Als Gloria Gaynor 1983 'I Am What I Am' − der Lied gewordenen Selbstrechtfertigung aus Jerry Hermans Broadway-Musical 'La Cage aux Folles' − zu Disco-Breitenwirkung verhalf, standen alttestamentarische Implikationen wohl nicht bewusst im Vordergrund. Doch die Formel 'Ich bin, der ich bin' − darauf macht unsere Kolumnistin Bettina Gruber in ihrem Essay über die Ausweitung des tautologischen Privilegs aufmerksam − ist in zukunftsträchtigen Gesellschaften seit jeher allein dem einen absoluten und höchsten 'Anderen' vorbehalten, nicht beliebigen Devianzen. Wo das Privileg vergemeinschaftet werde, befördere es kurioserweise 'Antisozialität'.
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Sexueller Minderheitenstatus bringt, wie es scheint, außer Fördermitteln mittlerweile hauptsächlich zwei Dinge mit sich: weitgehende Immunität gegen Kritik und den Ruf, einen Lebensstil zu pflegen, der Vorbildcharakter gewonnen hat. Abgesehen von den Verschiebungen im Verhältnis von Mann und Frau: Nirgendwo wie hier wird deutlich, dass sich in den Auffassungen über Sexus und Sexualität jene über Selbst- und Weltverhältnis einer Gesellschaft wie in einem Brennglas bündeln. Fruchtbar ist es daher, den Freudschen Gemeinplatz, der nahezu jede Lebensregung als (verschobenen) Ausdruck von Sexualität ansah, umzudrehen. Im vorliegenden Fall bedeutet das zu fragen, wie es zu der mittlerweile erreichten Umwertung aller Werte in Sachen Geschlecht kommen konnte, die sich in der staats- und zivilreligiösen Feier von Pride-Veranstaltungen ausdrückt, und was diese Kanonisierung des maximal Schrillen über uns aussagt.
Die zentrale Vorstellung, die in einer der Diversität verpflichteten Auffassung von Sexualität zu Tage tritt, ist die der Devianz (ohne Wertung als Abweichung von der Mehrheitsorientierung gefasst). Sexuelle Minderheiten werden vom politischen und kulturellen Mainstream gefeiert, weil Abweichung das Prinzip der radikalen Individualisierung darstellt, die ihrerseits das Leitbild unserer Gesellschaft bildet.
Radikal-Individualisierung bedeutet vollkommene Beliebigkeit der sexuellen und sonstigen Präferenzen und in der Logik dieser Freigabe von allem und jedem als Sexualobjekt liegt es eben, dass diese auch für jene gefordert wird, denen bislang nach allgemeinem Konsens ein Schutzstatus zukam. Eine der letzten Bastionen des Nicht-Beliebigen, der Schutzraum Kindheit, wird hartnäckig angegriffen und könnte, wenn es nach dem Willen mancher Aktivisten ginge, jederzeit geschleift werden. Einer Gesellschaft, die Abweichung als Prinzip prämiert (außer natürlich konservative oder rechte), muss sich bewusst sein, gegen Pädophilie, Zoophilie, Nekrophilie und Kannibalismus keine überzeugenden Argumente zu haben. Es ist daher erwartbar, dass sich diese mit Forderungen zunächst dort bemerkbar machen, wo der Kult der Abweichung am leidenschaftlichsten zelebriert wird.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist der pädophile Aktivist, der auf der Amsterdamer Pride Parade versuchte, sich den Teilnehmern anzuschließen und für Pädophilie zu werben. Der Blog philosophia perennis berichtete darüber am 29. Juli wie folgt:
„Der Mann, der die Flyer verteilt hatte, sagte, er wolle damit für die Rechte von Pädosexuellen und Kindern eintreten. Er kämpfe dafür, so sagte er auf seinem Twitteraccount, dass auch Pädosexuelle Teil der LGBTQ-Community seien. Auch sie sollten stolz auf ihre Veranlagung sein.“
Die Veranstalter forderten ihn daraufhin auf, die Veranstaltung zu verlassen. Die Polizei konfiszierte in der Folge seine Drucksachen, allerdings unter der großzügigen Maßgabe, dass die Pädophilie-Werbung sein Eigentum bliebe und er sie auf der Wache zurückbekommen (!) könne.
Die Erklärung des Mannes beleuchtet zwei Denkmotive, die untrennbar mit der herrschenden Wahrnehmung sexueller Devianz verbunden sind. Erstens die Auffassung von „Rechten“. Diese werden umstandslos als Lizenz zum Ausleben jedweden Wunsches gedeutet; die Frage, wo dieses mit den Rechten und Interessen anderer kollidiert, taucht gar mehr nicht auf.
Zweitens die daran gekoppelte Vorstellung, eine sexuelle Vorliebe sei ausgerechnet ein Anlass zum Stolz. Auf die Verwendung von „Pride“ im öffentlichen Kontext hat LGBTQ mittlerweile praktisch ein Monopol erlangt. (Dass der Begriff auch im Milieu umstritten ist, zeigt ein Blick auf die gewundenen Rechtfertigungen der gleichnamigen Wikipedia-Seite.)
Beide Motive sind aber nur Anwendungen eines grundlegenden Selbsterklärungs -und Verklärungsmusters westlicher Gesellschaften auf das Feld der Sexualität. Sie sind gänzlich folgerichtig in einem Diskurs-Universum, das jedes Begehren als „Ausdruck“ von Individualität adelt. Ergebnis ist ein Individualismus, der kein Korrektiv durch Verpflichtung mehr kennt (weshalb er mit Liberalismus deckungsgleich ist) und zur Vergottung individueller Besonderheit führt: „Ich-bin-der-ich-bin“ sagt in traditionellen Gesellschaften von sich nur einer: Gott. Es ist der Name, mit dem Jahwe sich Mose auf dem Berg Horeb vorstellt (2. Buch Mose 3,14).
In der Konsumgesellschaft ist diese tautologische Bestimmung des Ich (die ich als „tautologisches Privileg“ bezeichnen möchte) eine Selbstverständlichkeit geworden. Da Sexualität als Ausdruck dieses mythischen Ich aufgefasst wird, ist es im Gehege eines solchen Denkens nicht abwegig, auf sie „stolz“ zu sein. Und dies umso mehr, als die traditionellen Quellen des Stolzes, nämlich die Zugehörigkeit zu Familie, Ethnie und Kultur, systematisch ausgetrocknet wurden.
Gleichwohl gilt dieses allein-kostbare Ich als verborgen oder verdunkelbar. Sein Zu-Tage-Treten wird daher von einer ganzen Betreuungsindustrie gefördert. Psychologen, Coaches und Berater, mittlerweile auch ministeriell vertreten durch das schon genannte „Regenbogenportal“, sind die Hebammen einer als Individualismus verstandenen radikalen Antisozialität. Man scheint dort nicht erkennen zu können, dass eine Ideologie unbegrenzter Selbstbestimmung notwendig zur Rechtfertigung eines Phänomens wie Pädophilie führt.
Die vom französischen Mentalitätshistoriker Philippe Ariès geschriebene Geschichte der Kindheit ist daher möglicherweise bald um eine Etappe reicher: nämlich die ihrer Wiederabschaffung. Ein Menetekel für diese Abschaffung ist das Phänomen kindlicher Drag-Queens, das unter geschickter Nutzung des Diskurses mit dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes gerechtfertigt wird. An der Vermarktung des „Drag-Kids“ Desmond lässt sich das studieren. Wer den Twitter-Account „Desmond is Amazing“ öffnet, stößt als erstes auf eine Werbeanzeige mit Fanartikeln, „Desmond is Amazing Merch“ (ein Label „House of Amazing“ gibt es auch schon) und kann etwa Wimperntusche (#chimeralashes) und ein T-Shirt mit Aufschrift erwerben. Und, wie, mehr oder weniger geneigter Leser, lautet wohl der Spruch darauf?! Richtig: „Be yourself always!“. Das tautologische Privileg schlägt verlässlich zu.
Desmond ist nicht Gott, aber fast; eine Art Algabal en miniature. Die Welt etwa hat es an Panegyrik nicht fehlen lassen. „Der Junge, der in Frauenkleidern die Welt verändern will“ titelte sie letztes Jahr, da war Desmond gerade elf. Unbeeinträchtigt durch jeden Realitätssinn gibt die Verfasserin die Aussage der Mutter wieder, wonach Desmond sich mit 2 (in Worten: zwei!) Jahren beim Anblick einer Drag-Queen-Show im Fernsehen spontan ein weibliches Kostüm gebastelt habe. Desmond „klingt vor allem nach einem, der tatsächlich schon ganz früh wusste, was er will.“ Und nein, die Mutter verdiene mit „Interviews, Fotoshootings und Paraden-Auftritten kein Geld.“
Der Welt-Artikel stammt vom 19.07.2018 – der auf „Desmonds“ Account geheftete Werbetweet vom 2.10. des selben Jahres. Den verlinkten Shop „Dragqueenmerch.com“ gibt es allerdings schon seit 2015, jedenfalls existierte da bereits eine Facebook-Seite. Es wäre also nicht schwer gewesen, die kommerziellen Implikationen zu begreifen, wenn die Welt-Journalistin sie denn hätte begreifen wollen. Würde der kritische Verstand von Journalisten bei diesem Thema nicht mehrheitlich aussetzen, wären statt der Bildunterschrift „Lustige Klamotten, ernste Mission: Das Drag-Kid ist ein Vorkämpfer(!) für LGBTQ-Rechte“ eher ein paar Fragen nach den Themenkomplexen „Kinderarbeit“ und „Missbrauch“ und eine einschlägige Recherche angebracht gewesen. Tatsächlich hat es laut Aussage seiner Mutter mittlerweile eine Flut von Anzeigen wegen „child abuse“ gegeben – die zuständige New Yorker Behörde konnte angeblich kein Fehlverhalten feststellen. Trifft das zu, zeigt es, wie weit der Abbau des Schutzraumes Kindheit bereits gediehen ist.
Im Dezember 2018 trat Desmond in einem Nachtklub vor erwachsenen Männern auf, die ihm Geld zugesteckt haben sollen. Seinen Durchbruch erlebte er übrigens im Alter von 8 (in Worten: acht) Jahren auf der Pride Parade in New York. In den blumigen Worten der Welt-Autorin:
„Vor drei Jahren lief, ach was, hüpfte er, erstmals im Regebogentutu mit einem güldenen Kranz auf dem Kopf bei der „Pride“-Parade seiner Heimatstadt New York mit. Ein Video davon wurde eifrig geteilt, inzwischen folgen ihm über 70.000 Menschen auf Instagram. Seine Message: Du bist gut so, wie du bist.“
Die Gesellschaft, die hier durch die Linse ihres Geschlechterverständnis in greller Beleuchtung sichtbar wird, ist in der Tat „amazing“ − wenn auch schwerlich im umgangssprachlichen Sinne von „großartig“.
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Über die Autorin:
BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.
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