, um dort, so die Vorstellung Wullwebers, Nachfrage zu stimulieren und somit Produktivität zu erhöhen. Allerdings soll dieses Produktivitätswachstum nicht einem allgemeinen Wirtschaftswachstum entsprechen, sondern in eine bestimmte politische Richtung (prima facie der Klimaschutz, aber theoretisch ist alles möglich) gehen. Dies bedeutet im Umkehrschluss eine komplette Übernahme der wirtschaftlichen Entwicklung durch die volonté générale der demokratischen Zivilgesellschaft.



Rezeption


Die Rezeption von »Zentralbankkapitalismus« ist zwiespältig zu betrachten. Vergleicht man es mit der Habilitationsschrift eines x-beliebigen Professors für Politikwissenschaften, so wurde es ausgesprochen breit rezipiert. Vergleicht man es mit linksprogressiven Theoriebüchern, die mit demselben grundsätzlichen Veränderungswillen daherkommen, wurde es jedoch eher dünn rezipiert. Das mag daran liegen, dass Wullweber mehr Akademiker als Pop-Theoretiker und sein Buch mehr wissenschaftliche Betrachtung des Zentralbanksystems als linke Politschrift ist. Das Buch kommt mit einem Anspruch an Präzision und Tiefe daher, der viele linke Aktivisten eher abschrecken dürfte, und zur gewinnbringenden Lektüre ist ein grundlegendes Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge vonnöten.


Es ist somit davon auszugehen, dass Wullwebers Buch vor allem unter wirtschaftlich interessierten, linkslastigen Soziologen und Politikwissenschaftlern rezipiert wird. Eine umfangreiche und sehr detaillierte Besprechung zum Buch findet sich von Leon Wansleben bei Soziopolis; Wansleben erläutert die Zusammenhänge dort sowohl knapper als auch verständlicher. Außerdem wurde Wullweber in einer Reihe von Podcasts interviewt, darunter der linke Podcast »Wohlstand für Alle« und der linksradikale Podcast »Future Histories«. Hier zeigt sich einmal mehr die Verbindung von akademischem Mainstream und linker Metapolitik.



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Erik Ahrens (*1994 in Frankfurt am Main) ist Mitgründer und Redakteur des konflikt Magazin.





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