Das Gefühl, in einer Untergangskultur zu leben, breitet sich aus. Das zeigt sich nicht nur daran, dass mittlerweile fast alle Entwicklungen unserer Zeit mit dem Präfix des »Post-« beschrieben werden. Wir leben in der Postmoderne, sprechen von postdemokratischen Zeiten, sind weltoffen postnational, selbstredend postkolonialistisch und postbiologisch werden per Verwaltungsakt nun auch Männer zu Frauen und Frauen zu Männern und können das Geschlecht bei Bedarf jährlich wechseln. Wer die Narrative der herrschenden Klasse aus Managern postindustrieller Digital- und Finanzplattformen, posthistorischen fortschrittlichen Politikern und ihrer akademischen post-christlichen Priesterklasse mit Machtkritik herausfordert, der argumentiert in unserer »schönen neuen Welt« aus Sicht der Regierenden natürlich postfaktisch. Der frühere FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sprach bereits in einem Interview im Februar 2010 mit Blick auf die Entwicklung in Deutschland von »spätrömischer Dekadenz«. Gemünzt war das auf den ausufernden Sozialstaat und seine Abkoppelung von jeglichem Leistungsdenken.
Heute ließe sich das auf fast alle Bereiche der Politik erweitern, weil die Bundesrepublik jenseits des ausufernden Bürgergelds und einer wachsenden Leistungsfeindlichkeit schon lange nicht mehr jene Resilienz aufbringt, die angesichts der krisenhaften Lage – von Masseneinwanderung aus islamischen Ländern in den Sozialstaat über Rezession und eine durch die verfehlte Energiepolitik beschleunigte De-Industrialisierung bis hin zum Ukrainekrieg – dringend nötig wäre. Bildlich gesprochen: Während um uns herum die Welt umorientiert und sich neue Bündnisse und politische Lösungswege abzeichnen, feiert man in Berlin schuldenfinanzierte Ausgaben-Orgien und hofft darauf, dass einem weiter die Tauben in den Mund fliegen.
Sind da Vergleiche mit Dekadenz und Verfall im späten Römischen Reich statthaft? Sie sind es. Wer wissen will warum, der sei auf das neue Buch des früheren Gymnasialdirektors und Stammautoren des liberal-konservativen Magazins Tichys Einblick, Josef Kraus, verwiesen. Klagen über Dekadenz und Verfall hat es in der Geschichte schon immer gegeben, seitdem sie uns schriftlich überliefert ist. Kraus breitet sie vor seinen Lesern aus und durchmisst gut lesbar geschrieben 2500 Jahre Dekadenz-Diagnostik – von Homer, der den Gang der Geschichte mit Blättern verglichen hat, die von den Bäumen fallen, wenn ihre Zeit gekommen ist; über Oswald Spengler und seinen »Untergang des Abendlandes« bis hin zu den Dekadenzdiagnostikern unserer Zeit wie Samuel Phillips Huntington, Benedict XVI. und Karl Heinz Bohrer.
Nun wiederholt sich Geschichte bekanntlich – nach Karl Marx – nicht. Der Massenmensch in den westlichen Staaten der Gegenwart will im ewigen »Hier und Jetzt« leben. Möglichst ohne Geschichte, ohne Traditionen – deswegen überall das krampfhafte Präfix »Post-«. In Deutschland, dessen Eliten die ganze deutsche Geschichte anscheinend als »Sonderweg« zu Hitler sehen, ist die Geschichtsvergessenheit besonders stark. Mehr noch als durch die imperiale Politik Russlands sieht Kraus Europa und Deutschland deswegen »bedroht von innen: Vom Nachlassen seiner biologischen Vitalität, von seinem Selbstzweifeln, ja seinem Selbsthass und vom Irrglauben, ein EU-Bürokratiemonster könnte Identität vermitteln.« Wo die politische Führung selbst keine nationalen Interessen mehr definieren kann, wo die Verwendung des Begriffs des »deutschen Volkes« kriminalisiert wird und selbst ein Kanzlerkandidat mit Deutschland nach eigenem Bekunden nie viel anfangen konnte, lösen sich Staat und Solidarität auf. Demokratie und Sozialstaat sind eben – da eine einheitliche Weltdemokratie nicht in Sicht ist – an den Nationalstaat gebunden. Ob der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio, der (sich als links verstehende) emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, oder Rolf Peter Sieferle: Kraus nennt viele kluge Kronzeugen für seine These. Die Aufgabe des Nationalstaates führt zur Herrschaft von Clans und Tribalismus. Einen Vorgeschmack darauf bekommen wir in Frankreich, aber auch in Deutschland bereits heute.
Kraus, der sich in den letzten Jahren als streitbarer konservativer Publizist einen Namen gemacht hat, dekliniert den institutionellen und geistigen Verfall Deutschlands in seinem Buch Punkt für Punkt durch. Von der woken Priesterklasse in den Medien, den Kirchen als NGO, Kinderarmut und LGBTQ-Ideologie, von der Deindustrialisierung als Folge einer planbürokratischen grünen Transformation über die Infantilisierung des politischen Diskurses, pink-rosa Neomarxismus bis hin zu autoritären Sprach- und Denkregimen, einer irrationalen Islamophilie mit 1001 Demutsgesten und Selbstverleugnung reicht die Palette, die Kraus kundig und pointiert beschreibt. Besonders eindrucksvoll sind die Passagen über den rasanten Bildungsverfall und die zu Massen- und Wokeness-Erziehungsanstalten verkommenen Universitäten. Da bricht der Lehrerverbandspräsident durch, der schon seit Jahren gegen die verirrte Bildungspolitik in der Bundesrepublik ankämpft.
Kraus spricht vom »Retroexorzismus«, dem Verdrängen des Eigenen, das sich bis zur Verteufelung steigert. Wie aber, fragt sich der Leser, sollen Migranten ein Land achten und sich in seine Kultur integrieren, wenn sie täglich vorgeführt bekommen, dass die politische Führung dieses Landes selbst die Traditionen und Geschichte des eigenen Landes verachtet und sich in woke Menschheitsutopien flüchtet?
»Dekadenz ist der Normalfall«, sagt Kraus. »Es ist ein roter Faden der Menschheitsgeschichte, dass Gesellschaften verblühen und durch andere ersetzt werden.« Nur, wenn der Untergang so gewiss ist, was kann man dann noch tun? Ein richtiger Spenglerianer wird Kraus dann in seinem Buch aber doch nicht. Er geht unter anderem auch kurz auf den Politikwissenschaftler Eric Voegelin, der die Dekadenzphänomene, die Kraus beschreibt, als »gnostisches Denken« bezeichnet, das sich im westlichen Denken seit der Aufklärung durchgesetzt habe. Die Moderne ist demnach zu einer Geschichte der Entfesselung des Individuums und seiner Subjektivität geworden, in der Machbarkeitswahn und die Vergöttlichung des Selbst immer stärker werden. Politische Gnostiker richten sich in ihrer »zweiten Realität« ein. Realitätsverleugnung wird so zum politischen Programm. Ein Schelm, wer da an deutsche Grüne denkt.
Kraus geht nicht davon aus, dass die staatlichen und semi-staatlichen Akteure ihre dekadenten Trampelpfade verlassen werden. »Das Volk, der Souverän, muss sich andere Wanderführer wählen«, schreibt er. Es gehe darum, den Westen wieder zu einer »intellektuellen Festung« zu machen. Eine »Festung als Verteidigung des Eigenen« nennt er das. Der Weg dahin führt nach seiner Ansicht über eine neue Leitkultur der Bürgerlichkeit – die im Kern eine Rückkehr zu den traditionellen bürgerlichen Werten und Eliten bedeutet. Doch wie lassen sich solche Eliten gewinnen? Rekrutierung durch Protektion wäre der falsche Weg, warnt Kraus. Es brauche Vorbilder in Unternehmen, Schulen, Politik, Verwaltung und Kultur, denen es gelingt, Talente an sich zu binden. Dazu müssten auch Leistung und Selbstdenken im Bildungswesen wieder einen Stellenwert bekommen, konkretes Wissen und Können. Das kann derzeit aber wohl nur außerhalb der Schulen und Universitäten passieren, denn: »Das Bildungswesen könnte Eliten fördern, aber in der nivellierten Schule und in den Massenuniversitäten gelingt dies nicht.«
Vielleicht braucht es aber auch mehr dazu, als den Appell, zu den alten bürgerlichen Werten zurückzukehren. Ingolfur Blühdorn von der Wirtschaftsuniversität Wien hat dazu in der FAZ vom 30. Juli 2024 Bedenkenswertes geschrieben. Er sieht die bürgerliche Moderne eher als erschöpft, denn als dekadent. Erschöpft sind seit den 1970er Jahren die Projekte der Konservativen, aber eben auch die des damals die kulturelle Hegemonie erringenden »öko-emanzipatorischen Reparaturprojekts«, das sich immer härter an der Wirklichkeit bricht. Unter seiner Dominanz sind Wirtschaftsordnung und Demokratie oligarchisch und autoritär geworden. Die drei Jahre Ampelregierung liefern für diese These reichlich Belege. Beide, die Narrative der Transformationsaktivisten, aber auch die alten Erzählungen der Konservativen machen Versprechungen, die strukturell nicht zu erfüllen sind. Nicht die Welt geht unter, aber vor unser aller Augen entfaltet sich mit der »Zeitenwende« eine andere Welt. Die gilt es zu gestalten. Der Blickwinkel auf die Wirklichkeit muss sich ändern, neue und andere Fragen gestellt werden. Dann lassen sich (vielleicht) Wege finden, den »Untergang des Abendlandes« zumindest hinauszuzögern.
Josef Kraus: Im Rausch der Dekadenz. Der Westen am Scheideweg. München 2024: Langen-Müller, 24 Euro.
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung
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