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Bettina Gruber: PRIDE-PARADE IN WIEN - Zu welchem Ende studiert man Geschlechterverhältnisse? (I)

Aktualisiert: 11. Aug. 2019

Warum wird gesellschaftlichen Minderheiten der Opferstatus in aller Regel fälschlicherweise zugeschrieben? Warum verfügten bisher noch die wenigsten Emanzipationsbewegungen über hinreichend Taktgefühl, um kurz vor dem Überspannen des Bogens innezuhalten? Und warum fühlt sich Bettina Gruber dann und wann dunkel an die Erzählungen ihres im kommunistischen Polen aufgewachsenen Mannes über die Teilnahmepflicht an den alljährlichen Maiaufmärschen erinnert? Fragen über Fragen, ihren jeweiligen Antworten im aktuellen Teil unserer Gender-Kolumne assoziationsreich und sachverständig zugeführt.



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Heute in eigener Sache. Oder vielmehr in der Sache des Themenkreises, den diese Kolumne vorrangig behandelt. Nach Erscheinen meines letzten Blogbeitrages erreichte mich auf Twitter eine Direktnachricht von einem geschätzten und sonst durchaus geneigten Leser und Autor des Konsensstörungsunternehmens, in dem Sie gerade schmökern. Diese lautete auszugsweise wie folgt….


Ich habe Ihren Beitrag zu lesen begonnen. Ich frage mich häufig: Warum beschäftigen wir uns mit solchem Schwachsinn?... Es ist irgendwie absurd, solche kruden Theorien ernsthaft zu erörtern.“


Der Schreiber gibt damit einer links wie rechts verbreiteten Auffassung Ausdruck. Auf der Rechten ist man überzeugt, solange man selber noch wisse, dass es zwei und nicht zweiundsechzig Geschlechter gibt, könne man die Genderei mit interesselosem Missfallen von außen betrachten. Man sieht sich mit einer irreleitenden Theorie konfrontiert, die das eigene Leben aber nicht weiter tangiert. Letztlich handle es sich um nichts weiter als ein akademisches Glasperlenspiel oder eine Art geistigen Schüttelfrost, der auch wieder vorbeigeht.


Die „Linke“ (sprich der hyperliberale Mainstream, der mit der klassischen Linken nur mehr Ideologie-Bruchstücke gemeinsam hat und deshalb bei mir stets in Gänsefüßchen steht) wiederum lebt und webt in der Überzeugung vor sich hin, Geschlecht sei eine frei wählbare Kategorie; die Gesellschaft demnach nur von ihrem „heteronormativen“ Korsett samt familiären Normen zu befreien, um eine Vielzahl friedlich koexistierender Geschlechter und Sexualitäten sprießen zu lassen, deren demonstratives Ausagieren ein Menschenrecht darstelle.


Wenn die Anführungszeichen-Linke hier einen eklatanten Mangel an anthropologischem Verständnis erkennen lässt, so erliegt die Rechte in ihrer Wahrnehmung der Geschlechterfront der Illusion, hier handle es sich um einen skurrilen Nebenschauplatz der „wirklich wichtigen“ Konflikte, den man getrost vernachlässigen könne. Das beruht auf einer optischen Täuschung, die dazu verführt, die Rede von den marginalisierten Minderheiten ernst zu nehmen. Ich möchte am Beispiel der diesjährigen Pride-Parade zeigen, dass das die Realität schon lange nicht mehr trifft.


Der Google-Startbildschirm zeigte am 4. Juni, dem 30. Jahrestag des Tian‘-anmen nicht etwa eine Erinnerung an die Opfer dieses historischen Massakers, die insgesamt in die Tausende gegangen sein sollen, sondern ein Video mit bunten Figürchen und der Aufforderung „Feiert mit – 50 Jahre LGBTQ+.“ Die Gewichtung, die hier vorgenommen wurde, spricht für sich. Ebenfalls für sich spricht die Reichweite dieses Doodles, das in den USA und Europa, Australien und Indien gezeigt wurde, nicht jedoch in China, Russland, Afrika (außer Südafrika) und den islamischen Ländern. Es lässt sich leicht überschlagen, wie viele Millionen Menschen Google auf diesem Wege erreicht. Die Liste beschränkt sich übrigens fast vollständig auf europäisch geprägte Länder. Den Ländern, in denen LGBTQs keine Akzeptanz erfahren oder verfolgt werden, wollte man offenbar den eigenen aufklärerischen Impuls nicht zumuten. Vermutlich würde das Googles Geschäftsinteressen schaden, und so weit will man dann doch nicht gehen.


Staaten und Großfirmen machen sich die Anliegen der Bewegung mittlerweile offensiv zu eigen. Wie weit das geht, zeigt dem interessierten Beobachter eine kleine Nachlese der Vienna Pride, der großen diesjährigen Pride-Parade. Auch hier war der Internet-Gigant vorne mit dabei. Die Beflaggung der amerikanischen Botschaft in Wien mit Regenbogenfahne erfolgte im Verein mit Google. Die Botschaft postete hochoffiziell ihre Glückwünsche. Eine Gruppe „Diplomats for Equality“ marschierte im Paradezug mit. Auch andere internationale Vertretungen zeigten die Regenbogenflagge oder Transparente mit Sympathiebekundungen, desgleichen sämtliche bedeutende Repräsentationsgebäude entlang der historisch symbolträchtigen Wiener Ringstraße: die Staatsoper, das Burgtheater, das Rathaus, die Votivkirche und die Universität Wien. Die Fahrbahn schmückte ein regenbogenfarbener Zebrastreifen. Die Verkehrsbetriebe warben schon lange vorher. Als ich vorletzte Woche einen Fahrschein am Automaten erwarb, leuchtete die Regenbogenfarbe vom Bildschirm. Am Ring verkehrte eine Straßenbahngarnitur in Regenbogenfarben.


Ich empfehle, sich die Bilder der Großveranstaltung im Netz anzuschauen. Sie sind, jenseits jeder Bewertung, wirklich eindrucksvoll.


Es sprachen diverse hochrangige österreichische Politiker, es sprach auf der Abschlusskundgebung Bundespräsident Alexander van der Bellen, die erste Ansprache eines Staatsoberhaupts bei einer solchen Gelegenheit:


Der Jubel war groß, als Bundespräsident Alexander van der Bellen und seine Frau Doris Schmidauer auf die Bühne im Wiener Europride Village traten und der Bundespräsident die Menge mit einem lässigen ‚Hello everybody!‘ begrüßte. Zuvor hatten bei der Euro-Pride rund 460.000 Menschen für Vielfalt und Toleranz in Österreich und Europa demonstriert. (…) Van der Bellen stellte sich in seiner Ansprache klar hinter die Anliegen der LGBTIQ+-Community und freute sich darüber, dass er als erstes Staatsoberhaupt überhaupt bei einer Euro-Pride Kundgebung sprach – ein Debüt, dass er augenzwinkernd als Coming-Out bezeichnete.“

(Die hier und auf Wikpedia genannte Teilnehmerzahl wurde andernorts allerdings energisch bestritten. Offizielle Zahlen haben ich nicht gefunden und nehme Hinweise erfreut zur Kenntnis.)


Dass in einem Land, in dem mit dem Segen des Staatsoberhauptes und begleitet und vorbereitet von einer massiven Werbekampagne der Hauptstadt eine Massendemonstration für Vielfalt und Toleranz stattfinden kann, eine solche Demonstration überflüssig ist, versteht sich von selbst. Bei dieser Gelegenheit feiert sich schlicht der Liberalismus als Prinzip totaler Beliebigkeit und Fluidität und geborener Feind jeder symbolischen Grenze. Van der Bellens Formulierung erweckt den Eindruck, nicht der Präsident legitimiere durch seinen Zuspruch die Veranstaltung, sondern die Veranstaltung legitimiere den Präsidenten.


Höhere Weihen sind eigentlich kaum mehr möglich. Sezessionist Martin Lichtmesz fragte sich auf Twitter nicht ohne Grund, ob das Dargebotene jetzt die neue Staatsreligion sei. Der bei dieser Gelegenheit getriebene Aufwand kann sicherlich mit dem für den Nationalfeiertag wetteifern oder stellt diesen noch in den Schatten, und die Beschreibung als Massenkultus liegt nahe. Es handelt sich ja längst nicht mehr um minoritäre Praxis, sondern um eine ehemalige Nischenkultur, deren Auffassungen, Präferenzen und Praktiken für die Mehrheitsgesellschaft stilbildend, ja vorbildlich geworden sind und in einem gigantischen Hochamt, das nahezu alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zusammenbringt, zelebriert werden.


Auch die „zivilgesellschaftliche“ Umsetzung ist national und international flächendeckend: Nicht nur Google, auch zahlreiche andere Firmen haben sich den Regenbogen auf die Fahnen geschrieben. Auf Twitter berichtete jemand, in seiner Firma seien sogar Schlüsselanhänger mit Regenbogenfarben verteilt worden, eine Vereinnahmung der Mitarbeiter, die dann ungefragt für die Pride reklamelaufen, denn wer würde sich im Arbeitsumfeld dieser Gabe schon widersetzen?


In der Frühjahrsausgabe von Tumult 2017 habe ich mit „Minderheiten. Ein Irrtum“ darauf hingewiesen, dass die Vorstellung eines prinzipiellen Opferstatus jedweder Minorität verfehlt ist und Minderheitenstatus im Gegenteil eine ausgezeichnete Voraussetzung für die schlagkräftige Durchsetzung von Gruppeninteressen bietet. (Man könnte sogar bezweifeln, dass relevante Veränderungen jemals von echten Mehrheiten ausgegangen sind.). Die besseren Vernetzungsmöglichkeiten, die klare Abgrenzbarkeit einer Agenda sowie der (aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung stammende) stärker ausgeprägte Durchsetzungswille sind eindeutige Vorteile. Mit dem ehemaligen afroamerikanischen Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson: „In politics, an organized minority is a political majority.”


Hinzu kommt in modernen westlichen Gesellschaften die nicht stillzustellende Eigendynamik ihrer Wertdiskurse. Gleichheit und Freiheit sind Werte, die über keine eingebaute Anzeigte „erreicht“ verfügt. Dasselbe gilt für „Freiheit“. Vor diesem Hintergrund sind Minderheitenbewegungen, die sich, zu recht oder unrecht, auf diese diskursive Tradition berufen, so gut wie „unstoppable“ und sie werden bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch nirgends stoppen, es sei denn, die Diskrepanz zwischen behaupteter Diskriminierung und beobachtbarer Realität wird so absurd, dass das Forderungskarrussell zum Stehen kommt. Das halte ich bis auf Weiteres für unwahrscheinlich. Wo rechtliche Gleichstellung erreicht ist und nichts mehr Objektivierbares zu fordern bleibt, wird als Nächstes amtlich garantierte Bevorzugung und ebenso garantierte gesamtgsellschaftliche Zuneigung gefordert.


Dass man sich mit dem Erreichten keineswegs zufriedengeben will, zeigt die Aussage eines schwedischen Teilnehmers, dem der offizielle Aufwand von Behörden, Kulturinstitutionen und Staatsoberhaupt keineswegs ausreicht:


Frederick Sawesthal sitzt für die bürgerlich-konservative Partei ‚Moderaterna‘ im Stockholmer Regionalparlament und erzählt stolz, dass er mit Sebastian Kurz schon einmal Cocktail trinken war. Bei der Regenbogenparade wunderte den 42-jährigen allerdings, dass nur die Grünen und die Neos Präsenz im Pride Village auf dem Rathausplatz demonstrierten. In Schweden wäre das anders, erzählte er. ‚Da würden von acht Parteien sieben teilnehmen.‘ Insofern müsse man die ÖVP, mit der man gemeinsam in der Europäischen Volkspartei vertreten sei, noch bewegen Pride-freundlicher zu agieren‘.“

Glückliches Pippi-Langstrumpf-Land! Die Logik ist aufschlussreich: Schon wer nicht teilnimmt, hat offenbar bereits „Pride-unfreundlich“ agiert. Im traditionellen Wiener Arbeiterbezirk Simmering führte die Tatsache, dass die Regenbogenfahne nicht am Gemeindeamt hing, zu einem Eklat. Bezirksvertreter, die eine Unbotmäßigkeit witterten (zu Unrecht, es war nur der Fahnenmast kaputt), verließen empört den Sitzungssaal. Das Beispiel zeigt sehr deutlich, dass in dieser Frage keine Meinungsfreiheit mehr besteht: Öffentliche Institutionen sind mehr oder minder gezwungen, sich an der Huldigung sexueller Vielfalt zu beteiligen.


Der Druck, der aufgebaut wird, geht mittlerweile nicht mehr darauf aus, Toleranz einzufordern, sondern aktiv positive Bekenntnisse zu verlangen und Personen und Institutionen, die sich lediglich passiv verhalten, als Feinde zu markieren. Mich erinnert das mittlerweile an die Erzählungen meines im kommunistischen Polen aufgewachsenen Mannes über die Teilnahmepflicht an den Maiaufmärschen.


Mehrheiten wird (erfolgreich) angesonnen, sich an den Normen und Idealen der minoritären Gruppe zu orientieren, während man sie gleichzeitig als Diskriminierer diskriminiert − ein Überschlag von der einstigen Befreiungsbewegung in einen tendenziell totalitären Anspruch. Das wird dort vollends deutlich, wo die Mehrheitsgesellschaft sich paradox als Teil einer fashionablen Minderheit zu redefinieren versucht. Über dem Mittelrisaliten der 1365 gegründeten Alma Mater Rudolphina, erreichbar derzeit über eine „Regenbogentreppe“, prangt ein bunt gestreiftes Transparent mit der Aufschrift: „Proud to be part of it“.




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Über die Autorin:


BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.




 

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