In Frankreich spaltet gerade eine von einer sechzehnjährigen Schülerin ausgelöste Blasphemie-Affäre die Nation. Wie die großen Affären, die französische Geschichte machten (Calas, die Halsbandaffäre, Dreyfus), bündelt auch diese eine bestimmte historische Situation wie in einem Brennglas, und wie bei diesen ist die Konstellation allseitig unerfreulich. In einem Video verkündete der Teenager in äußerst beleidigenden Worten seinen Hass auf den Islam. „Ich verabscheue die Religion, der Islam ist eine Hassreligion, der Islam ist Scheiße. … Eure Religion ist Scheiße, eurem Gott stecke ich einen Finger ins …, Danke, auf Wiedersehen!“
Diesem Ausbruch war eine Auseinandersetzung vorausgegangen, bei der Mila sich auf Instagram mit einer lesbischen Freundin über die Reize arabischer Frauen ausgetauscht hatte, was einen muslimischen Zuschauer und in seinem Kielwasser eine ganze Reihe von Belästigern veranlasste, sie zunächst als „antimuslimische Rassistin“, dann als „schmutzige Französin“, „Hündin“ und „schmutzige Lesbe“ zu betiteln.[1] In der Folge kam es ihrer Darstellung nach zu den oben zitierten Äußerungen. Der Live-Stream, in dem sie fielen, fand Samstag, den 18. Januar statt. Am darauffolgenden Montag bereits konnte die Gymnasiastin aufgrund einer Welle von Drohungen die Schule nicht mehr besuchen. Es folgte eine Anzeige wegen Aufstachelung zum Hass („provocation à la haine à l’égard d’un groupe de personnes, à raison de leur appartenance à une race ou une religion déterminée“), die von der Staatsanwaltschaft nach nicht einmal einer Woche eingestellt wurde. Die Ermittlungen wegen der Morddrohungen, die sie erhalten hatte (angeblich zeitweise zweihundert pro Minute!), laufen dagegen.
Der Vorfall zerlegt die ideologischen Lager so säuberlich wie ein Stück Wild auf einem Tranchierteller. Zuerst erklärte der Vorsitzende des französischen Islamrats Abdallah Zekri mit hinreichender Deutlichkeit, wer Wind gesät habe, werde Sturm ernten. (Dass das auch für Zeitgenossen gelten könnte, die eine junge Frau als Hündin und, in ihrem eigenen Land wohlgemerkt, als schmutzige Französin titulieren, scheint er nicht mitgemeint zu haben.)
Justizministerin Nicole Belloubet bezeichnete Milas Kommentar zunächst als „eine Verletzung der Gewissensfreiheit“ (eine ziemlich rätselhafte Qualifikation in diesem Zusammenhang), steckte aber nach heftigem Gegenwind alsbald zurück.
Auf der Gegenseite empörte sich Marlène Schiappa, die Staatssekretärin für Frauenrechte und Gründerin von „Maman Travaille“, über den „kriminellen“ Kommentar des Islamratsvorsitzenden Zekri, was verständlicher wird, wenn man weiß, was er seiner stimmungsmeteorologischen Bemerkung über Wind und Sturm laut FAZ hinzugefügt hatte: „Sie (Mila) hat die Religion beleidigt, jetzt muss sie die Folgen ihrer Worte tragen.“ („Elle l’a cherché, elle assume.“) Man kann kaum leugnen, dass das angesichts von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen in Serie bedrohlich klingt. Zekri leitet auch die Französische Beobachtungsstelle für Islamophobie („Observatoire national contre l’islamophobie“), die in ihm offenbar einen aufmerksamen Wächter der weniger islambegeisterten französischen Bevölkerung gefunden hat. Schließlich meldete sich Marine LePen zu Wort, die, wie die Staatsekretärin Schiappa der Macron-Partei En marche, der Heranwachsenden zur Seite sprang. Milas Aussagen seien im Wesentlichen eine mündliche Variante der Charlie-Karikaturen (Tweet @MLP_officiel vom 22. Januar d. J.) Man könne sie geschmacklos finden, aber Todesdrohungen seien „im einundzwanzigsten Jahrhundert“ nicht zu rechtfertigen.
Interessant ist hier Verschiedenes: In Frankreich selbst zunächst einmal das dröhnende Schweigen der Linken, das aus einer lähmenden ideologischen Pattstellung entspringt. Die weltbildstrukturierende „Hierarchie der Opfer“ (Martin Lichtmesz) versagt bei diesem Fall offenbar, weil zwei gleichermaßen hochrangige Opfergruppen miteinander in Konflikt stehen. Im Fall räumlich entlegener oder aufgrund geringer Aufmerksamkeit leicht zu verdrängender Interessenskonflikte zwischen Homo- oder Transsexuellen auf der einen und homophoben Muslimen auf der anderen Seite hielt man stets letzteren die Stange. Gegen Kritiker scheute man im Einzelfall selbst vor existenzvernichtenden Maßnahmen nicht zurück. So verlor der katholische Theologe David Berger seinen Chefredakteursposten beim Schwulenmagazin „Männer“, weil er sich weigerte, einschlägige Gräueltaten in der islamischen Welt mit Schweigen zu übergehen. (Rudolf Augstein bemängelte laut Berger die Thematisierung ausdrücklich.)[2] Hinweise auf an Baukränen aufgehängte Schwule wurden in diesen Kreisen regelmäßig belächelt oder als rassistisch abgebürstet. Wie es scheint, durchbricht der Fall Mila zumindest für den Augenblick diese Schizophrenie, sei es aufgrund der Jugend der Protagonistin, dem Sich-Ereignen vor der Haustür oder der grellen Öffentlichkeit durch die Sozialen Medien, die ein Bekenntnis zum üblichen Interpretationsmuster erschwert. Dass ein Umdenken erfolgt, würde ich angesichts der in ihrer Schmalspur festgefahrenen Ideologie trotzdem nicht erwarten, das Schweigen dürfte ein bloß taktisches sein.
Zweitens finde ich die schaumgebremste deutsche Berichterstattung sehr erhellend. So spricht die „Welt“ von „derber Kritik“ und moniert mit Recht, die Schülerin habe sich „vulgär“ geäußert. Allerdings bringt sie den oben zitierten Kommentar der Jugendlichen nur in entschärfter Form, indem sie auf den „analen“ Schlusssatz verzichtet. (Die rassistische Beschimpfung der jungen Frau als „schmutzige Französin“ fehlt dort ebenfalls.)
Die gleiche Zitierregelung befolgen die Frankfurter Allgemeine sowie Mena-Watch, wo es nur heißt, die Schülerin habe sich „abfällig“ über den Islam geäußert. Das kontrastiert auffällig mit der französischen Presse, wo das einschlägige Zitat im Wortlaut zirkuliert. Ob man einfach Angst hat oder es vermeiden will, Öl ins Feuer zu gießen (ein durchaus ehrenwertes Motiv): Diese Entschärfung ist meines Erachtens falsch. Ein blasphemischer
Ausfall dieser Art hat nicht verdient, als „Kritik“ geadelt zu werden und er ist auch keine.
Der Fall Mila ist nämlich nicht nur ein Debakel für die rosaroten Phantasien von der harmonischen multikulturellen Gesellschaft. Er macht auch auf die hässlichen Formen aufmerksam, die der Hyperliberalismus des „Anything Goes“ mittlerweile angenommen hat. Unabhängig vom juristischen Aspekt (Blasphemie ist auch in Frankreich nicht strafbar, und zwar schon sehr viel länger als in Deutschland) zeigt eine solche Aussage über den Glauben anderer eine Verwilderung des Umgangs und eine primitive Frontstellung gegen jede Religion, die in den Sozialen Medien täglich in freier Wildbahn studiert werden kann. Meist richtet sie sich dort allerdings gegen das Christentum, gegen das, wenn ich richtig sehe, überwiegend von traditionsfeindlichen Europäern polemisiert wird. Dass die Schülerin zuvor in miesester Weise beschimpft und aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität und ihrer ethnischen Zugehörigkeit, nämlich der einer einheimischen Französin, angegriffen und rassistisch beleidigt wurde, macht die Heftigkeit der Reaktion im konkreten Fall verständlich. Aber diese ist eben nur Aktualisierung einer Mentalität, die platte Religionsfeindlichkeit mit der zentralen Idee eines exhibitionistischen sexuellen Selbstausdrucks verbindet, der als heiligstes Recht des Individuums wahrgenommen wird.
Ihre Vulgarität und Obszönität ist kein Ausrutscher, sondern folgt einfach einem weit verbreiteten Verhaltensmuster, auch weil beides (von den Medien und teilweise sogar im Schulsystem) systematisch prämiert wird. Blasphemie avanciert aus dieser Sicht geradezu zum Menschenrecht, zu einem Akt, der die Zugehörigkeit zur liberalen Gesellschaft erst so recht besiegelt. Zudem funktioniert sie als eine Art Ausschlussmechanismus, der es erlaubt, jeden, der sich etwa beleidigt fühlen wollte, als Hinterwäldler und -weltler der Versammlung, die es „zuletzt so herrlich weit gebracht“, zu verweisen.
Nach Bekanntwerden der Affäre spaltete sich die Twitterwelt übrigens in zwei durch eine Art Marianengraben getrennte Kontinente auf: #JesuisMila versus das Gegenteil. Was meine Meinung betrifft: Das Mädchen ist in doppelter Hinsicht Opfer einer verlogenen Liberalität, die sexualisierte Selbstvermarktung von der Schulbank bis zur Bahre verordnet, während sie gleichzeitig die Ausbreitung einer bis zum Mörderischen gegenläufigen Ideologie unter Schutz gestellt hat. Ein weiteres Opfer, das aber im Kampf um die beste aller Welten längst gefallen ist, ist der Respekt vor jeder Religion. Keine Frage, die Schülerin muss geschützt, die sie Bedrohenden müssen strafrechtlich verfolgt werden. Aber trotzdem: #JenesuispasMila. Die Beleidigung religiöser Gefühle ist eine Unsitte, keine Heldentat. Auf eine Gesellschaft, die sie als solche versteht, brauchen wir uns nichts einzubilden.
[2] https://philosophia-perennis.com/2019/08/28/bergerphobie-wie-alles-begann/
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Über die Autorin:
BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.
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