Es gibt Bücher, die sind herausragend gut, lassen sich mit Spannung lesen, sind in einem lebendigen Stil geschrieben – preisverdächtig, weil sie aus der Einheitsbrühe der postbürgerlichen Betroffenheitsprosa herausragen. Und doch landen solche Romane nie auf den Vorschlagslisten für die vielen Buchpreise im Literaturbetrieb der deutschen Republik. Sie passen nicht in die gleichförmige Welt der immergleichen Jurys mit der immergleichen etablierten Gefälligkeitsliteratur und ihrer angepassten Torhüter. Tucholsky, der neue Roman der Berliner Schriftstellerin Mariam Kühsel-Hussaini, ist ein solches Buch. Die Autorin schafft mit diesem, in dieser Woche erschienen Roman ein kleines Wunder: Sie schreibt über Kurt Tucholsky, als wäre er heute einer von uns.
Die großen Zeiten der Weltbühne werden von ihr zu neuem Leben erweckt und zwischen den Zeilen zur mahnenden Stimme unserer Zeit, in der – wie vor hundert Jahren – »eine Welt wankt«. Der Roman spielt in den vermeintlich guten Jahren der Weimarer Republik, in denen der Verleger des Blattes, Siegfried Jacobsohn, seinen journalistischen Star Tucholsky so ziemlich alles schreiben ließ, was er wollte. »In der Weltbühne schrieb man ohne Blatt vor dem Mund«, schreibt die Autorin. Die Szenen, in denen interne Streitigkeiten der Redaktion, die Rückendeckung des Verlegers für seinen Redakteur, auch dessen Ausflüge zum kreativen Nachdenken in Kneipen, die amourösen Flirts mit attraktiven Frauen erzählt werden, gehören zu den stärksten Szenen des Romans. Es scheint bisweilen, als hätte Kühsel-Hussaini damals mit Tucholsky an einem Tisch gesessen und sähe die Welt durch seine Augen, als verschmölzen Schriftstellerin und Held zu einer Person.
Der Roman dreht sich zeitlich in großen Teilen um die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau im Juni 2024 – also vor genau hundert Jahren – und beleuchtet in lebendig erzählten Szenen den Sturm der Zeit, in dem die Weltbühne mit Tucholsky verbissen für ein anderes, ein patriotisch-neues Deutschland kämpfte. Da wird Kühsel-Hussainis Roman politisch. Nein, sie deutet Tucholsky nicht um. Sie schält sauber heraus, dass Tucholsky – übrigens auch Rathenau und der kurzzeitige Reichskanzler und langjährige Außenminister Gustav Stresemann – Patrioten waren, nicht die Deutschenhasser, zu denen sie manche der rechten Szene bis heute erklären. Tucholsky war ein Linker, dem Zeitgeist entsprechend ein Antikapitalist, der sich gegen den mit der Kriegswirtschaft 1914 bereits zu Grabe getragenen Laissez-faire-Kapitalismus wandte. Doch er war ein linker Patriot. Es gab – und gibt? – im politischen Journalismus eben nichts Produktiveres als Außenseiter zu sein. Ein Außenseiter war Tucholsky, und immer blieb ihm die Hoffnung, dass der Außenseiter zum Innenkern eines anderen Deutschlands werde.
Was Tucholsky, was auch seinen Nachfolger Carl von Ossietzky bei der Weltbühne auszeichnete, war nicht nur ihr im Kern konservativer Ansatz, das Deutsche, die freiheitlichen Seiten der deutschen Geschichte, durch Erneuerung bewahren zu wollen. Was oft vergessen wird: Sie konnten auch lachen. Humor, Selbstironie – die Grundvoraussetzung für jede Distanz zum eigenen Dogmatismus – war Teil ihrer Persönlichkeit, anders als bei den meisten ihrer Gegner von rechts, links und aus dem damals in Preußen weitgehend sozialdemokratischen politischen Establishment. Satire damals unterschritt – allen voran die nationalsozialistischen, antijüdischen Hasspostillen Julius Streichers – oft jedes Niveau. Und heute? Wenn Satiriker nicht mal mehr über sich selbst lachen können und bei jedem Angriff vor Gericht klagen, entlarvt sich Satire erschreckend deutlich als welke Show des Böhmermann.
Kühsel-Hussaini fängt mit Tucholsky die vergessene Seite dieses großen Journalisten der Weimarer Republik ein, auch ihrer herausragenden Staatsmänner wie Rathenau oder Stresemann, die als Maßstab für Politik in deutschen Redaktionsstuben zu Unrecht kaum jemanden mehr interessieren. Schon der Vergleich zeigt den Zerfall: Wie passten ihre Nachfolger unserer Zeit in dieses stolze Amt – als bisheriger Tiefpunkt die angeblich wertebasierte Trampolinspringerin Annalena Baerbock mit ihrer »feministischen« Außenpolitik? Die Zerfallssymptome der Weimarer Republik zeigten sich lange vor ihrem Todeskampf 1932/1933; Kühsel-Hussaini schildert das in ihren Szenen aus dem Leben Tucholskys in den Jahren 1923 bis 1928 auf lebendige Weise – und immer wieder schimmern die bedrückenden Parallelen zu heute durch, genau hundert Jahre später.
Nein, die Autorin macht aus dem in seinem Charakter konservativen Revolutionär keinen Parteigänger der Konservativen Revolution. Die hat damals viel zu viel von dem verkörpert, was der Weltbühne-Redakteur verachtete. Aber sie zeichnet ein beeindruckendes, vitales Bild eines Mannes und einer Zeit, in der man national, kulturell konservativ und doch links und oppositionell sein konnte. Wo gibt es das heute noch? Der Autorin gelingt es, ihre farbenfrohen, bisweilen nahezu zärtlichen Szenen aus der Weimarer Zeit mit beklemmender Aktualität zu verbinden. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, wie es bei Vorabendkrimis in ARD und ZDF bis hin zu preisgekrönten Romanen Standard geworden ist.
Wie ist es, wenn die Macht nicht mehr bei den Menschen ist, wenn unter dem Deckmantel der demokratischen Gesinnung neuer Untertanengeist erzwungen werden soll? Rathenau, Tucholsky, von Ossietzky, auch Künstler wie Max Beckmann; was würden sie heute sagen in ihrer alten Begeisterung für ihr Land, mit dem ein Großteil der modernen Berliner Elite nach eigenem Bekunden nichts mehr anzufangen weiß? Die behaglichen Idyllen einer vorgeblich guten, alten Zeit, die von altbackenen Reaktionären und manchen neuen Rechten unserer Zeit gern gelesen werden, sind ihre Sache ebenfalls nicht gewesen. Das macht diese Freigeister so anstrengend und anregend – egal, wo man selbst politisch steht. Lassen wir als Alternative zum Obrigkeitsstaat erneut denen freie Bahn, die wie einst Joseph Goebbels im Angriff die verletzten Gefühle der Menschen leichter verstanden haben und ihren Weg in eine »neue Zeit« verfolgten? Zitieren wir Tucholsky: »Die Grundfesten wanken.« Das war 1923 bis 1932 so. Es droht, sich in unserer Zeit als Farce zu wiederholen.
Mariam Kühsel-Hussaini wirft mit Tucholsky einen scharfen Blick auch auf unsere Zeit. Wo wären Stimmen wie die Weltbühne, wo sind die machtkritischen Journalisten, die nicht nur aufschreiben, was die Obrigkeit vorgibt? Wo ist der Witz, der Esprit der Machtkritik? Die Autorin, die mit ihrem Debütroman Gott im Reiskorn 2010 zu einer der herausragenden Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur wurde, ist vom feuilletonistischen Mainstream mit ihren letzten Büchern, vor allem dem Roman 57 mit dem ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels als zentralem Charakter, nach anfänglichem Jubel über ihr schriftstellerisches Talent und ihre leidenschaftlich-lebendige Sprache schnell in die Schublade »rechts unten« einsortiert worden. Als Tochter eines afghanischen Dichters, Enkelin eines Kalligrafen des afghanischen Königs und jetzt als deutsche Romantikerin auf der Suche nach Anerkennung für die freiheitlichen, zum Guten strebenden, konservativen Seiten der deutschen Geschichte suchend, passt sie in kein Klischee.
Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in ihrem neuen Roman. Sie führt die deutschen Leser auf höchstem erzählerischem Niveau in eine vergangene Welt, die sich als unsere eigene Welt entpuppt. Ihr herausragendes Sprachtalent, ihre Leidenschaft ohne jeden Kitsch interessierten noch, als sie 2010 mit ihrem Debut Gott im Reiskorn die Feuilletons begeisterte. Martin Walser schrieb damals, die deutsche Sprache dürfe sich bereichert fühlen durch diese Autorin. Mit Tucholsky bestätigt die überzeugte Berlinerin das nachdrücklich, und die Feuilletons der großen Blätter und Sendeanstalten sollten es sich nicht so leicht machen und mürrisch, verdrossen, abgelebt und hypochondrisch am Eingang ihrer politisch korrekten Löcher sitzen, um ungeschickt die Provokation und zugleich zarte Schönheit der Romane dieser Schriftstellerin erbost beiseitezulegen.
Tucholsky ist ein politischer Roman geworden, einer der unsere Wirklichkeit durch den Spiegel von vor hundert Jahren schärfer durchleuchtet als alle preisgekrönten Romane deutscher Sprache der letzten Jahre. Dieser Roman ist ein großer Wurf geworden und verdient es, zur verstörenden Pflichtlektüre all‘ derer zu werden, die so hingebungsvoll darüber sprechen, wie die Demokratie stirbt, wenn die Verbindung zum Demos verloren geht. Genau das ist Kühsel-Hussainis Thema; das war vor hundert Jahren Tucholskys Thema.
So wollen wir diesen Roman an dieser Stelle nicht einfach nur loben, sondern zum Lesen anregen und die Besprechung mit den Worten schließen, die Gotthold Ephraim Lessing einst in Die Sinngedichte an den Leser vorgab: »Wir wollen weniger erhoben, und fleißiger gelesen sein.«
Lesen!
Mariam Kühsel-Hussaini: Tucholsky. Der Roman. Europa Verlag: München 2024. 240 Seiten, 25 Euro
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