Carsten Germis: KANZLER, KLÜNGEL UND KARRIEREN. DEUTSCHLAND VOR DER REGIERUNGSBILDUNG
- 14. März
- 8 Min. Lesezeit
Beim Ausmisten des Bücherregals fiel mir dieser Tage eine mehr als dreißig Jahre alte Studie der Kölner Soziologen Erwin und Ute Scheuch in die Hände. Unter dem Titel Cliquen, Klüngel und Karrieren untersuchten die beiden lange in der CDU aktiven Sozialwissenschaftler damals schon »den Verfall der politischen Parteien«. Manche der Deformationen zur neofeudalen Parteienoligarchie zeichneten sich bereits in der alten Bundesrepublik in der Ära Helmut Kohls für jeden sichtbar ab. Die Scheuchs beklagten, dass die Politik der Bundesrepublik zunehmend bürgerfern von abgehobenen, reinen Berufspolitikern bestimmt werde. Ein Blick auf die Zusammensetzung des neuen Bundestags 2025 zeigt, dass die realitätsverdrängende politische Klasse einer sich zu alleinigen Demokraten erklärenden Parteienoligarchie mittlerweile jede Politik in einen eisernen Käfig der Hörigkeit gesperrt hat. Das Zerrbild, vor dem Scheuch & Scheuch Anfang der 1990er warnten, erklärt sich heute selbstbewusst und jede Kritik zurückweisend zu »unserer Demokratie«. Die Akteure nennen ihre bisweilen dreiste Klientelpolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners »alternativlos« und loben die zur Fassadendemokratie erstarrten politischen Entscheidungsprozesse als Zeichen für den Erfolg des »besten Deutschlands aller Zeiten«.

Damals, zu Scheuchs Zeiten, eroberten sie langsam die Macht. Sie bauten die kulturelle Hegemonie der urbanen linksliberalen und linken Milieus auf und legten die Wurzel zu der Form von Parteienoligarchie, die in den schwarz-roten Koalitionen Angela Merkels ihre apolitische höchste Vollendung fand. Überall dominieren die Charaktermasken, die nicht den »Beruf zur Politik« haben, sondern allein »Politik als Beruf« betreiben. Max Weber meinte in seiner Rede über Politik als Beruf 1919, der Erfolg des parlamentarischen Regierungssystems werde davon abhängen, ob die Politiker zur Verantwortungsethik, zur Realpolitik fähig sein. Jeder abendliche Blick in die politischen Programme der öffentlich-rechtlichen Sender oder die Kommentarspalten der etablierten Presse zeigt: Im Deutschland des Jahres 2025 dominieren die Gesinnungsethiker. Sie ertragen die ethische Irrationalität der Welt nicht. Deswegen erklären sie sich selbst zu Weltmeistern der Moral und richten sich mit ihrer Politik in der »zweiten Realität« ihres Weltreichs der Träume ein. Die zweite deutsche Demokratie, angelegt als Konflikt- und Konsenssystem zugleich, hat so in der Bundesrepublik eine classe politique herausgebildet, die sich als Obrigkeit versteht und in diesem neofeudalen Selbstverständnis die Bodenhaftung verliert.
Das Kölner Soziologenpaar Scheuch hat diese Entwicklung bis in die 1970er Jahre zurückverfolgt. Alles, was damals begann und vor dem die beiden warnten, ist heute im politischen System Deutschlands zur scheinbar unverrückbaren Wirklichkeit geronnen:
Sachkompetenz bekommt für eine politische Karriere einen sinkenden Stellenwert, wichtig ist die Gesinnung. Parteibuch schlägt Lebenserfahrung
Immer mehr Jungpolitiker eifern dem Karrieremodell Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal nach. Anpassung wird zum Überlebensprinzip
Politische Seilschaften sind in den Parteien und Institutionen des Staates entscheidend für den Aufstieg
Ein parteiübergreifendes Kartell zur Postenverteilung bildet die Basis der Macht und nimmt im Parteienstaat »unserer« Demokratie von der Pfründe-Wirtschaft für verdiente Parteigenossen kein Ministerium und keine Bundesbehörde aus, nicht einmal die Verfassungsgerichte als »Hüter der Verfassung«
Es entwickelt sich auf allen gesellschaftlichen und staatlichen Ebenen ein immer weiter wucherndes Privilegien-System.
Partikularinteressen werden als »alternativlos« zum Allgemeinwohl umdefiniert. Niemand demonstriert das bei den laufenden Sondierungs- und Koalitionsgesprächen von Christ- und Sozialdemokraten wohl dreister als die beiden vom Wahlvolk abgestraften SPD-Chef-Anführer Saskia Esken und Lars Klingbeil (frei nach dem Motto, was gut für die SPD ist, ist gut für Deutschland).
Interessant ist, dass die Scheuchs schon für die bis heute von vielen Konservativen und Liberalen als »gute alte Zeit« gefeierte Ära Kohl mit ihren Cliquen, Seilschaften und Karrieren feststellten, dass die politisch-mediale Elite auf Widerspruch und Kritik ähnlich reagierte wie die Obrigkeit unserer Zeit:
»Auf Kritik an Politikern folgt die Bestrafung.«
»Kritik von außen wird nicht ernstgenommen.«
Die Parteienoligarchie mit all ihren dysfunktionalen und antidemokratischen Auswirkungen ist der politischen Praxis, die die Parteien der alten Bundesrepublik dem Grundgesetz als »unsere« Demokratie im neuen Deutschland übergestülpt haben, wesensimmanent. Der Philosoph Karl Jaspers hat bereits in seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik? Mitte der 1960er Jahre – als CDU/CSU und SPD sich erstmals zu einer (damals noch großen) Koalition zusammenfanden – vor der Gefahr gewarnt, die Demokratie könne zur autoritären Parteienoligarchie werden. Die Warnung ward Wirklichkeit: Die Parteien sind in der Verfassungswirklichkeit zu Organen des Staates geworden, mit dem sie als scheinliberaler Obrigkeitsstaat die Bürger beherrschen. Oder in Jaspers‘ Worten: »Die Parteien, die keineswegs der Staat sein sollten, machen sich, entzogen dem Volksleben, selbst zum Staat.«
Bislang stieß das bei den Bürgern kaum auf Kritik. Was zählte, war, dass das Versprechen von Wohlstand für alle aufrechterhalten wurde. Doch in Zeiten globaler Krisen und des wirtschaftlichen Niedergangs wird die dem Parteienkartell innewohnende Tendenz zur Wirklichkeitsverweigerung immer offensichtlicher. Wie erschreckend die Realitätsfinsternis der führenden Charaktermasken des Parteienstaats ist, zeigte die erste Lesung der Schuldengesetze, wo der abgewählte Bundestag noch einmal schnell mehr als eine Billion neuer Schulden beschließen soll – ohne dass es die erhofften Effekte für eine neue wirtschaftliche Dynamik geben dürfte. Nach Jahren der wirtschaftlichen Stagnation treibt die politischen Eliten die Angst, denn Verteilungskämpfe zeichnen sich immer deutlicher am Horizont ab. Die eingespielte Politik der Seilschaften im Parteienoligopol, die gesellschaftlichen Bindekitt allein über Geld und Privilegien herstellen will, verstärkt so die Widersprüche in einer Gesellschaft, die Gemeinschaft nicht mehr sein will. Weil die politischen Charaktermasken nicht einmal die richtigen Fragen stellen, können sie auf neue Antworten nicht kommen.
Wir erleben das derzeit bei den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD, die allein schon wegen der Vetomacht im Bundesrat informell um die Grünen erweitert werden müssen. In dieser Parteienoligarchie ist es letztlich egal, wer als Marionettenkanzler auf dem Papier »die Richtlinien der Politik bestimmt«. Olaf Scholz hat das nicht getan, Friedrich Merz wird es noch weniger tun. Am Ende bestimmen die Cliquen den Kurs, die vom Tisch des Leviathans möglichst viele Fleischbrocken für die eigene Klientel herausholen wollen. Marionettenkanzler Merz, der als Streber unbedingt Klassenerster werden will, spielt das Spiel schon mit, bevor er sich die ersehnte Krone überhaupt aufsetzen kann. Dass die Lüge zur Politik gehört, weiß jeder. Dass so dreist gelogen werden kann wie Merz, Esken und Klingbeil es tun, lässt den Schein der Götterdämmerung am Horizont aufziehen. Jeder weiß, dass die Schuldenorgien, von der SPD und Union träumen, nicht kommen, weil ganz plötzlich mehr Geld für die Bundeswehr nötig ist (darüber wird in Berlin seit Scholzens »Zeitenwende«-Rede gesprochen) oder dass plötzlich die Infrastruktur marode ist (das wissen die Bürger seit Jahrzehnten). Nein, die Verfassung soll ohne gründliche, fachliche Beratung im Galopp geändert werden, weil die Politiker im neuen Bundestag nicht mehr so leicht Mehrheiten für ihre Ausweitung von Konsumausgaben, für Geschenke an die eigene Klientel und Subventionen für international nicht wettbewerbsfähige Zombieunternehmen bekommen. Im Parlament fragte ein Abgeordneter bei diesem offensichtlichen Verfassungsbruch zu Recht: »Wo eigentlich ist der Verfassungsschutz, wenn man ihn braucht?«
Das Verfahren, unterschiedliche Klientelinteressen mit Geld zu bedienen und Widersprüche mit noch mehr Geld zu glätten (nur so lässt sich vermeiden, dass Politik Prioritäten setzen muss und Verteilungskonflikte austrägt) ging gut, solange es beim Exportweltmeister Deutschland viel zu verteilen gab. Diese Zeiten sind vorbei – auch wegen einer irrationalen Energie- und einer innovations- und investitionsfeindlichen Wirtschaftspolitik bei anhaltender Masseneinwanderung in den Sozialstaat. Trump und Putin bieten sich als Sündenböcke an, sind aber bei Lichte besehen bestimmt nicht verantwortlich dafür, dass das Land jahrzehntelang Investitionen für Konsum vernachlässigt hat oder dass die Bundeswehr im sich als »postheroisch« feiernden Deutschland über Jahrzehnte kaputtgespart und -reformiert wurde. Übrigens von Verteidigungsministern der CDU.
Mit semantisch zu »Sondervermögen« umgedeuteten neuen, zusätzlichen Schulden von mehr als 1.000.000.000.000 Euro (tausend Milliarden Euro, eine Eins mit zwölf Nullen), der größten Schuldenorgie der deutschen Geschichte, will die politische Klasse ihren gescheiterten Weg der letzten zwei Jahrzehnte auf Gedeih und Verderb fortsetzen. Koste es, was es wolle. Nur so lassen sich die Interessen der Roten, der Schwarzen, der Grünen für ihre Klientel umsetzen.
Das Problem: In der neomerkantilistischen Rentenökonomie, die sich entwickelt hat, landet ein Großteil des kreditfinanzierten Geldes genau in den Taschen derer, die sie verteilen. Es ist eine gigantische Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer, der Handwerker, der Eigenheimbesitzer, der kleinen Familienunternehmer und – vor allem – der jungen Generation. Zusätzliche Investitionen, die zu Innovation, zu neuen Produkten, zu eigener Stärke in der neuen digitalen Welt führen, muss man in den Plänen der Bundesregierung in spe mit der Lupe suchen. Wie sollte es auch anders sein in einem Land, in dem selbst die auf Kundgebungen der Partei- und Staatsführung hüpfenden »Omas gegen rechts« als Investition in die Zukunft gefeiert werden? Die Geschichte zeigt, dass diese Art von Schuldenpolitik immer nur zu zwei Ergebnissen führt: zu Inflation und Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung oder zu Krieg (wobei bei einer Niederlage die Inflation alle Grenzen sprengt).
Im neuen Bundestag gibt es zwei Oppositionsparteien, die von dieser immer offensichtlicher werdenden Dysfunktionalität des zur Prioritätensetzung unfähigen politischen Systems profitieren: die AfD und die – für viele überraschend dank des geballten Medienhypes im Wahlkampf wieder auferstandene – Linkspartei. Möchtegernkanzler Friedrich Merz wird die sozialpopulistische Linke unter dem Druck Eskens und Klingbeils umgarnen, um auch sie an den Beutetisch des Staates zu locken. Er braucht sie für seine ganz große Koalition der Schuldenpolitik, und sie wird sich den Eintritt ins Parteienkartell gut bezahlen lassen – schließlich winken »Staatsknete« für die eigenen Leute, Postenverteilung oder sogar neue, linksradikale Richter in Karlsruhe. Außerdem mauert sich die Union im Bündnis mit drei linken Parteien notgedrungen noch fester ein in den von den Linken errichteten »antifaschistischen Schutzwall« gegen alles, was rechts ist. Die »demokratische Mitte« reicht dann von der populistischen Salonrevolutionärin Heidi Reichinnek von den Linken über Antifa-Kämpferin Saskia Esken von der SPD, die woken grünen Besserverdienenden bis hin zum Marionettenkanzler Friedrich Merz.
Diese Korruption der Macht im Parteienstaat ist ein Grund dafür, warum das lebendige Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, wie es die Lehrbücher bis heute von der liberalen parlamentarischen Demokratie zeichnen, in »unserer« deutschen Demokratie nicht funktioniert. Das entwickelte System von Cliquen, Klüngeln und Karrieren führt dazu, dass die Opposition sich entweder anpasst und Teil des Oligopols wird – diesen Weg bereiten Merz und Co. für die Linkspartei vor. Die andere Möglichkeit hat Jaspers vorausschauend so beschrieben: »Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner.« Diese Rolle fällt wegen des »Brandmauer« genannten neuen »antifaschistischen Schutzwalls« der AfD zu, die die Wähler zur größten Oppositionspartei im Bundestag gemacht haben. Es zeichnet sich ab, dass sie auch als zweitstärkste politische Kraft nicht einmal das Amt einer Bundestagsvizepräsidentin zugebilligt bekommt. Mit Schmuddelkindern spielt man nicht.
Für die AfD bietet die Ausgrenzung Chance und Risiko zugleich. Das Machtoligopol aus widerstreitenden Interessen braucht wegen der wirtschaftlichen Stagnation, der wachsenden sozialen und politischen Spaltung zur Ablenkung vom eigenen Versagen neben dem äußeren Feind (nach Putins Russland nun auch Trumps USA) zum Machterhalt vor allem die Angst vor und den Kampf gegen den inneren Feind. Diese Rolle wird der AfD als Wiedergeburt des ewigen Nazis in den kommenden Jahren weiter zugedacht werden, allein schon, um die schuldenfinanzierten »Investitionen« in linke Vorfeldorganisationen für den »Kampf gegen rechts« zu rechtfertigen. Die AfD muss in der Lage eigentlich nichts tun, um trotz Verfolgung ohne jede eigene Leistung zu wachsen. Die Realität arbeitet für sie. Nichts, was aus dem Parteienkartell in den letzten Wochen zu hören war, deutet darauf hin, dass die politische Klientelwirtschaft, die neofeudale Attitüde der Parteienoligarchie, der planende Neomerkantilismus mit seinen ökonomischen Renten für die Stützen des Regimes beendet und die Probleme unseres Landes angegangen werden – von der ungesteuerten Masseneinwanderung in den Sozialstaat über eine überbürokratisierte staatliche Planwirtschaft, eine vom Rest der Welt zum Irrsinn erklärten Energiepolitik bis hin zum ungebrochenen Traum, über exponentiell steigende Verschuldung immer weiter Konsum ohne Produktion und Wohlstand ohne Leistung zu finanzieren oder gar den Wehrwillen zu stärken.
Es wird also in Berlin weitergehen wie gehabt. SPD und Union streiten bereits vor der geplanten Regierungsbildung auf offener Bühne härter und mit größerer Geringschätzung füreinander, als es die Akteure der Ampel vor staunendem Publikum im letzten Akt ihres Trauerspiels taten. Einen Trost gibt es: Auch das neue Stück wird keine vier Jahre auf dem Spielplan stehen. Am Ende wird das Volk Friedrich Merz dann die Frage stellen, die Merz dem scheidenden Bundeskanzler Olaf Scholz in der letzten Bundestagsdebatte vor dem Wahltag am 11. Februar zurief: »Was war das denn?«
Über den Autor: Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung
Titel- und Beitragsbild im Original aus dem Bundesarchiv, B 145 Bild-F082415-0010 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons
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