G: Wenn ich heute, am Tag zwei nach der Bundestagswahl, die Nachrichten verfolge, fürchte ich, dass sich das ideologische »muddling through«, das Durchwursteln der Eliten des verkrusteten Parteienstaats, die Realitätsverweigerung der herrschenden Klassen und die Verfolgung abweichender politischer Ansichten auch in den nächsten Jahren ungebrochen fortsetzen werden. Oder wie es in Samuel Becketts Roman Murphy gleich am Anfang heißt: »Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.«
B: Na, na. So pessimistisch kenne ich Sie ja gar nicht! Also ich bin erst einmal froh, dass die Grünen künftig nicht mehr in der Regierung vertreten sein werden. Das macht es etwas leichter, in der Migrationspolitik die offenen Grenzen zumindest für illegale Einwanderung zu schließen. Vielleicht kehrt ohne die Grünen als Partei der besserverdienenden, akademischen Eliten in den westdeutschen Groß- und Universitätsstädten sogar in der Wirtschafts- und Energiepolitik etwas Vernunft ein. Und 20,8 Prozent für die AfD – immerhin eine Verdoppelung ihres Ergebnisses von 2021 – sind auch nicht zu verachten. Sie ist jetzt die größte Oppositionspartei im Parlament.
G: Und? Trotz des antifaschistischen Schutzwalls, den staatsfinanzierte linke Gruppen und regierungsnahe Organisationen und absurde Gruppen wie Omas gegen rechts im Wahlkampf noch mit Massenaufmärschen und Staatsknete für die Staatsparteien bekräftigt haben: Es ist angesichts der dramatischen Lage, in der sich Deutschland befindet, keine herausragende Leistung, gerade mal jeden fünften Wähler gegen die anhaltende Realitätsverweigerung der Regierenden zu mobilisieren.
B: Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich nur 20,8 Prozent sind. Ostdeutsche kennen das noch aus den Zeiten von Egon Krenz – da hat man beim Ergebnis auch ein bisschen nachgeholfen. Sahra Wagenknecht vom BSW spricht beim Ergebnis von 4,98 Prozent für ihre Partei offen von Manipulationen. Und wer Berichte in der Presse liest, wo Wahlhelfer ihr Engagement am Wahltag damit begründen, sie hätten Angst und wollten den »Rechtsruck verhindern«, der darf sich schon Fragen stellen. Den extrem hohen Anteil der Briefwähler – bei denen eine freie und geheime Wahl jedenfalls nicht hundertprozentig garantiert werden kann – sollten wir in dem Zusammenhang auch nicht verschweigen.
G: Dass das mit dem hohen Briefwähler-Anteil ein demokratietheoretisches Problem ist, haben Verfassungsjuristen immer wieder zum Thema gemacht. Stimmt. Dass Umfrage-Institute politische Stimmungen in den letzten Wochen durch flankierende Großberichterstattung in den Medien immer wieder selbst geschaffen haben und nicht nur objektiv abbilden, da stimme ich Ihnen zu. Da hat Sahra Wagenknecht sicher recht. Das hat auch die CDU in den letzten Wochen leidvoll und die hochgeschriebene Linke lustvoll erfahren. Nennen Sie es die Naivität eines in der alten Bundesrepublik aufgewachsenen Menschen; eine bewusste Manipulation bei der Stimmauszählung mag ich mir aber nicht vorstellen. Aber ob es nun 20,8 oder 24,8 Prozent sind, an der Situation ändert es nichts.
B: Die AfD ist eine Außenseiterpartei und sie wird es auch im nächsten Bundestag bleiben. Deswegen muss sie die Chance nutzen, endlich eine politische Strategie zu entwickeln, die über das Nein zur Masseneinwanderung hinausweist. Darum hat sie sich viel zu lange herumgedrückt. Sie bekommt jetzt die materiellen Ressourcen dazu, es gibt Geld für eine eigene wissenschaftliche Arbeit, für eigene Expertisen. Mit Alice Weidel hat die Partei auch ein eigenes Gesicht…
G: … aber was für eines? Die Frau ist humorfrei im nationalliberalen Denken der Gründungsväter der AfD verankert. Ihr Politikmodell verkörpert das Zerrbild einer vermeintlichen westdeutschen Idylle während der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Sie hat keine auch nur ansatzweise überzeugende alternative oppositionelle Gegenerzählung für die Zukunft.
B: Ich fand Weidel am Anfang auch ein bisschen zickig. Im Wahlkampf hat sie aber zunehmend an Statur, auch an Menschlichkeit gewonnen. Sie weiß, dass die AfD sich auf dem Erfolg bei der Wahl nicht ausruhen darf und dass es nicht reicht, einfach nur das Programm der CDU aus der Vergangenheit zu kopieren.
G: Aber wie sollte die Gegenerzählung der AfD jenseits solcher Kampfbegriffe wie Remigration aussehen? Wirtschaftspolitisch hat die Parteivorsitzende den Schulterschluss mit Libertären wie dem US-amerikanischen Tech-Milliardär Elon Musk gesucht. Soll das das Programm sein für eine Partei, die von Arbeitern – und übrigens auch von Arbeitslosen – mehr Stimmen erhalten hat als jede andere Partei? Sozialdemokraten und Grüne, vorher auch schon Christdemokraten und Liberale haben das Land mit ihrer Wirtschafts- und Energiepolitik in die Stagnation und den Sozialstaat mit seiner unkontrollierten Einwanderung bildungsferner Millionen vor allem aus islamischen Ländern an die Grenzen seiner Belastbarkeit geführt. Die Bundeswehr steht blank da, alles Soldatische gilt der »postheroischen« Gesellschaft als suspekt. Leistungsbereitschaft beißt sich am repressiven Egalitarismus, der vom »Wir« spricht und doch nur das »Ich« kennt. Sehen Sie irgendwo auch nur ansatzweise eine Antwort der AfD darauf, die über Schlagworte, »Windmühlen weg« und unpräzise Rufe nach Remigration hinausreicht?
B: Darauf genau muss die AfD in den nächsten Jahren Antworten finden. Das Problem haben Sie richtig beschrieben. Derzeit profitieren vor allem Migranten, aber in erschreckendem Maße – vor allem im Westen – sogar Familien der Mittelschicht vom Ausbau des Sozialstaats. Wenn die AfD überzeugende Antworten darauf findet, wie der Sozialstaat zielgenauer denen hilft, die ihn mit ihrer Arbeit getragen haben und dann selbst in Not gekommen sind, kann sie den Spagat schaffen, eine »Partei anderen Typs« zu bleiben und doch als Parlamentspartei eine Kraft zu werden, die ihre Potentiale auch im Westen auf mehr als 30, 40 Prozent erweitert. Das ist die wichtigste Aufgabe. Das Nein zur Massenmigration allein wird nicht mehr ausreichen, wenn Friedrich Merz als Bundeskanzler seine Vorstellungen umsetzt.

G: Verzeihen Sie, wenn ich lache. Glauben Sie ernsthaft, Merz und die CDU werden im Bündnis mit einer nach identitätspolitisch noch linkeren SPD-Fraktion und Lars Klingbeil an der Spitze der SPD über kosmetische Änderungen hinausgehend die Einwanderungspolitik ändern können? Bei dieser Wahl ist doch brutal auffällig geworden, dass es nicht eine Partei im Bundestag gibt, die eine Strategie zur Lösung der akuten Probleme – innenpolitisch und global – parat hätte. Sie weigern sich sogar – die AfD ist da nur bei der Migration eine Ausnahme – andere Fragen als die zu stellen, die seit Jahren immer wieder zu falschen Antworten führen. Die Realitätsverweigerung geht ungebrochen weiter, die Kluft zwischen politischer Klasse und Volk wird weiterwachsen. Es ist geradezu zynisch, wie eine politische Charaktermaske wie Klingbeil als neuer starker Mann der schwachen SPD seine ungenierte Klientelpolitik zur einzig wahren Politik für das Gemeinwohl umdeutet. Und was macht die selbsternannte Alternative? Sie strebt vor allem nach ihrem eigenen Platz im Parteienstaat, in dem die Parteien den gesamten Staatsapparat mit ihren Leuten durchsetzen. Nicht die höchste Qualifikation, sondern allein die passende Gesinnung entscheidet. Es geht nur noch um das Ziel, die jeweils herrschende Parteiräson durchzusetzen. Wer die falschen Fragen stellt, wird kaltgestellt. Das »Zuerst das Land, dann die Partei«, mit dem SPD und CDU jetzt hausieren gehen, hat mit der Wirklichkeit so viel zu tun wie die legendäre Currywurst in den Werkskantinen von VW mit dem Frühstück eines veganen Oberstudienrats in seiner Wohnküche in Berlin-Mitte. Hegels, sogar die altliberale Staatsidee Humboldts sind in Deutschland schon lange tot. Nur wer Abstand nimmt, kann erkennen, was da gespielt wird. Wer diese Machtstrukturen angreift, wird auch von der neuen Regierung aus dem Meinungsraum ausgegrenzt und politisch verfolgt werden.
B: Auch da bin ich optimistischer. Es wird viel von der Regierung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump abhängen, wie mit der AfD oder mit oppositionellen Stimmen in Deutschland umgegangen wird. Wenn der größten Oppositionspartei mit einer Mehrheit von neostalinistischer, westdeutsch geprägter neuer Linker bis zur in Teilen noch konservativen Union weiterhin elementare demokratische Rechte im nächsten Bundestag verweigert werden, verstärkt das die Politikverdrossenheit, weil die Leute merken, dass »unsere« Demokratie der herrschenden Klassen in Wahrheit eine Demokratie »gegen uns« ist. Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten in München, die Kontakte von Elon Musk zur AfD stimmen mich zuversichtlich, dass die Zeiten der »politischen Korrektheit« und der politischen Hegemonie der Grünen und Linksliberalen vorbei sind und in Deutschland oppositionelle Meinungen nicht mehr so leicht zu unterdrücken sein werden.
G: Das ist wirklich sehr optimistisch.
B: Die Unterstützung der US-Amerikaner könnte Europa helfen, Genderismus, Zensur, Krieg und Masseneinwanderung zu beenden. Doch die Amerikaner haben einen neuen Besen, der diese vier politischen Unsäglichkeiten nicht zu verantworten hat. In Europa hingegen sind die »Täter« weiterhin und auf unabsehbare Zeit an der Macht. Sie würden ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie jetzt auf Trumps Zug aufsprängen. Andererseits ist Friedrich Merz Atlantiker der reinsten Sorte und möchte die Ukraine weiterkämpfen lassen gegen Putin und für Europas Freiheit. Das dürfte ein ganz schöner Spagat werden: für ihn, aber auch für die meisten europäischen Politiker, die ja zum großen Teil an ihre Proklamationen selbst glauben und Putin und die AfD wirklich hassen. Sie sind schnell dabei, das Militärbudget zu erhöhen, wie die USA es fordern, als würde »der Russe« tatsächlich Europa bedrohen. Die vernünftigen Signale aus den USA hingegen werden desavouiert und brüsk abgelehnt. Wie dieser politische Kulturkampf ausgeht, ist noch nicht entschieden. Er geht jetzt erst einmal in eine neue Runde. Und deren Verlauf ist davon abhängig, ob Glasnost und Perestroika, Trumps Revolution von oben, weitergeführt werden können oder auf die eine oder andere Weise abgewürgt werden.
G: Da haben wir nun wirklich einen tiefen Dissens. Natürlich bedroht die Russische Föderation Europa. Putin macht daraus überhaupt keinen Hehl. Es geht um Hegemonie. Nicht nur das herrschende Parteienkartell, auch die AfD wird sich entscheiden müssen: Spielen Deutschland und Europa bei der Neuordnung der internationalen Politik noch eine eigenständige Rolle oder verabschieden sie sich aus der Geschichte und werden zum Vasallen einer der Hegemonialmächte, die sich in der globalen Ordnung gerade herausbilden. Die USA orientieren sich ökonomisch, politisch und wirtschaftlich schon seit Jahren um vom Atlantik in den Pazifik, wo mit China ihr größter Rivale herangewachsen ist. Russland hat seine imperialen Pläne unter Putin wieder verstärkt. Vasallenstaaten sind in ihren Entscheidungen nicht mehr frei. Was wollen wir? Wirtschaftliche Abhängigkeit vom Hegemon China? Eine USA, die über die Rolle Europas in der neuen Weltordnung entscheidet? Energieabhängigkeit von einem aufgerüsteten Russland direkt vor der Haustür? Keine der Parteien hat eine Antwort darauf, welche Rolle Deutschland in der globalen Weltordnung des 21. Jahrhunderts spielen sollte und welchen Preis das hat. Wenn die AfD die Wehrpflicht fordert, das Militär stärken will, dann stellt sich doch die Frage: Wo steht der mögliche Gegner? Vor wem und was will man sich schützen? Von wem könnte die nationale Souveränität Deutschlands gefährdet werden, wenn sich das Land nicht wirtschaftlich und militärisch in die Lage versetzt, auf Augenhöhe handeln zu können? Von den unmittelbaren Nachbarstaaten Deutschlands geht eine Bedrohung offensichtlich nicht aus. Und China und die USA, die für die besserwisserischen, postheroischen europäischen Moralweltmeister nicht mehr zahlen wollen, sind weit. Was für einen Krieg sehen wir, der da in der Ukraine geführt wird? Die Mär vom Stellvertreterkrieg, die auf der antiamerikanischen Linken und Rechten gerne gepflegt worden ist, ist durch die Entwicklungen der letzten Zeit Lügen gestraft.
B: Zum Krieg in der Ukraine würde ich schon auch gern was sagen: Durch die begrüßenswerte Friedensinitiative Trumps hat sich einer der beiden Hauptpunkte von BSW und AfD unerwartet schnell erledigt. Sollte außerdem Friedrich Merz sein Versprechen, eine rigorose Migrationspolitik durchzuziehen, wahrmachen, verliert das BSW vollständig und die AfD partiell ihre Existenzberechtigung. Umso wichtiger ist es, dass die AfD ein konzises nationalstaatliches Konzept erarbeitet und verkündet, um als »vollständige«, verantwortungsbewusste und ernstzunehmende Partei wahrgenommen zu werden. Dem BSW wird dies nicht gelingen, da seine anderen politischen Ziele zum größten Teil von der wiedererwachten Linkspartei vertreten werden. Nationale Souveränität zurückzuerlangen hingegen bleibt ein Alleinstellungsmerkmal der AfD.
G: Dazu müsste die AfD aber erst einmal sagen, was nationale Souveränität für eine europäische Mittelmacht im wirtschaftlichen Niedergang mit einer alternden Bevölkerung in einer multipolaren Welt bedeutet. Ein Deutscher muss heute, schlicht als Realist, auch Europäer sein, wenn das Land als Nation noch eine aktive Rolle spielen will. In der Großraumordnung, die sich herausbildet, können die europäischen Nationen nur als Gruppe in einer solidarischen Gemeinschaft eine Rolle spielen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit der planbürokratischen EU hat das nichts zu tun. Die Geschichte zeigt, dass ein politischer Bund europäischer Nationen nur aus geschichtlichen Anlässen, Instinkten und Lebensantrieben durch äußere Bedrohungen hervorgehen kann. Die Neuordnung der Welt schafft so eine Lage.
*
Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, absolvierte erfolgreich ein Philosophie-Studium. Vor der „Wende“ engagierte sie sich in der DDR für demokratische Reformen, später war sie Mitglied der oppositionellen Vereinigung „Demokratischer Aufbruch“. Carsten Germis ist Chefredakteur von TUMULT, der Vierteljahresschrift für Konsensstörung.
Titel- und Beitragsfoto im Original: Neue Zeit. Ausschnitt. Dresden-Neustadt: Kamenzer Straße 12, Entree, Gemälde von H. G. Griese und Jakoba Kracht (1998). Jörg Blobelt, CC BY-SA 4.0 via Wiki Commons
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.