»Heute dreht sich alles um alles, und wenn sich alles um alles dreht, dreht sich nichts mehr außer um sich selber.« Besser als mit diesem Satz aus Gottfried Benns Erzählung Der Ptolemäer ließe sich die Demokratieinszenierung kaum beschreiben, die der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz und sein christdemokratischer Herausforderer Friedrich Merz im Bundestag aufgeführt haben.
Orchestriert von den mit sich selbst täglich zu alleinigen Demokraten erklärenden Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP stecken sie schon mal die möglichen neuen Mehrheiten ab. In Hinterzimmern war bereits der Kompromiss-Termin für die vorgezogene Bundestagswahl ausgehandelt worden. Auch ein paar Gesetze werden gemeinsam noch verabschiedet – vor allem das zum »Schutz« des Bundesverfassungsgerichts. Wo kämen wir denn hin, wenn dort wegen einer zu starken AfD auch konservative Staatsrechtler einzögen. Das »Weiter so« wurde auf offener Bühne schaukämpferisch gefeiert, es droht für weitere vier Jahre rasender Stillstand. Pflichtgemäße Verbalattacken gab es, doch es überwogen die Friedenssignale. »Wir leben in einem Land«, sagte Noch-Bundeskanzler Scholz: »Wir sind besser dran, wenn wir zusammenhalten; wenn wir uns auch nach einer Auseinandersetzung noch in die Augen schauen können.« Das gelte für das ganze Land. Nur eben nicht, und das haben alle bekräftigt, für AfD und BSW und deren Wähler. Und Friedrich Merz deutete mit Blick auf SPD und Grüne schon mal an, dass auch er als Kanzler die Schuldenbremse aufweichen wolle. Wer bislang noch nicht glauben wollte, dass es ein machtversessenes realitätsleugnendes Syndikat der alten westdeutschen Parteien gibt, der erlebte es bei diesem politischen Spektakel im Parlament.
Was also sollten wir nach dieser Veranstaltung, die jeden Respekt vor dem auch mit einer Minderheitsregierung arbeitsfähigen Parlament vermissen ließ, antworten, wenn Benn uns in seiner Erzählung dazu aufruft: »Erkenne die Lage.« Die Lage ist nach dieser Bundestagssitzung offensichtlich. So oder so, es wird sich 2025 politisch grundlegend nichts ändern in Deutschland. Es gäbe nach dem Ende der Ampel jetzt schon eine Mehrheit im Bundestag, die Masseneinwanderung in die Sozialsysteme zu stoppen. Die »demokratische« Opposition im Syndikat des Parteienstaats winkt ab. Es gäbe eine Mehrheit gegen die verkorkste Energiewende. Auch dazu Schweigen im Syndikat. Es gäbe eine Mehrheit, das Heizungsgesetz zu kippen, das Millionen Menschen mit älteren Wohnungen finanziell überfordert. Selbst diese Chance verstrich ungenutzt. Die Interessen weiter Teile der arbeitenden Menschen bleiben weiter links liegen. Strittig ist im Syndikat allein, wie weit das »Weiter so« in der Abwehrschlacht gegen die Wirklichkeit über neue Schulden finanziert werden sollte oder nicht. Gestritten wird nur über den opportunsten Kurs des Durchwurstelns.
Das heißt:
Die sogenannte »grüne Transformation« wird auch mit einem Bundeskanzler Merz fortgesetzt. Der ehrgeizige Christdemokrat, von der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel vor den Augen des lächelnden Kanzlers passend als »Ersatz-Scholz« bezeichnet, lobte vorausschauend schon mal Grüne und SPD. Einen von beiden, möglicherweise sogar beide, wird er brauchen, um seine neue Mehrheit im Bundestag zu schmieden. Dass Union und FDP gemeinsam stärker sein werden als SPD, Grüne, BSW und AfD, dürfte zum Reich der Träume des geschassten Finanzministers Christian Lindner gehören wie die Vorstellung Robert Habecks, den Energiebedarf einer Industrienation mit nicht grundlastfähigem Flatterstrom decken zu können. Dabei bremsen Mangel an bezahlbaren Strom und überlastete Leitungen den Erfolg des Elektroautos stärker aus als jeder Widerstand der Verbrenner-Lobby. Und warum sollten die stromfressenden KI-Konzerne in dieser Lage ausgerechnet in Deutschland ihre neue Heimat finden? Teuer, unfähig, moral-fanatisch und beratungsresistent präsentiert sich die politische Elite des Landes. Merz wird den Bürokratisierungswahn des grünen Kanzlerkandidaten und amtierenden Ministers für De-Industrialisierung und Subventionswirtschaft, Robert Habeck, absehbar nur mit ein bisschen marktwirtschaftlicher weißer Salbe behandeln. Eine Abkehr von der »grünen« Politik der beiden Christdemokratinnen Angela Merkel und Ursula von der Leyen wird es mit ihm nicht geben, untergehakt bei Grünen oder Sozialdemokraten dürfte auch Merz schnell den Scholz-Sprech kopieren.
Eine – rechnerisch ab Februar vielleicht mögliche – politische Mehrheit rechts der Mitte wird es nicht geben. Der »Kampf gegen Rechts« und gegen das BSW der als Putin-Marionette denunzierten Sahra Wagenknecht wird fortgesetzt: Die AfD wird sich darauf einstellen müssen, dass politische und rechtliche Verfolgung und gesellschaftliche Ächtung »rechter« Positionen wohl noch drakonischer durchgesetzt werden als bislang schon. Ähnliches dürfte Sahra Wagenknecht bei einem respektablen Wahlergebnis drohen. In linken Wissenschaftsprojekten wird sie neben dem Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke bereits jetzt zu den »Gestalten der Faschisierung« gezählt. Merz hat im Bundestag den antifaschistischen Schutzwall – der Verwechslungsgefahr mit dem DDR-Vorbild wegen zur »Brandmauer« umbenannt – weiter aufgestockt. Dass dies nicht nur ein verbales Zugeständnis gegenüber seinen möglichen linken Koalitionspartnern war, demonstriert die wohl dreisteste Personalie des neuen Bundestags. Der Chef der Inlandsgeheimdienstes, Thomas Haldenwang, will als Abgeordneter für die CDU in den Bundestag und gibt das ausgerechnet jetzt bekannt. Der Staatsdiener entlarvt sich offen als williger Vollstrecker seiner Partei. Wenn das man nicht die augenfälligste »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung« des Staates ist. Ausgerechnet der Mann, der die Kriminalisierung legaler Meinungsäußerungen vorangetrieben hat, der an der Seite der Innenministerin Nancy Faeser die Zersetzung jeder grundlegenden Opposition betrieben hat und Kritik an der Klimapolitik der Regierung als »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« verfolgen lässt, demonstriert ungeniert, dass dieser Staat allein den Interessen des herrschenden Parteienkartells zu dienen habe. Jeder weiß nun, was die Republik mit so einem Mann in der CDU-Fraktion unter einem Kanzler Merz zu erwarten hat.
Das Parteienkartell macht deutlich, dass in »unserer« Demokratie jeder im Syndikat mit jedem kann, um den warmen Platz an der Tafel des Leviathans gegen gegnerische Putztruppen zu verteidigen. Wo sich aber alles nur noch um sich selber dreht, wird Politik zum sich totlaufenden inszenierten Spektakel. Wenn daraufhin in Umfragen immer mehr Leute beklagen, wie »unsere« Demokratie im – nach eigenem Verständnis – »besten Deutschland aller Zeiten« praktiziert wird, deuten Gefälligkeitswissenschaftler das schnell im Interesse des Parteiensyndikats um: Es seien eben immer mehr Deutsche vom »rechten« Virus infiziert.
Was bleibt? Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich auch nach der Wahl und mit einem möglichen Kanzler Friedrich Merz nichts grundlegend ändern wird – solange Brandmauern den Machterhalt des Syndikats sichern. Doch die inneren Fliehkräfte werden sich verstärken. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität wird bei anhaltender Masseneinwanderung in den Sozialstaat, gleichzeitiger Abwanderung von Fachkräften, Unternehmen und Kapital, bei De-Industrialisierung und steigender Zinslast wegen wachsender Verschuldung Veränderungen erzwingen, die sich die politischen Schauspieler in Berlin heute noch nicht einmal vorstellen können. Die Wirklichkeit lässt sich nicht schönlügen. Schon jetzt schürt die handlungsunfähige politische Elite die Zukunftsangst bei den arbeitenden Menschen und bringt sie dazu, jeden Euro, den sie abzwacken können, zu sparen, um auf das angekündigte Noch-Schlimmere vorbereitet zu sein. In seinem Ptolemäer gibt uns Gottfried Benn für Situationen wie die unsere folgende Empfehlung: »Nimm gelegentlich Brom, es dämpft den Hirnstamm und die Unregelmäßigkeit der Affekte.«
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung
Titel-/Beitragsfoto verändert. Im Original von Shiyarnej, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
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