C. G. Jung hat zum zweiten Mal in der Geschichte seines Nachlebens Popularität in einer Jugendkultur erlangt: In der Hippiebewegung und im Amerikanischen New Age eine Kultfigur, stieg er in den letzten Jahren zu einer Ikone der jungen Konservativen und Rechten auf. Ikonen haben es an sich, hoch auf den Altären und verdunkelt vom Kerzenrauch, oft nicht bis in alle Einzelheiten unterscheidbar zu sein. Dasselbe Schicksal trifft (kulturelle) Leitfiguren, und, wenn sie ein voluminöses Werk hinterlassen, auch dieses. Man bewundert schneller als man liest.
Jung gelangte auf vielleicht unerwartete, aber perfekt zeitgemäße Art zu seiner zweiten popkulturellen Auferstehung: Der Psychologe Jordan Peterson, ein leidenschaftlicher Kritiker der Postmoderne, greift in seinen YouTube-Videos immer wieder auf Begrifflichkeiten und Konzepte des Schweizers zurück und feiert ihn als Vordenker. Da Peterson ein Millionenpublikum erreicht, kommt das einer Erhebung zur Ehre der (Internet-)Altäre gleich.
Entsprechend sind die Erwartungen an das, was eine Jung-Lektüre leisten kann, verworren, aber hoch. Peterson präsentiert den Vater der „Analytischen Psychologie“, wie Jung sein Vorgehen zur Absetzung von dem Freuds nannte, im Rahmen dessen, was ihm seine Popularität bei seiner Zielgruppe, überwiegend jungen Männern, verschafft hat: einer Art Erziehung zur Männlichkeit. Er lässt traditionelle Deutungen der Existenz wiederaufleben. Jede (männliche) Individuationsgeschichte gerät zu einer Variante von „Der Heros in tausend Gestalten“ - der von Jung beeinflusste Anthropologe Joseph Campbell hatte in seinem 1949 erschienen Klassiker unter diesem Titel das Motiv der „Heldenreise“ im Vergleich bei den verschiedensten Kulturen untersucht. Das Buch wurde x-mal aufgelegt, in zahlreiche Sprachen übersetzt und 2011 vom Time Magazine unter die „100 besten und einflussreichsten Bücher englischer Sprache“ gewählt. Peterson wendet die Jung-Campbellschen Interpretationsmuster durchgängig an, sei es auf die biblischen Erzählungen, Walt Disneys Lion King oder die Probleme junger Männer mit Frauen und Karriere. Das also ist der Kontext, in dem der einst designierte Nachfolger und spätere Konkurrent Sigmund Freuds in ein breiteres Bewusstsein zurückgekehrt ist.
Das Verständnis dieses äußerst eigenwilligen, facetten- und phantasiereichen Denkers, Arztes und nicht zuletzt Künstlers wird dadurch allerdings kaum erleichtert. Das ist bedauerlich, denn Jung prägte bzw. popularisierte nicht nur Begriffe, die in den Alltagswortschatz übergegangen sind wie „Komplex“ , „Archetypus“ und (psychischer) „Schatten“, er beeinflusste die gängigen Vorstellungen von Psyche mindestens ebenso sehr wie sein großer Antagonist.
Deshalb hier einige Erläuterungen, bevor ich auf die Frage zurückkomme, ob sich das Werk des Schweizers in der Tat in einen maskulinistischen Rahmen einpassen lässt. Wer die Anziehungskraft dieses Werks nachvollziehen will, muss sich zunächst Jungs Konzeption der Persönlichkeit vor Augen führen, das es sowohl vom Alltagsverständnis als auch von dem als kanonisch geltenden Freuds entscheidend abweicht. Der zentrale Begriff jeder Tiefenpsychologie, das Unbewusste, wird von beiden völlig anders gefasst und auch anders bewertet. Für Freud ist es zunächst nichts als eine der „Regionen des seelischen Apparats“ (DU, 273), in die nicht gesellschaftsfähige Regungen verbannt werden. Es ist realitätsuntüchtig, nur dem Lustprinzip unterworfen und daher vollkommen amoralisch.
„So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbewußten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern. Es ist ein Glück, daß alle diese Wünsche nicht die Kraft besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrauten; in dem Kreuzfeuer der gegenseitigen Verwünschungen wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen.“
(Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe Bd. 9)
Gewissermaßen augenlos, weil nur mit anderen Teilen der Psyche, nicht aber mit der Außenwelt kommunizierend, ist es bloß die „Vorstufe einer höheren Organisation“. Eine Machtübernahme des Unbewussten wäre krankhaft. Ab 1920 lässt Freud das Konzept eines „System Ubw“ hinter sich und tauscht es gegen das „zweite topische Modell“ ein, das die Psyche aus Es, Ich und Über-Ich zusammengesetzt sein lässt, wobei jedes dieser Elemente unbewusste Anteile haben kann.
Freud begegnete der Kategorie (die er nicht erfand, sondern die um die Jahrhundertwende bereits auf eine etwa hundertjährige Geschichte zurückblickte ) mit einem Misstrauen, das sich am deutlichsten in dem Stoßseufzer von Schillers „Taucher“ ausdrückt, mit dem der erste Teil von „Das Unbehagen in der Kultur“ schließt: „Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht.“ Bei Schiller heißt es weiter: „Da unten aber ist’s fürchterlich. / Und der Mensch versuche die Götter nicht, / Und begehre nimmer und nimmer zu schauen / Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“ Freud blieb ein paradoxer „Tiefenpsychologe“, der die (Un)tiefen der Seele, denen er sich mit solcher Energie widmete, verabscheute, von denen der Religion ganz zu schweigen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob der reine Aufklärer das Eigene der Gesamtpsyche nicht zwangsläufig und gesetzmäßig verfehlen muss.
Wie auch immer - ganz anders Jung. Seine Auffassung vom Unbewussten weicht in wenigstens drei Punkten von der Freuds ab: Die dort angesiedelten „Komplexe“ können sich erstens zu eigenen „Teilpersonen“ verselbständigen, ein Denkmotiv, das mit einem ausgeprägten Hang zur Verbildlichung psychischer Inhalte zu tun hat. Jungs Technik der „aktiven Imagination“, eine Praxis geleiteten Halluzinierens, gehört in diesen Zusammenhang. Sie verleiht der Anschauung gegenüber dem rein begrifflichen Vorgehen der „Talking-Cure“ (wie eine frühe Patientin Freuds die Psychoanalyse nannte) besonderen Stellenwert. Jung schreibt über seine eigenen Erfahrungen mit innerpsychischen „Personen“: „Philemon und andere Phantasiegestalten brachten mir die entscheidende Erkenntnis, dass es Dinge in der Seele gibt, die nicht ich mache, sondern die sich selber machen und ihr eigenes Leben haben. Philemon stellte eine Kraft dar, die ich nicht war. Ich führte Phantasiegespräche mit ihm, und er sprach Dinge aus, die ich nicht bewusst gedacht hatte. Ich nahm genau wahr, dass er es war, der redete, und nicht ich.“
Die zweite Abweichung betrifft einen der bekanntesten Entwürfe Jungs, das „Kollektive Unbewusste“. Im Gegensatz zum individuellen Ubw Freuds ist es „un- oder überpersönlich , „eben weil es vom Persönlichen losgelöst und ganz allgemein ist und weil seine Inhalte überall gefunden werden können“. Die Inhalte dieses Kollektiven Unbewussten sind dann die vielberufenen Archetypen. Als Niederschlag stammesgeschichtlicher und historischer Erfahrung sollen sie eine Verbindungsinstanz zwischen der Persönlichkeit und einem in die Vorgeschichte zurückreichenden Kollektivgedächtnis sowie dem biologischen Erbe bilden. Wenn sich hier eine Assoziation zu Platons Ideen einstellt, so ist das durchaus im Sinne Jungs, der beides sogar einmal gleichsetzt. „‘Archtetypus’ ist nun nichts anderes als ein schon in der Antike vorkommender Ausdruck, welcher mit der Idee im platonischen Sinne synonym ist.“ An dieser Stelle tritt ganz deutlich hervor, was das Faszinosum Jungs ausmacht: Sein Denken erlaubt den unmittelbaren, den ganz direkten Anschluss an Denkmuster und Denkströme der Tradition, also der Vormoderne. Es ist hierin der modernen Esoterik engstens verwandt.
Zu dem individuellen Unbewussten Freuds kommt also eine kollektive Ebene, auf der die Individuen miteinander und mit der Vergangenheit verbunden sind. Wie die katholische Kirche eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten bildet, so auch sein Verständnis von der Psyche. Das ist in Zeiten der totalen Atomisierung „an offer you can’t refuse“. Jung hat stets die allgemeine Geltung der Archetypen betont. Sie sind transnational, transkulturell und transhistorisch und damit ein echtes universelles Erbe, ein Erbe übrigens, das nicht ausgeschlagen werden kann, weil es einfach gegeben ist. Es gibt hier deutliche Parallelen zur den Mythologica von Lévi-Strauss, der freilich stets ein akademisch eminent zitierfähiger Autor geblieben ist, weil man vermutete, ihn politisch auf der richtigen Seite verorten zu können.
Jungs kollektives Unbewusstes bildet damit ironischerweise eine Art Universalismus von rechts (der Begriff natürlich nicht im Sinne eines Katalogs allgemeingültiger moralischer Axiome verstanden). Ironischerweise, weil Jung in linkslastigen Universitätswelten beharrlich als dumpfer Mythomane und geistiger Älpler verunglimpft worden ist. (Wobei hier natürlich politische Aspekte hinzutreten, die aber kein Gegenstand der vorliegenden Überlegungen sind.). Wer sich als Freudianer versteht, versteht sich als im ultimativen Sinne aufgeklärt und begreift Jungianer als bedenkliche Obskurantisten. Jordan Petersons Bemerkung, er habe im akademischen Kontext niemals über Jung sprechen können, spiegelt diese Feindseligkeit des akademischen Betriebs zutreffend wider.
Und drittens: Jung nimmt, wie schon an der Berufung auf die Platonische Ideenwelt deutlich wird, eine vollkommen andere Haltung zu Fragen des Transzendenten ein. Diese Haltung ist sowohl antipositivistisch / antiszientistisch wie antitheologisch. Sie besteht sehr energisch auf der Kategorie der persönlichen Erfahrung auch in diesem Feld:
„… und ebenso sicher war mir, dass keiner der mir bekannten Theologen ‚das Licht, das in die Finsternis schien‘ mit eigenen Augen gesehen hatte, sonst hätten sie keine ‚theologische Religion‘ lehren können. Mit der ‚theologischen Religion‘ konnte ich nichts anfangen, denn sie entsprach nicht meinem Gotteserlebnis. Ohne Hoffnung auf Wissen, forderte sie auf zu glauben.“
(Teil II folgt).
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Über die Autorin:
BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.
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