Zur Kolumne:
Architektur: von der Königin der Kunst zum binärkodierten Bild innerhalb von Rechenmaschinen. An einer ehemaligenZunft lässt sich der Siegeszug der Kybernetik trefflich nachzeichnen und zugehörig die bedingungslose Kapitulation vor dem Sachzwang des Ge-Stells. Diese Kolumne wird Spaziergänge auf den Schlachtfeldern der Moderne dokumentieren. Sie wird kriegsgeschichtliche Beispiele referieren, Operationspläne, taktische Skizzen, Munitionsreste und Waffensysteme sichten, Trümmer betrachten oder auch versprengte Stoßtrupps zu Wort kommen lassen.
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Georg Vrachliotis rekonstruierte bereits vor einem guten Jahrzehnt die operativen Maßnahmen zur Verkümmerungskarriere deutscher Nachkriegsarchitektur. Sein 2020 neu aufgelegtes Buch (s.u.) gibt gute Gelegenheit, eine Route für den heutigen Spaziergang durch das Ge-Stell festzulegen.
Die Kybernetik (Steuermannskunst) hatte sich aus Übersee ab Mitte der 1940er Jahre langsam herangeschlichen und nur für wenige war das ganze Ausmaß klar. Außerdem durchzog nach dem verlorenen Krieg die eigene Erschöpfung alles – auch das Geistige. Man wollte oder konnte offenbar nur noch das tun, was Sieger und deren Verwalter vorlebten.
Das Credo des „Fortschrittes“ lautete etwa wie folgt: auch architektonisch darf nichts Unerwartetes mehr in die Wirkung kommen. Dazu braucht es den klaren Kopf, Gewissheit, Steuerung und Kontrolle. Der Zufall im Sinne des Offenhaltens dessen, was zufällt, findet nicht mehr statt. Nur noch rechenbare Wahrscheinlichkeit. Die neue Architektur soll klar, präzise und nachvollziehbar sein.
Nicht etwa, dass dieser intellektuelle Kasernenhof in Deutschlands Moderne unbekannt gewesen wäre. Den Versuch, ein bauliches Rationalitätsutopia im Geiste der Industrie zu stiften, gab es auch schon zwanzig Jahre vorher im Dessauer „Bauhaus". Dem transzendentalen Exorzismus der „Hochschule für Gestaltung Ulm“ (1953-1968) kam die Kybernetik gerade recht, um eine „demokratische Elite“ zu erschaffen.
Selbstredend war der Mythos wieder der Hauptfeind. Dieser überzeitliche Geist, der in steter Bewegung ist und gelegentlich an passender Substanz kondensiert, steht für alles, was in der Moderne nicht sein darf. Dieses biestige Etwas, das unbeherrschbare Schwingungen zum Klingen bringt, musste weg, denn die Wiederverzauberung der Welt hatte ein für alle Mal zu unterbleiben.
Die Haltung also die folgt: Utopia gern, aber doch bitte aus der gerechneten Retorte. Nicht mehr plumpe Sonder-, sondern differenzierte ‚rigorose Behandlung‘ war nötig und hatte alles Metrische zu umgreifen. Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Der deutsche Weg (auch) in die Architektur-Kybernetik nannte sich folgerichtig „existentieller Rationalismus“. (Ebd., 14)
Das schöpferische Wesen des Entwerfens wurde zum Verdachtsfall erklärt und war unverzüglich in die wissenschaftliche Problemlösung zu überführen. Der „Verlust des Bildlich-Gegenständlichen“ (Ebd., 25) ist dabei nicht etwa eine unerwünschte Nebenwirkung der Kybernetik, sondern deren Voraussetzung. Erlösung bot nämlich nur die Abstraktion aller Lebensverhältnisse.
Norbert Wiener (1894-1964) hatte in „Cybernetics“ bereits 1948 die strategische Line vorgegeben und erläuterte die Überführung der Dingwelt in eine Informations- und Kommunikationssphäre. (Grothaus, 73) Der operativen Umsetzung entsprach folgerichtig die Verdrängung der Mechanik durch „[…] das mathematische Modelldenken aus Feedbackschleifen“. (Vrachliotis, 31)
Die symbolische „Maschine des Verhaltens“ (Ebd.) war geboren. Auf die Architektur übertragen bedeutete das, sich des „Instrumentariums der Entmythologisierung“ (Ebd., 83) in Form von Rechenmaschinen und Automatisierungsprozessen zu bedienen. Auch im Bauen konnte damit der Schritt zur „Industrialisierung des Wissens“ (Ebd.) gelingen.
Wie diese zwischenzeitlich wuchs und gedieh, mag über die architektonische Ebene hinaus die zeitgenössische weitestgehend kritiklose Übernahme einer medialen Weltwahrnehmung durch Grafiken oder Modellrechnungen vergegenwärtigen. Angesichts bunter Animationen verstummt die Denkfähigkeit.
Der durch den Architekten Konrad Wachsmann (1901-1980) erträumte „synchronisierte Maschinenorganismus“ (Ebd., 79) operiert heutzutage allgegenwärtig – und mit „Softpower“ im Sinne der kommunikativen Verbreitung industriellen Wissens. Norbert Wieners Strategie findet selbstredend Niederschlag in der Sphäre des Internet. Dieses erscheint gar als optimale Verkörperung. Es steht doch wohl außer Frage, dass „Google“ das Wissen der „Menschheit“ parat hält oder haben Sie etwa nichts gelernt?
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Grothaus, Christian J.; Vom Rohstoff der Kybernetik; TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung; 03/2019; S. 73-76.
Vrachliotis, Georg: Geregelte Verhältnisse. Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik; 2. Auflage; Basel: Birkhäuser, 2020.
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Über den Autor:
Dr. phil. Christian J. Grothaus ist Autor und Kulturwissenschaftler. Bislang publizierte er für: Arch+, AIT, AZ/Architekturzeitung, bauwelt, Deutsche Bauzeitschrift, der architekt, Berliner Gazette, CHEManager, digital business, Faust-Kultur, green building, Mensch&Büro, Tabularasa, Technik am Bau, Laborpraxis, Pharma&Food, Pharmind, transcript-Verlag, Virtual Reality Magazin, Welt-Online, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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