Lieber Herr Böckelmann,
vielen herzlichen Dank für das tolle, wenn auch seltsam berührende Gespräch mit Mariam Kühsel-Hussaini, dem ich vor allem entnehme, wie sehr Sie sich von der Unbefangenheit ihres Zugangs zur NS-Periode und dem orientalischen Rausch ihrer Sprachkünste haben mitreißen lassen. Ich plädiere für etwas mehr Nüchternheit.
Ich datiere Ihr Gespräch auf den Herbst 1997, ziemlich genau zwischen der Kontroverse um „Hitlers willige Vollstrecker“ (Goldhagen), dessen These von der deutschen Kollektivschuld im übrigen von der überwiegenden Mehrheit aller Historiker zurückgewiesen wurde, und Martin Walsers Paulskirchenrede, die man auch als Antwort auf die dort verbreiteten Pauschalisierungen verstehen kann.
Damals habe ich als einziger Walser volle Rückendeckung gegeben und imgrunde alles Nötige zum rituellen anti-antisemitischen Mea Culpa und der flankierenden Deutschbeschimpfung seiner Kritiker gesagt, und zwar in dem mit Abstand längsten und grundsätzlichsten Artikel der Debatte, der bezeichnenderweise als einziges Dokument in dem von Frank Schirrmacher im Jahr darauf herausgegebenen 700seitigen (!) Band nicht enthalten ist. Dass ich diesen überhaupt nur als jemand hätte schreiben können, der nicht in diesem Land aufgewachsen ist, gab man mir zu verstehen, aber vor allem, dass ich ihn nur – mangels Prominenz – dank meines Exotenbonus überhaupt hatte publizieren dürfen.
Das ist nur eines der vielen Schlaglichter auf die wechselvolle Geschichte der durchgehend heftig und kontrovers geführten Debatten um den deutschen Schuldkomplex: vom Historikerstreit bis zum Holocaust-Denkmal, von Finkelsteins „Holocaust-Industrie“ über die Wehrmachtausstellung bis hin zu Antonia Grunenbergs „Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart“. Und nicht zu vergessen Herrmann Lübbes sarkastische Wendung vom „Sündenbekennerstolz“ der öffentlichen Gedenkrituale im Gegensatz zum privaten Beschweigen der finsteren Jahre, dem er im Nachkriegsdeutschland eine eminent integrative Bedeutung für die Verwandlung vom „vom Parteigenossen zum Bundesbürger“ (im gleichnamigen Buch) attestierte. Ein Ausdruck, der übrigens stets falsch zitiert wird, denn zum „Sündenstolz“ hatte ihn erst Henryk Broder popularisiert in seiner Polemik gegen den deutschen Erinnerungswahn (Vergesst Ausschwitz!).
Was andererseits die Re-Education angeht, so halte ich sie für maßlos überschätzt und die starke Formel von der „totalen deutschen Unmündigkeit“ allenfalls für die Nürnberger Prozesse gerechtfertigt. Funktioniert hat die „Umerziehung“ ohnehin nur für die Populär- und Alltagskultur, und wer wollte den ausgebrannten Deutschen der Nachkriegszeit die Lockerungen von Jazz und Rock’n’Roll und den Konsumismus des american way of life verdenken, das nennt man Verführung, nicht Indoktrination, zumal harte Arbeit und materielle Gratifikationen einen bequemen Weg ins Vergessen wiesen. Von einem politisch heteronom diktierten Weg ohne jede Selbstbestimmung zu sprechen und dies einzig an den erwarteten Kniefällen vor den Opfern des NS festzumachen – das ist nicht nur eine völlige Verkennung der geopolitischen Entwicklung (die es erforderlich machte, ein Bollwerk gegen den stalinistischen Expansionsdrang aufzubauen und Deutschland in ein Bündnis dagegen zu integrieren), es gibt auch jenen Islamologen Recht, die nachgewiesen haben, dass man in diesem Kulturkreis den Schuldbegriff nicht kennt oder zumindest etwas ganz anderes darunter versteht.
Doch entscheidend jenseits der strategischen Kalküle war: die Hochkultur hat das alles nicht weiter tangiert. Was die bildende Kunst betrifft, kommt der CIA das historische Verdienst zu, beim Start der documenta den Europäern den abstrakten Expressionismus, also eine Tabula rasa als Neuanfang plausibel gemacht zu haben, was man im Rückblick auf Nazikunst und dem pastosen „Gemüse“ (Adorno) der Vorkriegszeit wahrlich nicht bedauern kann. Ansonsten läutete die Gruppe 47 eines der produktivsten und originellsten Kapitel deutscher Literatur ein, parallel dazu wurden die großen Solitäre der jüngeren Vergangenheit – Benjamin, Kafka, Musil, Broch, Jahnn etc. ins Rampenlicht geholt, und der Film, der mit urdeutschen Heimatschnulzen wieder aufgebrochen war, ging ab Oberhausen (1962) seine eigenen, allenfalls von der Nouvelle Vague und außer bei Wenders nirgends von Amerika beeinflussten Wege. Edgar Reitz wiederum reagierte mit seinem „Heimat“-Projekt auf die Holocaust-Serie von Marvin Chomsky (1978) und den „Versuch der Amerikaner, uns damit unsere Geschichte wegzunehmen“.
Was die Musik angeht, so machten die Deutschen in Donaueschingen und den Kölner Elektroniklabors mit der Zerstörung akustischer Resonanzverhältnisse durch die zweite Wiener Schule dort weiter, wo Webern aufgehört hatte, ohne auch nur eine Note dessen zur Kenntnis zu nehmen, was sich mit John Cage erst und später in der Minimal Music in New York und Kalifornien ankündigte. Zu dieser größten ästhetischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts habe ich in meinem Essay über „Klangvergessenheit“ das Entscheidende gesagt. Doch hier gilt es festzuhalten: mehr selbstbestimmter deutscher Sonderweg geht nicht.
Weiter, auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen, lieber Herr Böckelmann, denn sie kennen diese Geschichte eigentlich besser als ich: Keiner der nach dem Krieg Zurückgekehrten, am wenigsten die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung, mochte sich mit auch nur einem Satz des amerikanischen Pragmatismus anfreunden, gnadenlos fielen die Urteile von Anders, Bloch, Adorno, Arendt e tutti quanti aus. Die analytische Sprachphilosophie der Angelsachsen konnte sich überhaupt nur durch ihre Affinität zur naturwissenschaftlichen Logik und einem grandiosen Wittgenstein-Missverständnis neben Hermeneutik und Existenzphilosophie etablieren. Und während auf dem Umweg über Frankreich und Italien seit den 70ern Nietzsche und Heidegger zurückkamen – die Schwarzbücher des Letzteren haben seinen philosophischen Rang kaum geschmälert –, ergänzte die (Wieder-)Entdeckung der Frühromantiker, Hamanns, Herders, Hölderlins und Schleiermachers die nie verlorene Weimarer Klassik samt Deutschen Idealismus um eine gleichrangige Bezugsgröße.
Schließlich, um nicht auszuufern: allein schon der Aufruhr, den Künstler regelmäßig in der Feuilletonrepublik verursachten, wann immer sie – wie Syberberg, Kiefer oder Strauß – sich rebellisch, ambivalent, aber immer hochreflektiert einer anderen deutschen Tradition stellten oder zu einer anderen Sicht derselben inspirierten, straft die arroganten Bausch-und-Bogen-Urteile von Frau Bindestrich lügen. Ich empfehle ihr dringend ca. 2000 Seiten Lektüre des bedeutendsten deutschen Dichters der letzten Jahrzehnte (Botho Strauß, wer sonst) zur Korrektur ihres Zerrbilds nachzuholen. Überhaupt sollte sie sich auf die Romanprosa beschränken, die sie wirklich phantastisch und unvergleichlich kann, für zeitdiagnostische Analysen fehlen ihr die Distanz, das Wissen und die intellektuelle Abgebrühtheit.
Während vor diesem Hintergrund die maßlose Aufregung um die denkbar harmlose Mitgliedschaft Walter Jens’ in der NSDAP und Günter Grass’ in der Waffen-SS sich wie letzte Zuckungen des historischen Schuldkomplex ausnehmen, erfreut sich das Gespenst der „deutschen Kollektivschuld“ einer neuen Virulenz aktuell in dem „Restitutionsaktivismus“ (Marc Jongen) der „wertegeleiteten“ Außenpolitik und ihrer Ablasshändel, dem bereits die Benin-Bronzen zum Opfer gefallen sind. Diese verdankt sich allerdings einer mentalitätsgeschichtlichen Konstellation, die nur sehr mittelbar auf die erinnerungspolitischen Schatten der sog. „Vergangenheitsbewältigung“ verweist. Vielmehr dürfte dafür in erster Linie die Usurpation der Kulturwissenschaften durch Genderstudies, Post Colonial Studies und Critical Race Theory in den 90ern verantwortlich sein, die seitdem bereits mehrere Generationen Studenten dazu aufgestachelt haben, ungeachtet des Forschungsstands seriöser Historiker (wie Münkler, Baberowski oder Flaig, deren Veranstaltungen dementsprechend wiederholt von Aktivisten sabotiert wurden) die Deutschen als besonders niederträchtigen Exemplarfall des „alten weißen Mannes“ anzuprangern, der an allen Übeln der Welt, vom Palästinakonflikt bis zu den Überschwemmungen in Pakistan (die im übrigen durch rodungsbedingte Erosion verursacht wurden) Schuld sein soll. Inwieweit sich die akademische Gehirnwäsche auch innerfamiliär als generationenübergreifende Retraumatisierung (nach israelischem Muster) fortgesetzt hat, lässt sich schwer sagen, die gesamte Sozialpsychologie ist mittlerweile in der Hand von Gesinnungstätern, die an solchen Untersuchungen nicht interessiert sind. Aber fest steht: je mehr die halbgebildeten Woken in den asozialen Medien versuchen, das schlechte Gewissen der Nation zu beleben, desto trotziger wenden sich die Gemeinten ab und den Rechten zu, die dadurch für ihre Verschwörungstheorie vom „Austausch des deutschen Volkes“ willkommene Munition und noch willkommenere Anhänger bekommen.
Womit wir bei der Gegenwart und meinem anfänglichen Verweis auf die Unzeitgemäßheit Ihres Gedankenaustauschs mit Frau MKH wären. Ich denke, die Deutschen haben heute weißgott andere Sorgen aufgrund der sich überlagernden und die Menschen überfordernden Krisen, die mit der deutschen Geschichte nichts zu tun haben. Künstlich aufgeschäumt wird das Phantasma eines homogenen deutschen Volkes nach dankbarer Kontrastvorlage der linksgrünen Jakobiner immer wieder von skrupellosen rechten Demagogen, die ausgerechnet jenen Imperialpsychotiker im Kreml hofieren, der hauptverantwortlich für die Migrationsströme ist, gegen die sie mobil machen – das wird gern vergessen, dass Putin nicht nur den Ukrainekrieg angezettelt und uns eine Million Kriegsflüchtlinge geschickt hat, sondern Millionen Syrer durch seine Bombardements („wir konnten über 300 neue Waffensysteme testen“) vertrieben hat und demnächst Millionen Nordafrikaner durch seine Getreidepolitik und den Terror der Wagnertruppe in der Sahelzone.
Ich sage künstlich aufgeschäumt, weil kein Mensch – jedenfalls keiner unter 70 – mit den aktuellen Polykrisen einen spezifischen Schuldzusammenhang deutscher Geschichte assoziieren würde, wenn die längst vernarbten Wunden nicht immer wieder genüßlich von den Rattenfängern der AfD und ihren vermeintlichen Gegenspielern, in Wahrheit Komplizen, des linksgrünen Hypermoralismus aufgerissen würden. Das Problem mit der Migration ist nämlich ein anderes und weniger ein Abgrund als eine Falle: die universalistischen Ideale des Humanismus stammen aus der Zeit der Aufklärung, als – Mitte des 18. Jahrhunderts – gerade mal 750 Millionen Menschen die Erde bevölkerten; kodifiziert wurden sie in der Erklärung der Menschenrechte zwei Jahrhunderte später, ebenso wie ihre politischen Derivate, die Genfer Flüchtlingskonvention samt der nationalstaatlichen Regelungen des Asylrechts: da lebten 1,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten. Deutschland, ganz Europa wird zugrunde gehen, wenn nicht endlich jemand den Mut aufbringt zu sagen, dass diese Rechtsinstitute unmöglich heute für acht Milliarden Planetenbewohner gelten können. Dies umso mehr, als sie vom sogenannten Globalen Süden und Osten, insbesondere der gesamten islamischen Welt nicht nur nicht anerkannt, sondern als hegemonialer Übergriff des „Westens“ denunziert werden. Warum soll man bei Gefahr der Destabilisierung der eigenen Gesellschaft, Flüchtlingen helfen, die aus Kulturkreisen stammen, wo die normativen Grundlagen solcher Hilfe strikt abgelehnt werden – und darin von den Antirassisten hierzulande auch noch ideologisch sekundiert werden?
Die andere epochale Falle, die ich sehe – und wieder zappeln die Menschen, Völker, Nationen darin eher, als dass sie in einen Abgrund „versinken“ – ist die zunehmend entgleisende Konsumismus-Dynamik einer „nach mir die Sintflut“-Haltung. Nach den pandemiebedingten Verzichtsübungen – denen viele vorübergehend durchaus Sinnhaftes abgewinnen konnten – wird heute hemmungsloser denn je gefrönt: noch nie wurden so viele neue Autos bestellt, Flüge und Kreuzfahrten gebucht, überflüssige Klamotten und (mittelfristig auch finanziell) ruinöse Ölheizungen gekauft. Man regt sich über hunderttausende Migranten auf, findet aber nichts dabei, dass allein dieses Jahr allein in Deutschland fünf Millionen (!) stählerne Kolosse auf Rädern neu eingebürgert werden, jeder von ihnen zehn Quadratmeter groß, zwei Tonnen schwer und mit Batterien ausgestattet, für deren Betrieb in Südamerika Landstriche von der Größe Bayerns für immer verwüstet werden, während bei uns weiterhin jedes Jahr Flächen von (insgesamt) der Größe Münchens zubetoniert werden.
Gegen die Schuld an der Zerstörung der Atmosphäre und sämtlicher Ökosysteme, an Erderwärmung, Artensterben, Ressourcenvergeudung, Globalvermüllung, Waldrodung, Flächenversiegelung, Bodenverdichtung, Massentierhaltung usw. usf. nimmt sich das Sündenregister selbst aller historischen Gewaltakteure zusammen genommen wie eine Sequenz böser Alpträume aus, die wir aus psychohygienischen Gründen schleunigst abschütteln sollten, andernfalls wir der exponentiell steigenden Komplexität der Probleme, von deren Lösung das Überleben künftiger Generationen abhängt, nicht gewachsen sein werden. Das ist alles andere als „fortschrittseitler Zeitgeist“, denn die Allermeisten verweigern sich immer noch basalen Erkenntnissen, wie sie selbst Konservative wie Carl Améry und Herbert Gruhl bereits Mitte der 70er Jahre formuliert haben. Und um den Bogen zurück zu schlagen: gerade weil der europäische Kontinent der am dichtesten besiedelte ist, weil wir strenggenommen nicht mehr einen Quadratmeter Land mehr verbauen dürften und die Wohnungsnot ohnehin an Dramatik kaum noch zu steigern ist, darf niemand mehr nach Europa und schon gar nicht nach Deutschland kommen. Mehr noch: da in 20 Jahren ein gigantischer Exodus aus den Steppen Italiens, Spaniens und Griechenlands Richtung Norden einsetzen wird, müssen wir die wenigen noch freien Siedlungsflächen für diese, uns kulturell vertrauten Klimaflüchtlingen reservieren: Zentralfrankreich, Irland, Schweden und Mecklenburg-Vorpommern. Über Niedersachsen als Rückzugsgebiet für Millionen Niederländer vor dem steigenden Meeresspiegel wird bereits verhandelt.
Kurzum, lieber Herr Böckelmann, ich plädiere dafür, die deutsche Vergangenheit vergangen sein zu lassen, auf Resilienz, Eigenleben und die periodischen Renaissancezyklen genuin deutscher Traditionen zu vertrauen und statt die Geschichte zu „spüren“ – mir blieb das schon biographisch erspart – doch endlich mal über die Risse und Brüche in der Gegenwart zu stolpern.
Daniele Dell'Agli
Über den Autor: Daniele Dell'Agli wurde 1954 in Rom geboren, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Komparatistik an der FU Berlin und lebt als Autor von Essays und Gedichten in Kassel. Letzte Buchveröffentlichungen: Cherchez la femme. Marburg 2015. Aufruhr im Zwischenreich. Paderborn 2016. Als Hg.: Hans Jürgen von der Wense. Kraftlinien ud Korrespondenzen. Kassel 2018 (Taschenbuchausgabe 2021).
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