Eine Jugendbewegung nimmt das von NGOs, Globalpädagogen und Forschungszentren geschürte Untergangsszenario beim Wort und verbreitet sich wie ein Lauffeuer um die Erde, verkörpert von einer Schülerin mit Asperger-Syndrom, die unerschütterlich und völlig glaubwürdig wirkt. Die uneingeschränkt herrschende Globalmoral ist Rattenfängerei, zugleich Inbegriff der kosmopolitischen Zivilgesellschaft. Künftig wird so etwas immer wieder geschehen: dass Kinder, die im Treibhaus der Globalmoral heranwachsen, den kleinen Unterschied zwischen Virtualität und Realität, "Lüge" und "Wahrheit", nicht mehr wahrnehmen. Es erinnert an das Überlaufen von Facebook-Ideen in die Straßen einer Großstadt. Deshalb ist Dörthe Lütjohanns Einstieg mit den "Selbstmordkindern" durchaus stimmig. Die eigentliche Pointe aber ist die Gleichzeitigkeit der Demonstrationen in Indien, China und Europa. Wir erleben den Kurzschluss zwischen Autismus (digitalem Gehäuse) und Globalität.
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Der Vorschlag dreier norwegischer Parlamentsabgeordneter, der 16jährigen Schwedin Greta Thunberg durch das Verleihen des Friedensnobelpreises ein Denkmal zu setzen, erinnert an ein anderes norwegisches Denkmal.
In der norwegischen Kleinstadt Skien, dem Geburtsort Henrik Ibsens, hat man im zentral gelegenen Ibsens Park den sogenannten „Selbstmordkindern“ aus seinen Dramen ein Denkmal gesetzt.
Es handelt sich zum einen um Eyolf, den neunjährigen Protagonisten aus dem gleichnamigen Drama „Klein Eyolf“ und zum anderen um die 14jährige Heranwachsende Hedwig, aus der „Wildente“. Die lebensgroßen Bronzen der beiden Kinder scheinen einige Meter bergabwärts unterhalb der großen Ibsenbronze zu spielen - ein jedes für sich. Eyolf, auf eine Krücke gestützt, wendet sich einem kleinen Mops zu. Hedwig schaut auf die Wildente.
In den Dramen Ibsens scheiden diese beiden Kinder freiwillig aus dem Leben. Der verkrüppelte Eyolf geht ins Wasser. Er ertrinkt, weil er der Faszination einer Rattenfängerin, der alle Kleinnager ins Wasser folgen, nicht widerstehen kann.
Die an einer progredienten Augenkrankheit leidende Hedwig erschießt sich auf dem Dachboden des Elternhauses, nachdem die Lebenslüge Ihrer Familie aufgedeckt wird: Sie erfährt auf brutale Weise, dass der von ihr sehr geliebte Vater nicht ihr wirklicher Vater ist.
Es handelt sich bei Eyolf und Hedwig um besondere Kinder. Sie leben als Einzelkinder isoliert und in gewisser Weise einsam in einem Umfeld, in dem die Erwachsenen von ihren eigenen Problemen absorbiert scheinen. Beide Väter sind Sinn Suchende. Beide suchen nach einer Aufgabe, über die sie sich selbst verwirklichen könnten. Eyolfs Vater arbeitet an einem Buch über die „Menschliche Verantwortung“, an dem er nicht weiterzuschreiben vermag. Hedwigs Vater sieht sich in Tagträumen als Urheber einer bahnbrechenden Erfindung, die er aber nicht voranzutreiben, ja noch nicht einmal zu beschreiben vermag. Eyolfs Eltern befinden sich in einer Sinn- und Beziehungskrise, in der auch das Schuldig werden am Kind eine Rolle spielt, denn seine Verkrüppelung ist Folge eines Sturzes als Säugling, während seine Eltern sich selbst- und pflichtvergessen im elterlichen Schlafzimmer vergnügten.
In Hedwigs Familie wird eine Lebenslüge aufgedeckt, die für die Familie konstituierend war. Auch in dieser Familie gibt es ein unbewusstes Schuldig-werden am Kind, denn Hedwig wird das Wissen um ihren wirklichen Vater zumindest von der Mutter vorenthalten.
Beide Kinder sind aufgrund ihrer Behinderungen sozial schlecht eingebundene Kinder. Hedwig verbringt ihre Tage ausschließlich daheim. Sie leidet an einer obskuren Augenkrankheit, an der sie erblinden wird und die sich angeblich verschlechtert, wenn sie zu viel liest oder bei Tageslicht das Haus verlässt. Auch Eyolf hat durch seine Behinderung keinen Anschluss an die wilden Spiele der Gleichaltrigen. Er wird sogar bewusst ausgeschlossen und von den anderen Jungen gehänselt.
Sowohl Hedwig als auch Eyolf gehen nicht zur Schule. Sie lernen im häuslichen Umfeld von ihren Eltern und neigen dazu, sich in eine Bücherwelt zurückzuziehen. Sie stehen demzufolge außerhalb ihrer Peergroup und sind damit besonders anfällig, Opfer einer Parentifizierung zu werden. Sie scheinen besondere Antennen für die Probleme der Erwachsenen entwickelt zu haben und versuchen, diese unbewusst zu entlasten. Sie werden zu den sogenannten Symptomträgern der dysfunktionalen Familien.
Eyolf ertrinkt, weil er sich von der Rattenfängerin und deren Verheißungen angezogen fühlte. Kurz vor dem tragischen Unfall erscheint sie mit ihrem Mops an der Haustüre und fragt nach, ob es im Haushalt etwas „Nagendes“ gebe, das man gerne los wäre. Sie rühmt ihre Methode, die kleinen von den Menschen gehassten und verfolgten Nagetiere mit dem Hund und der Maultrommel ins Wasser zu locken, wo sie es dann endlich „so still und so schattenkühl haben, wie sie sich’s nur wünschen können.“ Wo sie endlich Ruhe finden. Das einzig „Nagende“ in der Familie ist der Junge. Sein Vater wird von Schuldgefühlen ihm gegenüber gequält und seine Mutter wünscht ihn weg. Sie sieht in dem Jungen einen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit und Liebe ihres Mannes. Er scheint für sie die Ursache des Erkaltens der Gefühle ihres Mannes. Der Junge spürt, dass es für ihn keine Zukunft und keinen Platz gibt. Er verabschiedet sich.
Hedwig ist in ähnlicher Weise ein Kind ohne Zukunft aus einer Familie, die eigentlich keine ist. Die Familie ist eine Notkonstruktion, die durch eine Lüge zusammengehalten wird. Sobald diese Lüge aufgedeckt wird, bricht auch die Konstruktion zusammen. Der Vater erfährt, dass er nicht der wirkliche Vater Hedwigs ist, die sein einziges Licht und einziger Lebenssinn zu sein scheint. Er fühlt sich betrogen und stößt das Kind zurück, das sich daraufhin der väterlichen Pistole bemächtigt und erschießt.
Es gibt in den Ibsenschen Familien dieser beiden Dramen keine Familien im eigentlichen Sinne. Sie sind keine Familien, in denen die Fortpflanzungsgemeinschaft als zukunftsorientierte Gemeinschaft im Vordergrund steht, in der sich die Einzelnen Individuen den Notwendigkeiten der größeren Ordnung unterordnen. Diese modernen Familien bestehen aus Individuen, denen Selbstverwirklichung wichtiger ist als die Familie. Die Bestrebungen der einzelnen Erwachsenen haben zentrifugale Kräfte, die die Familie zerstören. Opfer sind die Kinder, in beiden Fällen die viel zu wenigen Kinder, denn ein Einzelkind ist nicht ausreichend, um ein Elternpaar zu reproduzieren. Es stehen alle Zeichen auf Untergang.
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Greta Thunberg scheint eine ähnlich tragische Figur zu sein. Es wurde bei ihr das Aspergersyndrom diagnostiziert, eine Entwicklungsstörung, die insbesondere sozial beeinträchtigt und einsam macht, etwas, das sie mit den Kindern der Ibsenschen Dramen verbindet. Zwar wird sie benutzt, um inzwischen weltweit Kinder ihrer Altersklasse zu mobilisieren, doch bleibt sie emotional mit ihnen unverbunden. Sie wendet sich an die Erwachsenen, nicht an die anderen Kinder. Gleichzeitig hat sie Symbolcharakter. Greta steht für eine geschwächte und behinderte Generation, die mit letzter halbherziger Anstrengung versucht, ihr Lebensrecht geltend zu machen und doch gar nicht wirklich weiß, woran sie krankt.
Diese Generation wurde durch Indoktrination dann gehindert, zu erkennen, dass die Gesellschaft, in der sie heranwächst, längst kein Nest mehr ist, das alles daran setzt, um die Kinder in eine gute und aussichtsreiche Zukunft zu entlassen, so wie es die Aufgabe einer gesunden Familie wäre.
Greta ist sozusagen die Synthese aus Eyolf und Hedwig und steht für alle Kinder, die sie hinter sich versammelt, für all die, die mit ihr Opfer einer ideologischen Rattenfängerei geworden sind.
Die idealistischen Energien einer ganzer Kohorte jugendlicher Nager müssen gebunden und dorthin gelenkt werden, wo sie keinen Schaden anrichten können, wo sie der zentralen politischen Zielsetzung nämlich der Umstrukturierung der Gesellschaft zu einer globalen Multikultikonsumgesellschaft nicht im Wege stehen. Wer gegen den Klimawandel aktiv wird, wird der zukünftige Konsument klimaverträglicher Produkte sein, er wird das System am Laufen halten und gleichzeitig das Gefühl haben können, unangepasst zu sein und auf besonders revolutionäre Weise - durch Schulschwänzen! - für das Richtige eingetreten zu sein. Diese Kinder treten für Ideale ein, die Lügen sind. Relling - der Arzt, der in der Wildente der Wissende aller Konstellationen ist - sagt an einer Stelle:
„Gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort Ideale. Wir haben ja das gute nationale Wort Lügen.“
Die eigentlichen Probleme liegen nicht dort, wo sie hysterisiert und aufgebauscht werden und wo aller Aktionismus ins Leere laufen muss, denn das Klima wird sich schwerlich an der Agenda der Kinder ausrichten.
Nicht das Klima ist es, das diese Kinder retten müssten. Das Klima ist nicht die Variable, auf die Sie Einfluss nehmen könnten. Der gesamte Jugendliche Idealismus und Aktivismus einer Generation wird auf einen Gegenstand gelenkt, wo er nur ins Leere laufen kann - sozusagen ins Wasser gehen muss.
Es ist die Gesellschaft, es ist die soziale und kulturelle Heimat dieser Kinder - allen Gesellschaften voran im Übrigen die schwedische - , die durch die massive Einwanderung und den daraus resultierenden Problemen zerstört sein wird, bevor die Durchschnittstemperatur auch nur um einen weiteren Grad und der Meeresspiegel um einen weiteren Zentimeter angestiegen sein werden.
Man könnte Greta als Personifizierung ihrer Alterskohorte betrachten, die die Symptomträgerin einer dysfunktionalen Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft, in der über die wirklichen Probleme, die auf sie zerstörerisch wirken, nicht gesprochen werden darf. Man stelle sich vor, die Schüler würden jeden Freitag in Massen gegen den Migrationspakt demonstrieren, gegen illegale Einwanderung und die damit verbunden Gefahren, gegen die sukzessive Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch Fremde, die vor allem, aber nicht nur die Freiheit der jungen Schülerinnen einschränken. Dies alles wären viel näher liegende Dinge, viel akutere Gefahren als eine abstrakte Erwärmung der Atmosphäre und des Meeres.
Waren die pathologischen Familienverhältnisse Hintergrund für die Selbsttötungen von Eyolf und Hedwig, so sind hier die pathologischen Gesellschaftverhältnisse Hintergrund für das suizidale Verhalten einer ganzen Generation.
Greta und ihrer Generation bleiben als Synthese von Hedwig und Eyolf zwei Möglichkeiten der eigenen Vernichtung: Sie wird entweder der globalmoralischen Rattenfängerei in aller Konsequenz aufsitzen und ins Wasser gehen oder die Lügen, die „Ideale“ genannt werden, durchschauen und sich aus Scham über ihren Missbrauch selbst hingerichtet sehen.
Greta müsste dann in der Lage sein, zu erkennen, dass alles, was ihre Identität inzwischen bestimmt - nämlich das Mädchen zu sein, das die Welt rettet - auf einer Lüge basiert. Da diese Erkenntnis schmerzhaft ist, wird sie auf sich warten lassen bzw. nicht erfolgen. In der Zwischenzeit wird das zerstörerische Werk fortgeführt, bis nichts mehr zu retten sein wird.
Was ist für ein Kind tödlicher, als zu erkennen, dass die eigenen Eltern die Vernichtung des Kindes betreiben?
Aus der “Wildente” stammt das berühmte Zitat: “Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.” Das lässt sich augenscheinlich auf eine Durchschnittsgesellschaft übertragen, wobei man hinzufügen müsste, dass es sich ja bei diesem Glück doch immer nur um eine Illusion des Glücks handeln kann.
Die Norweger scheinen eine unbewusste Empathie für diese Art Kind zu hegen. Darum wurde Greta Thunberg wohl gerade von Ihnen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Für Greta sollte stellvertretend für alle tragischen Kinder, die zum Opfer der Lügen und der Pflichtvergessenheit der Erwachsenen werden, ein Denkmal errichtet werden, stellvertretend für eine ganze Generation, die den eigenen Selbstmord betreibt. Eine Generation, die zum Opfer der Lebenslüge der Elterngeneration wird.
Hier haben wir auch den deutschen Rattenfängermythos, in dem sämtliche Kinder der Stadt Hameln nie mehr gesehen wurden. Verschwindet eine ganze Generation, bedeutet es das Ende einer Gesellschaft.
'Rattenfänger als Schalmeipfeifer' (Augustin von Moersperg, 1592)
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Über die Autorin:
DÖRTHE LÜTJOHANN, geb. 1966; Studium und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg. Magistra der Politikwissenschaft und Ethnologie. Lesende und freidenkene Hausfrau sowie Mutter dreier Kinder.
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