Anatole France bemerkte einmal, die Tugend niste wie der Rabe mit Vorliebe in Ruinen. Fraglich ist, ob alle Tugend in Ruinen nistet. Doch die »Tugend«, mit der wir derzeit beglückt werden, ist fraglos ruinös.
Die Bilder und Berichte verstören immer wieder: Auch Pfingsten 2024 zogen wieder tausende propalästinensische Demonstranten durch Berlin, um ihren Hass auf Israel herauszuschreien. Die Welt meldete: »Am Mittwochabend hatten … bereits etwa 600 Menschen in Charlottenburg demonstriert. Im Anschluss kam es in Neukölln zu Tumulten. Nach Angaben der Polizei versammelten sich dort etwa 200 Demonstranten. Einige von ihnen setzten Mülleimer in Brand, auch Feuerwerk und bengalisches Feuer wurden gezündet. Immer wieder hätten Menschen an verschiedenen Stellen Gegenstände wie Fahrräder und Mülltonnen auf die Straßen geworfen.» Da der Slogan »From the River to the Sea« wegen seines offenen Aufrufs, das jüdische Volk zu vertreiben und auszurotten, inzwischen juristisch Ärger machen kann, verkürzen ihn die Demonstranten nun auf »Palestine will be free«. Das hindert nicht, die Symbole der Hamas – wie auch beim Zug vom Kreuzberger Oranienplatz zum Roten Rathaus – weiter offen zu zeigen. Hamas bedeutet so viel wie »Eifer« und »Kampfgeist«. Es ist ein Akronym für »islamische Widerstandsbewegung«. Ideologisch lehnt sich die Hamas als Ableger der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft an die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten an. Sie predigt den bewaffneten Dschihad, um die »islamische Erde« von westlichen Einflüssen »reinigen« und einen islamischen Führerstaat zu errichten. Nach den Worten Hassan al Banna, des Gründers der Bruderschaft, wird Hamas Israel »annullieren« und alle in Palästina ansässigen Juden und Christen auslöschen.
Nizzan Cohen, CC BY 4.0 via Wikimedia
In Ägypten veranstalteten al Bannas Gefolgsleute schon vor neunzig Jahren Pogrome gegen Juden und Christen, ermordeten verständigungsbereite Muslime und unterstützten den Kampf des Jerusalemer Muftis Mohammed Amin al-Husseini. Der zettelte 1936 den arabischen Aufstand in Palästina an. 1941 floh er zu Adolf Hitler ins Exil nach Berlin, wo er zum islamischen Chefpropagandisten des Nazis aufstieg und als General der Waffen-SS muslimische Freiwillige auf dem Balkan rekrutierte. Nach dem Krieg verschafften die Muslim-Brüder dem von den Alliierten als Kriegsverbrecher gesuchten Husseini Asyl in Ägypten. Der nahm dort den jungen Jassir Arafat unter seine Fittiche und ließ ihn durch einen ehemaligen NS-Offizier ausbilden, um ihn 1948 zusammen mit anderen Muslim-Brüdern in den Krieg gegen Israel zu schicken. Obwohl oder weil die Bruderschaft bald darauf in Ägypten verboten und Hassan al Banna ermordet wurde, inspirierte sie Dutzende ähnlicher Bewegungen. Islamisten von Pakistan bis Marokko idealisieren sie als Keimzelle der Erweckung. Auch Recep Tayyip Erdoğan zählt zu ihren Fans. In Gaza geht sie auf Scheich Ahmad Yasin zurück. Der nutzte die israelische Besetzung nach dem Sechstagekrieg, um Koranschulen und Wehrsportunterricht ins Leben zu rufen. So baute er schrittweise die von Gamal Abdel Nasser unterdrückte Bruderschaft wieder auf.
Weltanschaulich ist die Hamas faschistisch gestrickt und so antimodern wie antiwestlich. Dass postmoderne Linke sie für »fortschrittlich« halten, geht auf Intellektuelle wie Edward Said und Judith Butler zurück. Said ist der Schöpfer der sogenannten postkolonialen Schule, Butler dürfte die prominenteste jüdische Ikone der antiisraelischen »Boykott, Divestment and Sanctions-Kampagne« sein. Die angeblich feministische Philosophin nannte Hamas und Hisbollah »progressive, soziale Bewegungen« und erklärte zum »Teil der globalen Linken«. Trotzdem oder deshalb verlieh ihr die Stadt Frankfurt den mit 50000 Euro dotierten Theodor W. Adorno Preis, quasi als tätige Hommage an Adornos »Dialektik der Aufklärung«. Butler sieht im Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 einen »Aufstand«. Für sie war es kein Terrorangriff, sondern ein »ein Akt des bewaffneten Widerstands«.
Butler ist die Stichwortgeberin derer, die Universitäten besetzen und für die Hamas demonstrieren. Die pro-palästinensischen Kundgebungen sind blendend organisiert, hervorragend finanziert und genießen die breite Unterstützung islamischer und akademischer Kreise. Geraldine Rauch, Chefin der Technischen Universität in Berlin, und Julia von Blumenthal, Präsidentin der Humboldt-Universität, zeigen ihre Sympathien für die Israelfeinde ganz offen. Die Polizei, die während der Corona-Pandemie brutal gegen friedliche Impfgegner vorging, hält sich bei gewalttätigen Kundgebungen für die Hamas auffällig zurück. Migranten wie der Clanchef Abou Chaker, der jüngst auf dem Alexanderplatz gegen Israel demonstrierte, sind nicht so handzahm wie eingeborene Maßnahmengegner. Sie müssen sich nicht dafür rechtfertigen, Benjamin Netanjahu für übler zu halten als Hitler. Rechtfertigen müssen sich stattdessen die Angegriffenen.
Unlängst erhielt ich die Replik der russisch-israelischen Schriftstellerin Dina Rubina auf die Anfrage der Londoner Kultureinrichtung Puschkin-Haus, die sie zu einer Konferenz über ihre Bücher einlud, aber zuvor darum bat, »ihre Position zu Israel zu klären«. Rubina antwortete wie folgt:
»Am Samstag, den 7. Oktober, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora, hat das skrupellose, gut ausgebildete, gut vorbereitete und gut ausgerüstete Terrorregime der Hamas, die in der Enklave Gaza herrscht (die Israel vor rund zwanzig Jahren verlassen hat), Dutzende von friedlichen Kibbuzim angegriffen und mein Land mit Zehntausenden von Raketen bombardiert.
Die Hamas hat Gräueltaten begangen, die selbst die Bibel nicht beschreiben kann, Gräueltaten, die mit den Verbrechen von Sodom und Gomorrha konkurrieren. Gräueltaten, die übrigens von GoPro-Kameras gefilmt wurden. Die Mörder haben das Grauen so weit getrieben, dass sie die Bilder in Echtzeit an ihre Familien oder in sozialen Netzwerken verschickt haben.
Stundenlang vergewaltigten Tausende von glücklichen, blutbesoffenen Bestien Frauen, Kinder und Männer, schossen ihren Opfern in den Schritt und in den Kopf, schnitten den Frauen die Brüste ab und spielten mit ihnen Fußball, schnitten schwangeren Frauen die Babys aus dem Bauch und enthaupteten sie sofort, fesselten und verbrannten die kleinen Kinder. Es gab so viele verkohlte Leichen, dass die Gerichtsmediziner viele Wochen lang mit der enormen Arbeitsbelastung bei der Identifizierung der einzelnen Personen überfordert waren.
Eine Freundin von mir, die 20 Jahre lang in der Notaufnahme eines New Yorker Krankenhauses und dann 15 Jahre lang in Israel gearbeitet hat, war eine der ersten, die in den Kibbuzim ankam, als Teil eines Teams von Rettern und Ärzten. Seitdem kann sie immer noch nicht schlafen. Obwohl sie als Notfallspezialistin an sezierte Leichen gewöhnt ist, fiel sie beim Anblick des makabren Anblicks in Ohnmacht und erbrach sich auf dem Rückweg ins Auto.
Neben den Hamas-Kämpfern stürmten auch palästinensisch-arabische Zivilisten [aus dem Gazastreifen] und beteiligten sich an Pogromen ungeahnten Ausmaßes, plünderten, töteten und schleppten alles, was sie in die Finger bekamen.
Unter diesen ‚palästinensisch-arabischen Zivilisten‘ befanden sich 450 Mitglieder der hoch angesehenen Organisation UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten). Dem Jubel der Bevölkerung nach zu urteilen (der auch von Tausenden von Handykameras eingefangen wurde), wird die Hamas von fast der gesamten Bevölkerung von Gaza unterstützt.
Aber das Wesentliche ist für uns das: Mehr als zweihundert Israelis, darunter Frauen, Kinder, ältere Menschen und ausländische Arbeiter, wurden in die Höhle der Bestie geschleppt. Hundert von ihnen verrotten und sterben noch immer in den Kerkern der Hamas. Es versteht sich von selbst, dass diese Opfer, die nach wie vor verhöhnt werden, für die „akademische Gemeinschaft“ von geringer Bedeutung sind.
Aber das ist nicht das, worüber ich gerade spreche. Ich schreibe dies nicht, damit irgendjemand mit der Tragödie meines Volkes mitfühlt.
Während all dieser Jahre hat die internationale Gemeinschaft buchstäblich Hunderte von Millionen Dollar in dieses Stück Land (den Gazastreifen) gesteckt – und allein das Jahresbudget des UNRWA entspricht einer MILLIARDE Dollar! In all diesen Jahren nutzte die Hamas dieses Geld, um ein Imperium mit einem komplexen System unterirdischer Tunnel aufzubauen, Waffen zu horten, Schulkindern von der Grundschule an beizubringen, wie man ein Kalaschnikow-Sturmgewehr auseinander- und zusammenbaut, Schulbücher zu drucken, in denen der Hass auf Israel unbeschreiblich ist und in denen sogar Matheaufgaben so aussehen: ›Es gab zehn Juden, der Schahid tötete vier, wie viele sind noch übrig?...‹, und rufen mit jedem Wort zum Mord an Juden auf.
Und jetzt, wo Israel, endlich schockiert von dem ungeheuerlichen Verbrechen dieser Bastarde, einen Vernichtungskrieg gegen die Hamas-Terroristen führt, die diesen Krieg so sorgfältig vorbereitet haben, die Tausende von Granaten in allen Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten... – Hier ist die akademische Welt in der Defensive und macht sich Sorgen über den ‚Völkermord am palästinensischen Volk‘ (…)
Die akademische Gemeinschaft, die sich weder um die Massaker in Syrien, noch um das Massaker in Somalia, noch um die Misshandlung der Uiguren, noch um die Millionen von Kurden, die seit Jahrzehnten vom türkischen Regime verfolgt werden, gekümmert hat, diese sehr besorgte Gemeinschaft, die ‚Arafatkas‘ – das Markenzeichen von Mördern – um den Hals trägt und unter dem Slogan ‚Befreit Palästina vom Fluss bis zum Meer‘ demonstriert, was die totale Zerstörung Israels (und der Israelis) bedeutet. ‚Akademiker‘ haben, wie Umfragen zeigen, keine Ahnung, wo dieser Fluss ist, wie er heißt und wo bestimmte Grenzen verlaufen. Und es ist dieselbe Öffentlichkeit, die mich auffordert, ‚eine klare Position zu diesem Thema zu beziehen‘.
Meinst du das wirklich ernst?«
***
Der Hass, der sich da von Berkeley bis Berlin entfaltet, erinnert an den Wahn der frühen 1930er, nur in weltweitem Ausmaß. Bekanntlich kann man auch durch Unterlassen sündigen. Unsere Funktionseliten an den Universitäten, in den Medien, im Kulturbetrieb und der Politik legen darin dieser Tage echte Meisterschaft an den Tag.
Der deutsche Kanzler warnt vor einer israelischen Offensive im südlichen Gaza-Streifen. Er sagt, das könne nicht gut ausgehen. Parallel fordert er mehr Hilfe für die palästinensische Bevölkerung. »500 Lkw pro Tag sind das Mindeste. Wer einen Krieg führt, ist auch für die Humanität verantwortlich und für die Zivilbevölkerung, die Opfer des Krieges ist.«
Olaf Scholz richtet seinen Appell nicht an die Hamas, die durch ihren Blutrausch das Elend ausgelöst hat. Er meint auch nicht die Drahtzieher des Krieges in Teheran, die Hamas benutzt haben, um die »Abraham-Accords« zu torpedieren. Der Deutsche mahnt Israel, das Land, das seit Jahrzehnten durch feindliche Nachbarn bedrängt wird und wieder einmal um sein Überleben kämpfen muss. Das soll die Leute, die das Abschlachten wehrloser Juden bejubeln, nun gefälligst füttern. Was Israel übrigens längst tut. Laut Welt hat Israel mittlerweile mindestens 28.000 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Gaza geschickt. Systematisches Aushungern, das Scholz da den Israelis andichtet, sieht anders aus.
Dabei weiß auch er, Hamas könnte die Not der Menschen in Gaza sofort stoppen, indem es aufhört, Raketen auf Zivilisten in Israel abzufeuern und die seit Monaten verschleppten jüdischen Geiseln freigibt. Oder zumindest ihre Leichen. Wie die der 2001 in Ravensburg geborenen Deutsch-Israelin Shani Louk, auf deren sterbliche Überreste israelische Soldaten kürzlich in einem Tunnel unter Gaza stießen. Louk war als Tattoo-Künstlerin auf dem Musik-Festival, wo die Hamas Hunderte von Besuchern niedermetzelte, aber blieb verschollen, bis Bilder von ihr aus Gaza auftauchten. Da lag sie als leblose Trophäe auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks, der im Triumphzug durch die Stadt rollte, begleitet von einem jauchzenden Mob, der auf den geschundenen, halbnackten Körper der jungen Frau spuckte.
Für diese Leute zeigt Scholz nun größte Sorge und macht Israel für ihr Leid verantwortlich.
Krieg ist schrecklich. Aber anders als ihre Feinde, die vorzugsweise wehrlose Menschen töten, suchen die Israelis Unbeteiligte so gut es geht zu schonen. Nur werden sie kaum aufhören sich zu wehren, solange Hamas und Hisbollah sie weiterhin beschießen. Hamas nutzt das als Propagandawaffe. Ihre Kämpfer verschanzen sich hinter Frauen und Greisen. Sie benutzen Kinder als Kugelfang. Je mehr Menschen in Gaza leiden, umso besser ist es für sie. Denn dieser Krieg ist ein Krieg der Bilder, und die meisten Medien zeigen nur gequälte Palästinenser. Das verfestigt den Eindruck, als seien die Israelis blutrünstige Schlächter. So werden Ursache und Wirkung vertauscht und es findet eine groteske Täter-Opfer-Umkehr statt. Wie direkt aus der PR-Agentur der Muslim-Bruderschaft und den Studios von Al-Jazeera. Und der Kanzler, dessen Aufgabe es wäre, diese Lüge zu entlarven, macht sich stattdessen zu ihrem Werkzeug.
Kaum einer will, dass Zivilisten leiden. Aber für ihr Leiden gibt es Gründe, wenn es von kriminellen Regimes inszeniert wird. Gerade die Deutschen, die ständig »Nie wieder!« rufen, sollten sich daran erinnern. Die allermeisten, die bei den Luftangriffen im Sommer 1943 auf Hamburg umkamen, waren Zivilisten. Damals starben in einer einzigen Nacht 30.000 Menschen. Nach zehn Tagen war ein Drittel der Stadt in Trümmer gelegt. Was mein Vater, der das miterlebte, mir später davon schilderte, lässt Dantes Inferno wie eine verträumte Spielwiese aussehen. Aber er wies mich auch darauf hin, dass die Vernichtung, die Hamburg da einholte, die Ernte des Terrors war, den das Deutsche Reich zuvor gesät und über andere gebracht hatte. In Guernica, Warschau, Rotterdam, Coventry oder Belgrad. Dieser Fluch musste um jeden Preis gebrochen werden. Das war so fürchterlich wie grauenhaft, aber notwendig. Sonst hätte Hitler triumphiert.
Heute operiert die Hamas mit Bildern des Schreckens und linke Journalisten helfen ihr die Propagandaschlacht zu gewinnen. Hätte man englischen Müttern damals Fotos der erstickten, verstümmelten und erschlagenen deutschen Kinder gezeigt, würde es ihnen auch das Herz zerrissen haben. Aber vielleicht hätten sie an ihre eigenen Kinder gedacht, und daran, was denen blühte, wenn dieser Feind nicht besiegt wurde. Während Hamburg im Feuersturm unterging, rollten die Züge nach Auschwitz weiter.
In den Monaten nach dem Pogrom der Hamas erleben wir auch in Deutschland einen Tsunami an Judenhass wie seit den Zeiten des Dritten Reichs nicht mehr, gekoppelt an eine Welle selbstvergessener Dummheit.
So monströs wie das Massaker waren die Reaktionen darauf. Die Internationale der Gratismutigen, Tugendhaften und Aufrechten schien wie gelähmt. Wo es einen kollektiven Aufschrei hätte geben müssen, dröhnte Schweigen. All die, die sonst bei der kleinsten Zurücksetzung kreischen, blieben stumm. Die Feministinnen, die Intellektuellen, die Künstler und die Antirassisten verfielen in katatonische Starre. Das Schänden und Morden von Juden war für sie keinen Anlass, um »Gesicht zu zeigen«. Keine achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem heiligen Schwur von Buchenwald geschah das Ungeheuerliche erneut, aber das »Nie wieder!« war vergessen. Das kroch erst wieder aus der medialen Mottenkiste, als eine kleine Gruppe Betrunkener auf Sylt Gigi D’agostino umdichtete. Mehr Haltung kann man kaum zeigen. In ihrer brillanten Rede vor dem österreichischen Parlament, die ich hier paraphrasiere, zitierte Monika Schwarz Friesel einen jungen Israeli, der postete: »Sie attackierten Lesben und Schwule, und ich stand dagegen auf. Sie attackierten die schwarze Gemeinschaft, und ich stand dagegen auf. Sie attackierten die Migranten, und ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich. Aber ich stand allein. Denn ich bin jüdisch.«
***
Judenhass ist mindestens so alt wie das Christentum und der Islam. Fraglich ist, ob diejenigen, die heute »Yallah, yallah Intifada!« oder »From the River to the Sea« schreien, je von Sayyid Qutb oder Luthers Hetzschrift gehört haben. Die meisten wissen offenbar noch nicht einmal, von welchem Fluss und Meer da die Rede ist. Dafür wissen sie, dass Israel böse ist. Klimagöttin Greta Thunberg, die ein Berliner Bischoff zur Reinkarnation des Heilands kürte und der Klaus Schwab in Davos seine globale Bühne bot, um dem Weltwirtschaftsforum zuzurufen »I want you to panic!«, skandierte unlängst mit Tausenden anderen in Malmö Hassparolen gegen eine junge Frau, die beim »Eurovision Song Contest« für Israel sang.
Wie viele der jungen Hamas-Fans stammt Thunberg aus einem betuchten, bürgerlichen Haushalt. Sie ist ein typisches Produkt der saturierten, zivilisationsmüden Wohlstandselite, die im Westen den Ton angibt und sich für fortschrittlich, aufgeklärt und vorbildlich hält. Diese Schicht weiß wenig von der eigenen Geschichte und kreist vor allem um sich selbst. Vermutlich verfällt sie eben deshalb so besinnungslos in archaische Denkmuster, predigt falsche Moral und findet es sexy, Juden wieder die Daseinsberechtigung abzusprechen. Der neue Antisemitismus kommt aus der akademisierten Mitte, wo sich Ressentiments gegen Israel mit Flugscham, E-Mobilität und veganer Ernährung paaren.
Postmoderner Judenhass nennt sich »woke«. Tatsächlich ist er so erweckt wie die Kreise, die Deutschlands »Erwachen« im Mai 1933 mit der Bücherverbrennung feierten. Damals wie heute bilden die Zöglinge fanatischer Professoren die Speerspitze. Nun haben sie sich Postkolonialismus und Antizionismus verschrieben, erklären Israel zum Apartheidstaat und behaupten, dass es die »Palästinenser durch Genozid« vernichten will. Sie verniedlichen das Pogrom und deuten es zum »Befreiungskampf« um. Sie berufen sich dabei auf Agitatorinnen wie Judith Butler, die den Horror vom 7. Oktober »legitimen Widerstand« nennt.
Unsere reiselustige Außenministerin fährt dieser Tage ständig nach Israel, um ihre Gastgeber zu kritisieren und sich »zutiefst besorgt« über die israelischen Verteidigungskräfte zu zeigen. Sie ermahnt sie, Irans Raketenattacke nicht zum Anlass zu nehmen, den Krieg zu »eskalieren«. Zugleich enthält sich Deutschland in der UNO auf ihr Betreiben hin der Stimme, wenn es gegen Israel geht und das Land Unterstützung bräuchte. Es sichert der nachweislich korrupten, in das Hamas-Gemetzel verstrickten UNWRA weitere Millionen zu. Derweil versteigt sich der sozialdemokratische Ex-Außenminister Sigmar Gabriel dazu, den israelischen Angriff auf Rafah einen »Überfall« zu nennen und von einem »Kriegsverbrechen« zu sprechen.
Mit solchen Freunden braucht Israel keine Feinde mehr.
Nur so als Fußnote: Der 1979 ermordete PLO-Politiker Zuhair Muhsin sagte im März 1977 gegenüber der niederländischen Zeitung Trouw, es gäbe gar kein palästinensisches Volk. Das Schaffen des Palästinenserstaats sei nur ein Mittel, um „unseren Kampf gegen den Staat Israel zugunsten unserer arabischen Einheit fortzusetzen. In Wirklichkeit gibt es heute keinen Unterschied zwischen Jordaniern, Palästinensern, Syrern und Libanesen. Nur aus politischen und taktischen Gründen sprechen wir heute über die Existenz eines palästinensischen Volkes, weil arabische nationale Interessen verlangen, dass wir die Existenz eines bestehenden ‚palästinensischen Volkes‘ setzen, um dem Zionismus entgegenzustehen.“
Ob und inwieweit all diejenigen im Westen, die sich jetzt so eifrig um die Menschen in Gaza sorgen, die »Charta der Hamas« kennen oder ob ihnen klar ist, dass die Muslim-Brüder ein islamischer Homunkulus der Nazis sind, weiß ich nicht. Aber sie könnten es wissen.
Wer es entschuldigt, Wehrlose zu quälen, Babys vor den Augen ihrer Mütter zu köpfen oder Frauen dutzendfach zu schänden, bevor man sie in den Kopf schießt, verlässt die Zone von Anstand, Mitgefühl und Menschlichkeit. Er erklärt seinen ethischen Bankrott und umarmt die Barbarei.
Ich deute derlei als das irre Wunschdenken todessehnsüchtiger, heillos verträumter Kulturrelativisten. Die stoßen wieder einmal Juden so geschichtslos wie blind ins Verderben und besiegeln damit ihr eigenes Schicksal.
Ich nehme den Schlachtruf durchaus ernst, den ein Freund kurz nach dem Massaker bei einer Pro- Hamas-Demonstration in London hörte. Der lautete: »The West is next!«
Ich bin gern Europäer und weiß, wie viel ich jüdischen und christlichen Traditionen verdanke. Das will ich bewahrt sehen. Die lohnt es zu verteidigen. Übrigens hatte ich auch lange Zeit nichts gegen den Islam, weil ich in Nahost und Afrika vielen wunderbaren, liebenswerten Menschen begegnet bin. Doch wenn sich Tausende aggressiver junger Männer auf den Straßen meiner Vaterstadt, in Essen oder Berlin versammeln, Hamas hochleben lassen und das Einführen eines Kalifats fordern, denke ich nicht bloß an mich und den kostbaren Schatz der liberalen, westlichen Kultur, sondern genauso an die vielen klugen Muslime, die aus ihrer Heimat vor bigotten Eiferern geflohen sind, weil sie sich nach einem Gemeinwesen sehnten, wo Religion Privatsache war und wo sie keine »Tugendwächter« quälten, wo sie frei atmen und sprechen konnten, ohne sich den Zorn der Mullahs, Muftis und Imame zuzuziehen, wo Frauen ihre Haare offen im Wind wehen ließen und humorlose Frömmler und religiös Verklemmte ihnen den Buckel herunterrutschen konnten.
Das steht auf dem Spiel. Dafür kämpft Israel.
*
Über den Autor: Christoph Ernst, geb. 1958, studierte in Hamburg und New York Geschichte, arbeitete als Kulturmanager, Journalist und Dozent. Nach längerem Berlinabstecher lebt er heute wieder in Norddeutschland. Er schreibt Sachbuchtexte, Kurzgeschichten, Kriminalromane, Theaterstücke und Hörspiele. Aktuell arbeitet er an einem Essay über postmoderne Identitätspolitik.
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