Wie befremdlich übereifrige Solidaritätsbekundungen im Zweifelsfall auf ihre jeweiligen Adressaten wirken, als wie schmal sich zuweilen der Grat zwischen Kultursensibilität und Herablassung erweist und was Heinrich Heine und der Düsseldorfer Karneval damit zu tun haben, legt unsere Autorin in einer konzisen Betrachtung zur »kulturellen Aneignung« dar.
Das Thema cultural appropriation sollte einmal auf’s Tapet gebracht werden, bevor weitere Fehler begangen werden. Seit vielen Jahren in den USA ein Thema, treibt dieser Auswuchs der political correctness auch bei uns seit einiger Zeit sein Unwesen, doch noch nicht allen scheint klar, was es damit auf sich hat. Cultural appropriation wird als eine Form des Rassismus betrachtet und bedeutet zuerst einmal nichts weiter, als die Aneignung einer anderen Kultur - allerdings im Sinne von unrechtmäßiger Aneignung. Darunter fallen solche Dinge wie Blackfacing, Dreadlocks, das Tragen von Indianerkostümen an Fasching und auch - und das ist jetzt wichtig - das Tragen einer Kippa durch Nichtjuden. Man übernimmt Kulturgut, das anderen gehört - und das darf man nicht. Jedenfalls darf man es dann nicht, wenn man es als Angehöriger einer überlegenen Mehrheit von einer unterlegenen Minderheit übernimmt, weil man ihr damit ihre Identität raubt bzw. schwächt indem man die Bedeutung des jeweiligen Kulturgutes verändert oder gar entheiligt. Niemanden stört es, wenn Angehörige anderer Kulturen auf dem Oktoberfest Dirndl und Lederhosen tragen. Die überlegene Kultur freut sich quasi, wenn sie und ihre kulturellen Eigenheiten Vorbildcharakter haben. Die Minderheit bzw. unterlegene Kultur muss bei derartigem Verhalten um ihre Existenz bangen. Wenn sie imitiert wird, verschwindet sie. Sie verliert gleichsam an Sichtbarkeit. Wenn nun alle Kippa tragen, weiß man nicht mehr, wer Jude ist und wer nicht. Das auserwählte Volk sieht dann nicht mehr nach einer Auswahl aus, sondern wie jedermann.
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Um das eigentlich Widerliche der kulturellen Aneignung im Zuge einer Solidaritätsbekundung wie der Kippa-Demonstration in Berlin aufzuzeigen, müssen wir versuchen, uns in eine ähnliche Lage zu versetzen:
Es ist zwar einige Jahrzehnte her, doch damals, als sich der amerikanische Präsident Kennedy 1963 in seiner berühmten Rede angemaßt hatte, ein Berliner zu sein, war es noch nicht lange her, dass wir einen Krieg gegen die USA verloren hatten. Wir waren eindeutig besiegt, ja fast ausgelöscht. Es muss für die Berliner nicht sehr angenehm gewesen sein, so vom Sieger vereinnahmt zu werden auch wenn er damit Solidarität bekunden wollte. Da standen sicherlich einige im Publikum, die gerade mal so eben die Rheinwiesenlager überlebt hatten, wie konnte der amerikanische Präsident da behaupten, einer von ihnen zu sein und sich mit ihrem Schicksal zu identifizieren? Es hätte auch als Häme aufgefasst werden können.
Das Schwierige am Tatbestand der kulturellen Aneignung ist, dass er eben nur für die Überlegenen der Mehrheitsgesellschaft gilt. Dem Schwächeren, dem Angehörigen der Minderheit ist etwas gestattet, das dem Stärkeren verwehrt ist. Sozusagen ein umgedrehtes »Qoud licet Iovi, non licet bovi.«
Damit ist die kulturelle Aneignung zum einen nicht so einfach auszumachen und zum anderen ist ihre Ächtung besonders schwierig zu durchzusetzen, denn es bedarf der Einsicht und Nachsicht des Überlegenen.
Es ist schon ein wirklich schwierig Ding um diesen Auswuchs der political correctness. Es können einem hierbei so viele Fehler unterlaufen. Ohne eine Kenntnis genauer Über- und Unterlegenheiten und ohne eine Kenntnis der Hierarchie der Opfer und Täter wird man immer wieder in die aufgestellten Fettnäpfe treten.
Man sollte diese Hierarchien einmal öffentlich machen wie eine Hitliste zum Beispiel, so dass jeder Demonstrant weiß, was er zur Solidaritätsbekundung tragen darf und in welchem Fall es kulturelle Aneignung wäre. Das heißt, man müsste dann aber auch sich selbst wieder verorten können oder dürfen, sprich über eine eindeutige Identität verfügen, was sich unseren Zeiten als äußerst schwierig erweist.
Das fängt bereits beim Geschlecht an. Denken wir nur an die Steinigung im Film Life of Brian: Wie muss man hier den Sachverhalt bewerten, dass es den Frauen im Film nicht erlaubt ist, sich über das Tragen von Fake-Bärten die Teilnahme an der Steinigung zu erschleichen, obwohl sie eindeutig in der schwächeren Position waren? Auch hier hieß es doch eigentlich »lasst uns Männern die Bärte!«, weil eben das Mannsein Vorrechte barg, die man den Frauen nicht auch zu gewähren gewillt war, in diesem Fall die Teilnahme an einer Steinigung.
Die Erlaubnis der kulturellen Aneignung wäre für die unterlegene Minderheit ohnehin ein fragwürdiges Vorrecht. Wenn auch gestattet, so ist es doch nicht immer leicht, durch kulturelle Aneignung in den Camouflage-Modus zu wechseln. Gerade Juden haben immer wieder davon Gebrauch gemacht. Damit meine ich nicht das unfreiwillige Kryptojudentum nach den Zwangsbekehrungen zum Christentum oder Islam, sondern den freiwilligen Akt der Konversion.
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Ich war sehr erstaunt, als ich im Februar diesen Jahres den Karnevalswagen der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gesehen habe. Ein gigantischer Christian Johann Heinrich Heine mit Kippa wurde stolz als großer jüdischer Sohn der Stadt präsentiert. Ich war verwirrt, war mir doch bekannt, dass Heine zwar jüdischer Herkunft gewesen ist, aber keineswegs als Jude zu Grabe getragen wurde. Mit 27 Jahren ließ er sich protestantisch taufen und nahm die lutherische Konfession an, der er bis zu seinem Tod angehörte. Wie viele konvertierten Juden musste er allerdings erleben, dass cultural appropriation keine einfache Sache und oft zum Scheitern verurteilt ist. Ob er es allerdings posthum genehmigen würde, dass man ihn mit einer Kippa auf dem Kopf in einem Narrenwagen durch die Stadt karrt, bleibt fraglich.
Heinrich Heine war es nicht, der am 25. April diesen Jahres in einer Spiegel-Kolumne gejammert hat: »Lasst uns Juden die Kippa.« Er hätte sich sicher anders zur Wehr zu setzen gewusst. Wahrscheinlich hätte er seinen gefürchteten Spott über uns ausgegossen. Es war Armin Langer, der Autor des Buches Als Jude in Neukölln, seines Zeichens Philosoph und jüdischer Theologe, der in seinem Kommentar die Deutschen der kulturellen Aneignung bezichtigt, die sich in diesem Frühjahr in Berlin über das Kippa-Tragen mit den Juden solidarisieren wollten.
Es ist wie früher in der Grundschule: Immer dem gleichen Typus Junge wird die Mütze weggenommen wird oder der Ranzen ausgeleert. Man möchte ihm zurufen: »Komm raus aus Deiner Opferrolle. Du brauchst das nicht mehr!«
Man muss diese Rollen nicht über Generationen festschreiben; auch die Schuldrolle der Deutschen nicht - und wir Deutschen geben uns ja gerade wirklich alle Mühe, selbst zu Opfern zu werden.
Aber vielleicht verhält es sich mit der Kippa ja auch ähnlich wie mit den Bärten in Life of Brian: Vielleicht soll ja auch eine Aneignung von Vorrechten verhindert werden mit der Forderung »Lasst uns Juden die Kippa.«
Die political correctness erweist sich hier wieder einmal als ein schwieriges Feld mit vielen Fallstricken, in dem klares Denken kein guter Wegweiser ist.
Heinrich Heine (Moritz Oppenheim, 1831)
Über die Autorin:
DÖRTHE LÜTJOHANN, geb. 1966; Studium und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg. Magistra der Politikwissenschaft und Ethnologie. Lesende und freidenkene Hausfrau sowie Mutter dreier Kinder.
Beiträge von Dörthe Lütjohann finden sich etwa in den TUMULT-Ausgaben vom Sommer 2017 oder Winter 2017/2018.