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Deborah Ryszka: SEENOTRETTUNG

Noch immer schlagen die Schlepper-Aktivitäten der deutschen Kapitänin Carola Rackete, die Italien nach Medienberichten in diesen Stunden wieder verlassen hat, international Wellen. Längst nicht zu spät also, um dem Phänomen der 'Seenotrettung' neuen Stils eine eingehende Betrachtung zu widmen.



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Kants Kategorischer Imperativ gehört wohl zu den bekanntesten Handlungsanweisungen der sogenannten deontologischen Moral. Im Gegensatz zu der konsequentialistischen Moral, die das moralische Urteil von der Qualität der Handlungsfolgen abhängig macht, steht in der deontologischen Sichtweise nur die Handlung im Mittelpunkt.


Aus dieser Perspektive ist der Fall um die Kapitänin Carola Rackete und ihrer Einfahrt in den Hafen von Lampedusa mit dem Flüchtlingsschiff Sea-Watch-3 klar. Menschen zu retten, die in Seenot geraten sind, ist moralisch richtig. Es handelt sich, und das ist unbestritten, um einen höchst humanitären Akt.


Betrachtet man jedoch Racketes Handlung aus konsequentialistischer Sichtweise, verkompliziert sich der Sachverhalt. Warum? Weil hier die Konsequenzen der Flüchtlingsrettung berücksichtigt werden müssen, was die Frage aufkommen lässt: War Racketes Rettung ein verantwortungsbewusster Akt? Um das zu beantworten, müssen unterschiedliche Perspektiven in Betracht gezogen werden.


Da wären zum einen die geretteten Flüchtlinge. Dass ihre Reise eine Fahrt ins Ungewisse werden sollte, dass sie ertrinken könnten, dass sie sich womöglich in die Perspektivlosigkeit werfen, das alles mussten sie wissen. Schließlich verfügen sie über einen Verstand und die nötigen technischen Hilfsgeräte, die ihnen Nachrichten und Bilder aus aller Welt zugänglich machen. Somit wussten sie um die Konsequenzen ihrer Reise Bescheid, die im extremsten Falle mit dem Tod enden könnte.


Scharfzüngig gesprochen: weil sie bewusst diese Gefahren in Kauf nahmen, müssen sie zunächst selbst für ihre Entscheidung und die Konsequenzen zur Verantwortung gezogen werden.

Neben den Flüchtlingen wäre da noch die Kapitänin. Egal aus welchen Motiven sie oder „Sea Watch“ die Seenotleidenden vor dem Ertrinken bewahrten, egal wie ehrbar ihr Engagement war, an die Konsequenzen, an ein Konzept für die Zeit nach der Rettung haben sie nicht gedacht. Denn die Reise der Flüchtlinge ist noch lange nicht vorbei, ihre Zukunft ungewiss. Obschon sie für diesen Moment, im Hier und Jetzt gerettet sind, gilt das für ihr Morgen in Italien nicht. Schließlich ist das Land von „Mamma Pasta“ alles andere als „Bella Italia“ für die Flüchtlinge, ein „Bellum Italia“ trifft den Sachverhalt wohl besser.


Weil, und das wäre die dritte Perspektive, die italienische Regierung mit der Unterbringung der Geflüchteten überfordert ist, diese nicht gerade willkommen heißt, organisieren sie sich in Ghettos. Dort wo Perspektivlosigkeit herrscht, Alkohol, Drogen und Prostitution den Alltag bestimmen, hält die nigerianische Mafia die Zügel in den Händen. Das zeigt: Der italienische Staat kann seiner Verantwortung gegenüber Flüchtlingen nicht gerecht werden.


Rackete musste das verstehen, Bescheid wissen über die negative Einstellung der italienischen Bevölkerung und Regierung gegenüber den Flüchtlingen, Bescheid wissen über die menschenunwürdigen Unterbringungen, Bescheid wissen über den immer roher werdenden Ton im öffentlichen und privaten Diskurs.


Und überhaupt. Wer ist hier verantwortlich? Sind es die Italiener? Und wofür überhaupt verantwortlich? Denn flüchten nicht gleichzeitig Rackete und die Flüchtlinge in die eigene Verantwortungslosigkeit, um sich hinter der Maske des Humanitären zu „verstecken“? Diese Fragen werfen ein moralisches Dilemma auf, nämlich jenes zwischen Humanismus und Verantwortung.


Nochmals: Dass sich Rackete ins „Mare Nostrum“ begab, um Ertrinkende zu retten, ist indiskutabel ein humanitärer Akt. Doch war es von ihr verantwortungsvoll die Segel der „Sea-Watch-3“ zu hissen, um die Flüchtlinge in die Obhut der nigerianischen Mafia zu übergeben, sie einem Sumpf aus Drogensucht und Prostitution zu überlassen, dem unfähigen, italienischen Staat Verantwortung aufzuerlegen?


Manchmal ist es gut nur der Menschlichkeit zu folgen, manchmal nicht. Fest steht jedenfalls, dass es leichter ist einem Humanismus zu folgen als nur verantwortungsvoll zu handeln. Die einen machen es, weil sie keine Verantwortung übernehmen möchten, die anderen weil sie nicht imstande sind die Konsequenzen ihres Handelns zu überblicken. So oder so, verantwortungsvoll handeln können jedenfalls wenige.


In Racketes Fall war, wie ihre Rettungsaktion zeigt, zu viel humanitärer Idealismus involviert. Ob aus wohlüberlegten oder nicht überdachten Gründen, hierüber kann nur spekuliert werden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die Kapitänin nicht mehr Verantwortung hätte übernehmen müssen? Wer ein bemanntes Schiff sicher steuern kann, muss in der Lage sein, die Situation in die er sich begibt, zu durchschauen und zu erkennen. Das bedeutet zugleich, in der Lage zu sein sich der abzeichnenden Verantwortung zu stellen.


So hätte sie etwa organisieren können, dass die Flüchtlinge nach vorheriger Absprache in ein anderes Zielland unterkommen könnten, dem für das Schiff am nächstliegenden, wie etwa Tunesien. Die drei Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien gelten nach Einstufung des Deutschen Bundestages als „asylrechtlich sichere Herkunftsstaaten“. Doch weil der Bundesrat seine Entscheidung vertagt, konnte die Bundesregierung dieses noch nicht umsetzen.


Und obschon die tunesische Regierung ein Anlanden von Rettungsschiffen genauso untersagt wie diejenigen in Italien und Malta, Rackete dort ebenso straffällig geworden wäre wie in Italien, hätte sie zumindest den für Europa schwerwiegenderen Konflikt mit Italien vermeiden können. Dass diese Aktion Europa noch mehr auseinander driften lassen dürfte, hätte ihr einleuchten können.

Ebenso hätte die Kapitänin Sorge tragen können, dass die Flüchtlinge menschenwürdig untergebracht würden. Sea-Watch als Hilfsorganisation stünde durchaus die Mittel einer adäquaten Unterbringung im Rahmen ihrer „Seenotrettungsprojekten“ zur Verfügung. Und wäre es im Rahmen dessen nicht denkbar wirtschaftlich prosperierende arabische Staaten um Unterstützung zu bitten, mit dort ansässigen Hilfsorganisationen zu kooperieren?


Doch offensichtlich ist diese „muslimische Solidarität“, auch der ärmeren Länder, alles andere als ausgeprägt. Obschon Tunesien Rücknahme-Abkommen mit mehreren europäischen Staaten abgeschlossen hat, rief es ein Anlandeverbot für Flüchtlingsschiffe aus. Müßig zu erwähnen, dass wirtschaftsstarke Staaten wie Saudi-Arabien keinen Finger krümmen, um ihren Glaubensbrüdern bei ihrer Flucht mit Asyl im eigenen Lande zu unterstützen.


Und diese egalitäre respektive indifferente Einstellung spiegelt sich auch bei der Bevölkerung der meisten Mittelmeerstaaten wider. Letztlich ist sie das Resultat einer jahrzehntelang fehlgeleiteten Europapolitik, die sich gegenwärtig äußert in zunehmender Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut. Nicht verwunderlich, dass die Bewohner in diesen Regionen negativer gegenüber einer Aufnahme von Flüchtlingen eingestellt sind als ein deutscher Akademiker.


So wie die deutsche Kapitänin, die sich bei ihrer Operation „nur“ auf den humanitären Akt der Menschenrettung konzentrierte und dabei den Aspekt der Verantwortung vernachlässigte, der in dieser humanitären Form keine ausführliche moralische Auslegung zulässt. Inwiefern ihr das zum Vorwurf gemacht werden muss, daran dürften sich die Geister scheiden.


Doch um womöglich diese Frage für oder gegen den Humanismus, für oder gegen die Verantwortung zu beantworten, sollte man vielleicht die in den Slums lebenden Flüchtlinge fragen: „Versetzt euch in die Situation eurer Flucht zurück. Würdet ihr nochmals vor dem Ertrinken nach Italien gerettet werden wollen oder nicht?“ So zynisch es sich anhören mag, so aufschlussreich wären die Antworten.


Einerseits um Racketes Verhalten moralisch beurteilen zu können, andererseits um ansatzweise Kants „allgemeines Gesetz“ zu bestimmen. Schade nur, dass diese Erkenntnis für die in Italien Gestrandeten zu spät käme.




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Über die Autorin:


DEBORAH RYSZKA (Jahrgang 1989); M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.



 

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