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Dörthe Lütjohann: UNBEDARFT UND UNBEDACHT

Roger Hallam, so vermutet unsere Autorin Dörthe Lütjohann, habe wohl zu lange und zu abgeschirmt von der Mitwelt und ihren Sprachregelungen in Wales Spinat angebaut, um in Bezug auf Tabu-Verletzungen noch der häufigen Kategorie 'Unbedacht' anzugehören. Den britischen Gründer von 'Extinction Rebellion' verschlagwortet sie unter den selteneren 'Unbedarften'.



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Mit „unbedarft“ und „unbedacht“ besitzen wir zwei deutsche Begriffe, die in der Lage sind, eine Äußerung zu relativieren oder zu entschuldigen, die eigentlich als unpassend, ungehörig oder sogar empörend empfunden wird.


Etwas wurde ohne böse Absicht geradeheraus, frank und frei, sozusagen frisch von der Leber weg geäußert in der Meinung, etwas richtig bemerkt zu haben und dabei ist man eben doch mitten in einem sogenannten Fettnapf gelandet.


Der Fettnapf ist das Peinliche. Es ist Dasjenige, das nicht offen angesprochen werden darf, obwohl es allen auf der Zunge liegt. Es ist das, von dem alle ahnen, es könnte wahr sein oder von dem man gar weiß, dass es wahr ist. Es gibt jedoch eine stillschweigende Übereinkunft es nicht anzusprechen, es in keinem Fall zu erwähnen.


Der Unbedarfte, der es unbedacht erwähnt, hat die Tragweite nicht erfasst. Er befindet sich in naiver Unkenntnis der Umstände, die zur Tabuisierung geführt haben. Entweder war er wirklich ahnungslos darüber, was in einem bestimmten Zusammenhang geäußert werden darf, also unbedarft oder eben unbedacht, denn er hätte bedenken müssen, wer durch die Bemerkung verletzt und aufgebracht werden kann oder welche Tabus berührt werden. Dann hätte er herausgefunden, was sagbar ist. Derjenige, der etwas unbedacht oder unbedarft äußert, hat zwar in der Regel recht, rührt jedoch an Wahrheiten, die tabuisiert sind.


In den letzen Wochen fanden diese beiden Begriffe in zwei Zusammenhängen Verwendung. Der erste Fall ist das Manifest „Was wir wollen“, das Holger und Silke Friedrich, im Zuge ihrer Übernahme der Berliner Zeitung dort veröffentlicht haben.


Ein Kommentar in der „Welt“ befand: “Einige ihrer Äußerungen wirkten kalkuliert, andere unbedacht“ . Vor allem die Bemerkung der Friedrichs zur deutschen Erinnerungskultur wirkt unbedacht:



Auf den ersten Blick scheint es, als sei das Unmögliche dieser Äußerung der so unbedarft geäußerte Schuldstolz. Zu klar tritt das Abstoßende an ihm hervor, das darin besteht, sich den lobenswerten Umgang mit der eigenen Schande derart groß auf die Fahne zu schreiben, dass es wie ein Sich-damit-Brüsten wirkt.


Es wirkt - man entschuldige an dieser Stelle den Versuch einer Analogie, wo es eine keine geben darf - als wenn ein Christ sich damit brüste, dass die ganze christliche Heilsgechichte ihren Grund in der eigenen Sündhaftigkeit habe. Ohne Sünde kein Opfertod Jesu. Das Sterben des Gottessohnes sozusagen zur Verherrlichung des Sünders.


Auch wenn es nicht ganz falsch gedacht ist, könnte doch nur ein Mensch, dem das Gefühl der Schuld und Schande fremd ist oder eben einer, der nicht glaubt, sich auf diese Weise äußern. Nur einem Menschen, der das Dogma nicht verinnerlicht hat, wäre es möglich, sich dermaßen blasphemisch zu äußern. Verinnerlichen heißt ja eben nicht nur, ein religiöses Narrativ zu kennen und sich zu ihm zu bekennen, sondern dessen ganze Tragweite zu erspüren und ins eigene Wesen aufzunehmen.

Bezüglich eines religiösen Dogmas verbietet sich derartiges Denken auch wenn es logisch nachvollziehbar wäre. Es entsteht dadurch der Eindruck eines Aberwitzes. Einem Glaubenssatz ist bekanntlich mit Logik nicht beizukommen. Das Erkennen des Aberwitzes jedoch wäre das, was aufhorchen ließe und zu Fragen führen würde, die die Irrationalität des gesamten Konstrukts offenlegten.


Die größere Unbedachtheit der Friedrichs liegt möglicherweise nicht darin, dass sie sich mit der deutschen Erinnerungskultur brüsten, sondern dass sie deren Merkwürdigkeit bzw. das Bemerkenswerte daran feststellen: nämlich die Tatsache, dass eine solche von den Tätern ausgehende Erinnerungskultur doch etwas Außergewöhnliches ist und darum einer Thematisierung würdig. Dies scheint der Fettnapf zu sein. Hier wird ein Tabu berührt.


Man könnte beispielsweise fragen, warum es überhaupt eine Erinnerungskultur ist, also eine Sache, bei der man sich - wie bei jeder Art von Kultur - ins Joch der Anstrengung begibt, weil man etwas aufrecht erhalten möchte, wo doch alle anderen Völker den Focus eher auf die eigenen Opfer legen und versuchen würden, Gras über die Sache wachsen zu lassen.


Zudem könnte man fragen, was genau die Deutschen hierzu antreibt - wieviel des Antriebs intrinsisch ist und wieviel extrinsisch - alles interessante Fragestellungen.


Der andere Fall von Unbedarft-und Unbedachtheit sind die Äußerungen des Co-Gründers der Extinction-Rebellion Bewegung Roger Hallam in seinem Interview in der „Zeit“ vom 20.11.2019

Seine Bermerkung, der Holocaust sei „just another fuckery in human history“, womit er meint, die Menschheitsgeschichte sei voll von Genoziden, von denen der Holocaust eben einer sei, dem man nicht eine so außergewöhnliche Bedeutung zukommen lassen sollte, wurde ihm kurz nach seiner Äußerung noch lediglich als unsensibel und unbedacht angekreidet.


Inzwischen ist vor allem die deutsche politisch korrekte Meute über ihn hergefallen und er ist zumindest von Extinction-Rebellion-Deutschland exkommuniziert worden. Seine Äußerungen werden ihm als Antisemitismus ausgelegt obwohl er deutlich zurückgerudert ist und sich entschuldigt hat. Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt, nimmt Hallams Aussagen sogar zum Anlass, sich der Doppelmoral beim linken Antisemitismus zu widmen. Dabei ist nicht einmal wirklich festgestellt, dass Hallam links ist, sein Ansatz des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Widerstands finden sich sowohl bei Henry David Thoureau (1817-1862) als auch bei einem der Begründer der Tiefenökologie, dem norwegischen Philosophen und Ökologen Arne Naes (1912-2009), der allerdings den Ruf eines rechten Ökologen genießt (Peter Bierl „Grüne Braune“ Münster 1914).


Roger Hallam ist ein naiver Aktivist und kein ausgefuchster Politiker. Er sagt, was ihm vernünftig und folgerichtig scheint. Er hat nicht auf dem Schirm, was nicht sagbar ist. Er ist in dem Sinn naiv, dass er das geistige Klima in dem die Bewegung aufgebaut wurde nicht antizipiert hat. Zu lange hat er in Wales Spinat angebaut und sich wahrscheinlich einen Dreck darum geschert, was politisch opportun ist.


Es scheint, als seien ihm gewisse Dogmen unbekannt, denen zu widersprechen einer Häresie gleichkommt. Es ist, - man entschuldige an dieser Stelle nochmals den Versuch einer Analogie, wo es eine keine geben darf - als wenn jemand behaupte, dass jeder, dessen Vater ein Zimmermann gewesen sei, ebenso Gottes Sohn sei.


Hätte Roger Hallam einen PR-Berater gehabt, wäre ihm dieser Fehler in einem Interview mit einer führenden deutschen Tageszeitung wohl nicht unterlaufen. Dann wäre er nicht öffentlich geschlachtet worden und der Ullstein Verlag hätte sein Buch „Common Sense“, das Ende November erschienen wäre, nicht zurückgezogen.


In seinem deutschen Wikipedia-Eintrag beziehen sich inzwischen 5 von 11 Referenzen auf seine Verharmlosung des Holocausts. Diese Referenzen sind zum großen Teil Hinweise darauf, wer alles sich von Hallam aufgrund seiner Holocaustrelativierung distanziert hat. Damit ist er für die „veröffentlichte Meinung“ im deutschsprachigen Raum ein toter Mann, der dort nie mehr etwas zu sagen haben wird.


Der englische Wikipedia-Eintrag zu Roger Hallam behandelt nebenbei bemerkt seine Aussagen wesentlich differenzierter. Hier beziehen sich 6 von 30 Referenzen auf seinen Fauxpas. Zwei dieser sechs verweisen interessanterweise darauf, dass schwarzafrikanische Aktivisten die Gleichsetzung des Holocaust mit dem belgischen Genozid im Kongo als lobenswert betrachten. Hier scheinen sich Quellen neuer Unbedachtheit aufzutun und es ist fraglich, ob man dieses Loch zu stopfen in der Lage sein wird. Man wird sehen, ob man diesen Völkern klarmachen kann, dass ihr Leiden nicht dieselbe Rangordnung hat und sie sich sozusagen als Opfer zweiter Klasse zu betrachten haben.


An dieser Stelle lässt sich auch noch einmal an die Äußerungen des Verlegerehepaars Friedrich anknüpfen. Bezüglich ihres Essays wurden Stimmen laut, die vor allem kritisierten, dass sich bei der Berliner Zeitung niemand getraut habe, den Essay des Verlegerehepaars zu redigieren. Solche Schnitzer hätte ein guter Redakteur, der weiß, was man ungestraft äußern kann, doch herausgestrichen. Ein Redakteur, der richtig eingenordet ist, weiß, was sagbar ist.


Offensichtlich kann man denken, was die Friedrichs gedacht haben - und auch, was Roger Hallam gedacht hat. Es ist nicht irre und es widerspricht auch nicht den Gesetzen der Logik. Es wurde von offensichtlich intelligenten und nicht geistig kranken Menschen gedacht und geäußert. Es existiert jedoch eine Diskrepanz zwischen dem Denkbaren und dem Sagbaren.


In keinem der beiden Fälle wird man die Absicht, Opfer bewusst zu verhöhnen oder Sachverhalte zu leugnen, unterstellen können. In keinem der beiden Fälle sind die Protagonisten einem rechten Umfeld zuzuordnen, dem man gemeinhin unterstellt, mit derartigen Äußerungen bewusst zu provozieren oder Narrative in Frage zu stellen.


Es handelt sich sowohl bei den Friedrichs als auch bei Roger Hallam um ganz ähnliche Figuren wie die des unbedarften kleinen Kindes aus dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen, das unbedacht sagt: „Aber er hat ja nichts an“ - der nackte König!


Die Friedrichs und Roger Hallam sind jedoch keine Kinder. Sie sind sozusagen strafmündige Büger und dürfen derartiges nicht ungestraft sagen. Zudem ist es auch nur im Märchen so, dass zuletzt das ganze Volk rief „Aber er hat ja nichts an!“


Doch auch bei Andersen gingen die Kammerherren erst einmal noch straffer und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.


„Der Zeitgeist, nicht der eigene Verstand, bestimmt das Denken und Handeln. Die Epoche der Vernunft und der schönen Individualität (Hegel) war kurz. Wieder regiert das „Schicksal“, dem sich jeder blind zu unterwerfen habe, der teilnehmen will am großen Spiel.“

(Frank Lisson „Die Verachtung des Eigenen“ S.252/ Schnellroda 2011)



Vielleicht sind die beiden im Text hergestellten Analogien, wo es keine geben darf, doch nicht zu weit hergeholt. In „Der Verachtung des Eigenen“ heißt es an anderer Stelle (S. 239):


„Da alle Religionen naturgemäß irrational wirken und eben einem tiefsitzenden menschlichen Bedürfnis entsprechen, lassen sich auch die Formen ihrer Instrumentalisierung nicht durch deren Offenlegung oder durch logische Argumente aus der Welt schaffen. Die Furcht vor Bestrafung bei Verstoß wohnt jedem Gläubigen inne wie die Lust, sich zugleich einer (strafenden) Autorität zu unterwerfen. Das Christentum hat eine ganze Kultur auch zum Masochismus erzogen, ... So ist es nur logisch und konsequent, daß der Weg des Abendlandes im Kult um die Leiden des Juden begann, und im Kult um die Leiden der Juden endet.“


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Über die Autorin:


DÖRTHE LÜTJOHANN, geb. 1966; Studium und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg. Magistra der Politikwissenschaft und Ethnologie. Lesende und freidenkene Hausfrau sowie Mutter dreier Kinder.

Beiträge von Dörthe Lütjohann finden sich etwa in den TUMULT-Ausgaben vom Sommer 2017 oder Winter 2017/2018.



 

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