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Bettina Gruber: FOUCAULT IN SIDI BOU SAID - Ein Beitrag zur laufenden Debatte

Michel Foucault (1926-1984) gilt als einer der bedeutendsten Denker der Gegenwart. Einen Großteil seines Schaffens widmete er der Erkundung moderner "Bio-Macht", der Kontrolle über Körper und Sex durch die Art und Weise, wie wir sie erforschen und über sie sprechen und schreiben. Im März 2021 kursierten in französischen und britischen Medien Berichte, wonach Michel Foucault in den späten 1960er Jahren in Tunesien kleine Jungen missbraucht habe. Sofort erhoben sich Stimmen von Zeitzeugen und Lebensgefährten Foucaults zu dessen Verteidigung gegen den Vorwurf der Pädophilie. Offensichtlich sieht sich in Frankreich eine ganze Intellektuellenkaste von den Enthüllungen gleichsam mitbeschuldigt.


Unsere Autorin Bettina Gruber ist sich darüber im Klaren, dass nach fünfzig Jahren kaum noch Gewissheit über die fraglichen Vorgänge zu erlangen ist. Sie untersucht die Beschuldigungen im Kontext der Äußerungen Foucaults in Erklärungen, Gesprächen und Interviews über sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern.


TUMULT wird dem Thema weiter nachgehen und das Gesamtwerk Michel Foucaults von verschiedenen Seiten beleuchten - auch aus Eigeninteresse. Foucault war Mitinitiator bei der Gründung des "alten TUMULT" in den später 1970er Jahren, der "Schriften zur Verkehrswissenschaft" (siehe https://www.tumult-magazine.net/ueber-tumult).




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Der Philosoph als Kunstfigur


Es gibt Themen und Personen, die prädestiniert dazu sind, schwelende Kulturkämpfe hoch auflodern zu lassen. Ein solches Thema ist und war immer die Sexualität, eine solche Figur, war und ist Michel Foucault. „Foucault“ bezeichnet dabei mehr und anderes als ein Konvolut hinterlassener Manuskripte oder eine Reihe Bände im Bücherregal. Die Vorstellung, ein einflussreicher Denker wäre gewissermaßen die Summe seiner Schriften, war immer schon falsch. Die Rezeption verläuft außerhalb der engsten Fachkreise nicht über hingebungsvolle Lektüre, gar ganzer Werke. Stattdessen entsteht eine öffentliche Persona, ein Name, der eine hallende Echokammer von Assoziationen eröffnet.


„Foucault“ insbesondere ist ein Gesamtkunstwerk und wurde zu dem, was er heute in der öffentlichen Imagination ist, ebenso sehr durch sein Leben wie durch seine Schriften, bzw. durch den unentwirrbaren Bezug beider aufeinander – eine unerschöpfliche Quelle für Spezialisten unterschiedlicher Disziplinen, vor allem aber auch ein Popstar für Haltungsakademiker, wie sie das akademische System in Massen auswirft. Diese müssen keineswegs über einschlägige Lektürekenntnisse verfügen, um Foucault (oder Marx oder Derrida) als Idol zu verehren – tatsächlich sind intime Textkenntnisse für lebensweltliche Inthronisierungen (wahlweise auch Verdammungen) dieser Art eher hinderlich, weil sie die ikonische Wahrnehmung durch Differenzierung zu zerstören drohen.


Die Fakten sind mittlerweile x-fach wiederholt worden, weswegen ich sie hier nicht weiter ausbreite: Am 28. März berichtete die Sunday Times darüber, dass der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) in Tunesien kleine Jungen missbraucht haben soll. Bereits am 9. März hatte der sonst wenig bekannte französisch-amerikanische Essayist Guy Sorman bei France 5 vorgebracht, was mittlerweile um die Welt gegangen ist und noch knapp drei Wochen brauchte, um im Gefolge des Times-Artikels schließlich seine explosive Kraft zu entfalten.


Die Aussagen haben umgehend die in diesem Fall erwartbaren medialen Verteidigungsreflexe, Beschuldigungen und Verdächtigen ausgelöst. Foucault gilt (ob zu Recht, ist sehr zweifelhaft, aber sachliche Gesichtspunkte spielen bei Ikonen wie gesagt eine nachgeordnete Rolle) als Gründungsheros der die akademische Welt weitgehend dominierenden „Identitätspolitik“; da Kulturredaktionen wiederum mit Leuten bestückt werden, die eine entsprechende universitäre Sozialisation erfahren haben, waren die Reaktionen vorprogrammiert. Der Tenor zum möglichen Wahrheitsgehalt der Vorwürfe lässt sich, sieht man ausgerechnet von der ZEIT ab, in einer Schlagzeile des Deutschlandfunks zusammenfassen: „Es klingt alles sehr, sehr unwahrscheinlich.“[1] Ich möchte die wesentlichen Argumente, die für diese Unwahrscheinlichkeit vorgebracht wurden, kurz mustern und auf ihre Haltbarkeit hin betrachten.




Die Kavallerie rückt ein


Die Gegendarlegungen stützen sich primär auf einen Artikel der Wochenzeitung Jeune Afrique vom 1. April.[2] Dieser wirft allerdings bei näherer Betrachtung einige Fragen auf: Wie kann eine Recherche über Ereignisse, die sich vor 52 bzw. 53 Jahren abgespielt haben sollen (Foucault kehrte Ende 1968 nach Paris zurück), und die naturgemäß keine Öffentlichkeit dulden, konkret ausgesehen haben? Wie zuverlässig kann sie sein?


Die Verfasserin erklärt, viele würden sich noch an den „introvertieren und asketischen“ Gast erinnern und beruft sich auf einen namentlich genannten Zeugen Moncef Ben Abbes, der entschieden versichert, Foucault sei nicht pädophil gewesen. Über diesen Zeugen erfährt der Leser nichts weiter, als dass es sich bei ihm um das „wahre Gedächtnis des Dorfes“ handeln soll. Man wüsste gerne, wie alt das sogenannte „Dorfgedächtnis“ ist, vor allem, wie alt es zur Zeit der Ereignisse war und wie der Mann zu seinem Wissen gekommen ist? Was für eine Position hat er inne? Stand er in einem Verhältnis zu Foucault und wenn ja, in welchem? Und schließlich, wenn man misstrauisch sein wollte: Existiert eine derartige Person überhaupt? Sie könnte ebenso gut frei erfunden sein. Diese Fragen sind, soweit ich sehe, bis jetzt nicht gestellt worden. Hier besteht Recherchebedarf.


Für eine hastig gestrickte Entlastungslegende spricht die Überschrift, die den Zeugen zitiert: „Michel Foucault n’était pas pédophile, mais il était séduit par des jeunes éphèbes.“ Kraft welch mysteriösen Wissensvorsprungs ist der geheimnisvolle Herr Abbes hier glaubwürdig, Sorman und Charpentier dagegen nicht? Woher will er das so sicher wissen? Um Augenzeugenschaft kann es in beiden Fällen nicht gehen, denn um pädophile Vorfälle definitiv verneinen oder bestätigen zu können, hätten Moncef Ben Abbes oder Sorman/Charpentier schon den Schatten des Philosophen spielen müssen.


Dazu kommt als irritierender Zug, dass der Titel eine Form der Täter-Opfer-Umkehr betreibt, die im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt ein Klassiker ist und auf Kinder und Frauen gleichermaßen angewandt wird: Nicht der sexuell aktive, hier der erwachsene Part, ist verantwortlich, sondern das Objekt seines Begehrens. Normalerweise ruft diese Argumentationsfigur zu Recht scharfe Kritik auf den Plan, diesmal wurde sie (soweit ich sehe in allen Medien, die darauf Bezug nahmen) großzügig ignoriert. Offenbar wollte man auf die Seriosität der Quelle keinen Schatten werfen.


Der Artikel ist aber in anderer Hinsicht sehr interessant. Sormans Geschichte über Sex auf Grabsteinen macht den Eindruck einer romantisierenden Ausschmückung, speziell einer Anleihe bei der schwarzen Romantik. Wohl mit Recht weist ein Dorfbewohner darauf hin, dass man im Dorf nie allein auf dem Friedhof sei und „sur cette terre maraboutique“ eine Entweihung dieses sakralen Ortes besonders ernst genommen würde. Die schrille Szene wurde als Indiz dafür aufgefasst, dass Sorman und Charpentier generell die Unwahrheit gesagt hätten. Allerdings fährt der Zeuge Abbes im Anschluss an seine Feststellung, Foucault sei nicht pädophil gewesen, fort: „…mais était séduit par les jeunes éphèbes. Des gars de 17 ou 18 ans qu’il retrouvait brièvement dans les bosquets sous le phare voisin du cimetière. La majorité civile est alors fixée á 20 ans.“


Das läuft auf die Aussage hinaus, dass einschlägige Beziehungen nicht auf, aber neben dem Friedhof und nicht mit Kindern, sondern mit älteren Teenagern stattgefunden hätten. Das Friedhofsdetail, auf das man bei freier Erfindung nicht käme, dürfte immerhin bestätigen, dass Sorman/Charpentier in der Tat vor Ort waren. Ergänzend ist die zitierte Aussage von Interesse, dass Foucault auf die „diskreteste Weise der Welt homosexuell gewesen sei. Ohne die Gerüchte der kleinen Dorfjungen („sans les rumeurs des petits voyous du village“) wäre niemand auf die Idee gekommen“. Ein bei den Berufungen auf Jeune Afrique ebenfalls nicht breitgetretenes Detail ist die Aussage eines einheimischen „spécialiste en communication politique“, der die Auffassung vertritt, Foucault hätte nach kompromittierenden Aussagen eines Achtzehnjährigen das Land verlassen müssen. Dem widerspricht der ehemalige Dekan der (Philosophischen?) Fakultät von Sfax. Wie auch immer man all dies einschätzen mag, die flächendeckende Entlastung, als die der Artikel gehandelt wird, gibt er nicht her.


Die zweite Apologie, die vor allem auf Twitter als Widerlegung herumgereicht wird, nämlich die der wöchentlich erscheinenden Internetpublikation Lundi matin taugt dazu noch weniger. Bei dem Blatt handelt es sich um ein Organ der äußersten Linken, das in autonomen und anarchistischen Milieus als Autorität gilt. [3] Das allein spricht noch nicht automatisch gegen wahrheitsgemäße Inhalte. An dem Artikel trägt aber argumentativ so gut wie gar nichts: Zunächst wird der wohl „neoliberal“ positionierte (und damit bereits als Feindbild markierte) Sorman ohne jede Abwägung als Verleumder dargestellt. Seine Hauptsünde besteht für den Vefasser in einem unterstellten Willen, das 68er-Erbe samt „kritischem Denken“ zu „liquidieren“, weil es einer „Konservativen Revolution“ im Wege stünde. ([…] „sa volonté de liquider l’héritage de mai 68 et des pensées critiques faisant obstacle à la ‚révolution conservatrice‘“). Die Aussagen des Essayisten erlauben indessen eine solch martialische Interpretation: Sorman fordert ausdrücklich keine „Cancel Culture nach amerikanischem Vorbild“ in Anschlag zu bringen. Man müsse Foucault, über dessen Werk er sich bewundernd äußert, weiterhin lesen, allerdings mit einem „regard double“ („doppelten Blick“), also im mitlaufenden Bewusstsein der problematischen Elemente seiner Biographie. Sorman positioniert sich damit im Gegensatz zum Vorgehen des politkorrekten Lagers in vergleichbaren Fällen ausgesprochen moderat.


Der als kulturkonservativer Angreifer „gerahmte“ Sorman ausgerechnet erklärte seinen Angriff in einem spanischsprachigen Interview in interessanter/ironischer Weise als eine Art Fortsetzung und Übertragung von #MeToo auf das Problemfeld der Pädophilie. Foucault sei ein alter weißer kolonialistischer Mann, der sein Leben lang Machtverhältnisse analysiert habe, ohne seine Erkenntnisse auf sich selbst anzuwenden. Das legt den Finger in eine Wunde, denn diese Vorwürfe treffen ins Herz des Kanons der woken Linken und können nach deren eigenen Standards kaum abgewiesen werden. Es hätte, nähme man dort die eigenen Standards ernst, zuerst von dieser Seite auf den Tisch kommen müssen.


Sormans Angriff zielt nicht nur auf Foucault, sondern auf die französische Intellektuellenkaste insgesamt, deren Position er als historisch privilegiert kritisiert. Sie habe eine Mentalität ausgebildet, der zufolge sich Künstler und Gelehrte eine Sonderstellung über dem Gesetz zusprechen, die ihnen die Gesellschaft auch konzediere. Die Affäre Matzneff habe das Ende dieser Ära eingeläutet. Er versteht seine Eröffnungen also offenbar als Beitrag zu einer speziell auf die französischen Verhältnisse gemünzten Elitenkritik.[4] Seine Kritik mag grobschlächtig sein, aber dass es dazu Anlass gibt, steht außer Frage.


Jenseits dieser kulturkämpferischen Schattenboxereien wiederholt Lundi Matin zunächst nur die aus dem Zusammenhang gerissene Versicherung, Foucault sei nicht pädophil gewesen aus Jeune Afrique und empört sich darüber, dass die Sunday Times und France 5 Sorman überhaupt eine Bühne geboten hätten. Offenbar hätte man eine Vorab-Zensur lieber gesehen. Ansonsten gelangen zwei Argumentationsfiguren zur Anwendung, die sich auch in zahlreichen anderen Medien finden. Das Hauptargument ist dabei ein zeitliches: Foucault hatte Tunesien Ende 1968 verlassen, Sorman legt die Ereignisse aber in das Jahr 1969. Das, so der Mainstream mehrheitlich, beweise ja, dass seine Version erfunden sei. Das ist allerdings nach so langer Zeit keineswegs überzeugend. Zudem ist zweifelhaft, ob Sormans Jahresangabe 1969 tatsächlich falsch sein muss: In der Sunday Times heißt es ausdrücklich, dieser habe seine Beobachtungen während der Osterferien 1969 gemacht. Didier Eribon erwähnt in seiner Biographie, Foucault habe sein Haus in Sidi Bou Said zunächst behalten, als er Ende 1968 nach Paris ging. (Was wohl heißen soll, dass er den Mietvertrag vorläufig nicht aufgelöst hatte.) Es ist daher gut möglich, dass er es Ostern 69 noch nutzte und sich zu den Ferien dort aufhielt. Die Journalistin Chantal Charpentier, die Sorman damals begleitete, spricht nämlich ebenfalls vom Frühling 1969. Dass beide die gleiche Fehlerinnerung haben sollten, ist unwahrscheinlich, dass sie sich zu einer Falschaussage abgestimmt hätten, die ihre eigene Geschichte unterminiert, noch mehr. Denn das Jahr, in dem Foucault in Vincennes anfing, ist ja bekannt. Foucault kehrte zudem 1969 nochmals nach Tunesien zurück, um die Studentenunruhen dort zu unterstützen. Das Hauptargument, auf das sich die Kritiker Sormans bislang stützen, scheint mir insofern keines zu sein.


Können die Meinungen über die Bedeutung der Zeitangabe auseinander gehen, so ist das zweite Argument eindeutig absichtsvoll irreführend. Es bezieht sich auf die 1977 von Foucault unterzeichnete Petition („Offener Brief“), auf die ich unten näher eingehe. Der Lundi Matin (der übrigens weder einen Chefredakteur noch einen Herausgeber benennt und über kein Impressum verfügt) benutzt dazu einen geschickten rhetorischen Griff: Sorman habe Foucault die Vergewaltigung von Kindern unterstellt, dabei heiße es in dem offenen Brief doch ganz ausdrücklich, „dass die Unterzeichner, die völlige Freiwilligkeit der Sexualpartner als nötige und hinreichende Voraussetzung ihrer Statthaftigkeit betrachten.“[5] Wenn die Freiwilligkeit eine hinreichende Voraussetzung darstellt, dann ist diese natürlich altersunabhängig, und Pädophilie damit statthaft, woran der Text auch keinen Zweifel lässt. Es geht ja genau darum, Kindern diese Zustimmungsfähigkeit zuzuweisen, damit sie für Sex mit Erwachsenen legal zur Verfügung stehen.


Ebenfalls nicht schlüssig ist die Aussage von Foucaults Lebenspartner Daniel Defert. Dieser macht geltend, dass Foucault in Tunesien keine päderastischen Kontakte hätte unterhalten können, weil es sich um einen Polizeistaat gehandelt habe und er auf Schritt und Tritt beobachtet worden sei. Dem widerspricht aber wiederum, dass auch die Homosexualität in Tunesien mit Gefängnisstrafe bedroht ist. Der Kommentar von Jeune Afrique erwähnt die besagten Kontakte zu „Epheben“, die offenbar sehr wohl möglich waren und demnach ebenfalls ausgereicht hätten, um Foucault zu kassieren, selbst wenn keine Kinder involviert gewesen sein sollten. Dazu kommt, dass Defert als Lebensgefährte ein verständliches Interesse daran haben muss, seinen ehemaligen Partner nicht zu kriminalisieren und ihn insbesondere nicht mit einer derart verrufenen Praxis behaften zu lassen. Er ist also ein nicht unbedingt ein verlässlicher Zeuge.




Wahrscheinlichkeiten


Dass die entlastenden Argumente bislang auf mindestens so schwachen Beinen zu stehen scheinen wie die Anschuldigungen, bedeutet noch keineswegs, dass letztere zutreffen müssen. Warum mindestens? Zunächst werden wir vermutlich nie mit auch nur einiger Sicherheit erfahren, was geschah, und dies liegt in der Natur der Sache. Es ist denselben Gründen geschuldet, aus denen Vergewaltigungsverfahren nicht so oft mit Schuldsprüchen enden, wie viele Feministinnen sich das wünschen: eine verworrene Lage, in der Aussage gegen Aussage steht, wobei hier als Komplikation noch der Zeitabstand von über einem halben Jahrhundert dazukommt. Was sich aber herausarbeiten lässt, ist die Wahrscheinlichkeit und die hängt vom Kontext der in Frage stehenden Handlungen ab.

Ob sie so leichthändig verneint werden kann wie vom Deutschlandfunk, der die Beschuldigungen als „sehr, sehr unwahrscheinlich“ bezeichnete, muss sich zeigen, und zeigen kann es sich eben nur in dem größeren Kontext von Leben, Mentalität der historischen Peer-Group und Werk.


Eine Zeitlang war die Frage, was denn nun ein Werk sei, eine Lieblingsmarotte postmoderner Literaturwissenschaft, bevorzugt in die Frage gekleidet, ob Nietzsches Wäschelisten denn nun zu seinem Werk zählten oder nicht. Ich habe mich für diese Fragestellung nie erwärmen können, aber glücklicherweise dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass Interviews, Gespräche etc. sehr wohl zum Werk zählen – und dazu natürlich bei einem Philosophen, Wissenshistoriker und politischen Aktivisten, wie Foucault einer gewesen ist, anders als bei einem Dichter, eine durchaus zentrale Position einnehmen.


Foucaults öffentliche Äußerungen zum Thema Pädophilie nun bedürfen keiner hermeneutischen Bemühungen. Sie sind eindeutig. Sein Biograph James Miller schreibt dazu: „Foucault and Hocquenghem […] favored substantially liberalizing the law regulating sex between adults and children. Indeed, both men argued in principle against the imposition by law of any age of consent. [Hervorhebung im Original]. ‚No one signs a contract before making love‘, quipped Hocquenghem during a joint radio appearance in 1978. ‚Yes‘, replied Foucault, ‚it is quite difficult to lay down barriers‘, particularly since ‚‘it could be that the child with his own sexuality, may have desired that adult.‘ [Hervorhebung BG] In another public conversation in these months, Foucault went even further, suggesting that it might make sense to abolish altogether the criminal sanctions regarding sexual conduct – even those punishing rape.“[6]


Zuerst zu den Aussagen selbst, dann zu Foucaults Gesprächspartner: Die genannten Gespräche sind zunächst in Zeitschriften erschienen und wurden später in einem Sammelband nachgedruckt, die Aussagen sind also keine Unterstellungen Millers, sondern aus den Quellen gedeckt.[7] Foucault fordert die Abschaffung jeglichen Schutzalters, was faktisch bedeutet, Pädophilie straffrei zu stellen. Das passt mit dem Inhalt der Petition („Offener Brief") zusammen, die Foucault 1977 unterzeichnete und die auf der Homepage der Psychoanalytikerin Françoise Dolto im Original veröffentlich ist. Zusammenfassend heißt es dort: „Les signataires de la présente lettre dénoncent l’iniquité et le caractère discriminatoire de l’articel 331 §3 du Code Pénal. […] Ils estiment, enfin, de façon plus générale, que les dispositions prétendant à une ‚protection‘ de l’enfance et de la jeunesse, comme l’article 334_1 concernant ‚l’incitation de mineurs à la debauche‘, qui peut permettre d’inculper toute personne ‚favorisant‘ ou ‚facilitiant‘ des rapports sexuels entre mineurs, ou l’article 356 concernant le ‚détournement de mineurs‘ sont […] de plus en plus incompatible avec l’évolution de notre société, justifiant des tracasseries et des contrôles purement policiers, et doivent être abrogés, ou profondément modifiés, dans le sens d’une reconnaissance du droit de l‘enfant et de l’adolescent à entretenir des relations avec des personnes de son choix.“[8]


Die Petition ist geschickt aufgebaut, indem eingangs gefordert wird, das Schutzalter für Homosexuelle und Heterosexuelle anzupassen, das für Letztere bei 16 Jahren, für die erste Gruppe aber bei 21 lag, eine Inkonsistenz, die sich leicht aufgreifen ließ. Zudem wird darauf verwiesen, dass mit der damals bestehenden Gesetzeslage auch gleichaltrige Jugendliche im Fall sexueller Beziehungen kriminalisiert würden. Im Windschatten dieser Argumente kann dann die Katze in Gestalt des zitierten Passus unauffällig aus dem Sack gelassen werden: Die „Maßnahmen“, die auf einen „Schutz von Kindern und Jugendlichen zielen“ (wobei „Schutz“ unter Anführungszeichen erscheint!) seien „mit der Entwicklung unserer Gesellschaft zunehmend unvereinbar“. Kinderschutzregelungen werden als „Schikanen“ und „rein polizeiliche Maßnahmen“ abgefertigt und sind Foucault und seinen Mitzeichnern zufolge entweder abzuschaffen oder einschneidend zu verändern, und zwar „im Sinne einer Anerkennung des Rechts von Kindern und Heranwachsenden, Beziehungen zu Personen ihrer Wahl zu unterhalten.“ Von "Kindern und Heranwachsenden“ – das deckt sich mit der oben bei Miller zitierten Aussage und bedarf keines weiteren Kommentars.


Ergänzend noch die versprochene Einordnung zum Diskussionspartner des oben zitieren Radiogesprächs, Guy Hocquenghem: Der Schriftsteller und Journalist der Libération war ein „Aktivist“ der von Foucault unterstützten Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR) und Verteidiger der Pädophilie. Im August letzten Jahres montierte das Bürgermeisteramt des Pariser 14. Arrondissements eine ihm erst im Januar gewidmete Erinnerungstafel nach wütenden Protesten „grüner Stadträte und feministischer Aktivistinnen“ wieder ab. Der Figaro zitiert ihn mit dem Satz, dass es „Kinder“ gebe, die „alte Männer vergöttern, und zwar auch auf sexuelle Weise [„…y compris sexuellement.“[9] Der für die Plakette für Hocquenghem (mit)verantwortliche Kulturpolitiker Christophe Girard musste übrigens im Juli 2020 zurücktreten. Der Grund? Vorwürfe, 1989 einen Fünfzehnjährigen verführt zu haben, den er – in Tunesien kennengelernt hatte und gemeinsame Abendessen auf Kosten der Kommune mit dem Protagonisten des großen französischen Pädophilieskandals, Gabriel Matzneff, mit dem wiederum auch Hocquenghem befreundet gewesen sein soll.[10] Auch Matzneffs Unterschrift befindet sich auf der zitierten, von Foucault unterschriebenen Petition. So schließen sich die Kreise.



Folgerungen


Die hier skizzierten Zusammenhänge beweisen natürlich in Hinblick auf Foucaults Verhalten im Tunesien der späten sechziger Jahre nichts. Sie lassen allerdings zweierlei erkennen: Erstens, Foucault hielt das ihm von Sorman zugeschriebene Verhalten keineswegs für verwerflich, er setzte sich im Gegenteil für seine Straffreiheit, also freie Ausführbarkeit ein. Dabei scheut er vor dem ältesten Päderasten-Klischee, der Projektion des eigenen sexuellen Begehrens auf das Kind, nicht zurück. Wir können also festhalten, dass es für Foucault ethische Gründe, sich des Sexualaktes mit Kindern zu enthalten jedenfalls zu diesem Zeitpunkt erklärterweise nicht gibt. In der Petition („offener Brief“) wird die Pädosexualität sogar zum „Recht“ (des Kindes!) aufgewertet, ein Framing, das suggeriert, dem Kind würde durch Sex mit einem Erwachsenen ein ihm entzogenes Recht zurückgegeben.


Zweitens steht das unterstellte Verhalten in Tunesien nicht einzig da, sondern in einem bestimmten Kontext, an den nicht nur die Vorwürfe gegen den genannten Christophe Girard erinnern. Der Maghreb scheint ein Dorado für derartige Unternehmungen französischer Mandarine gewesen (gewesen?) zu sein. Der prominente Literaturkritiker Roland Barthes, ein weiterer Unterzeichner der Petition, lässt in Incidents (1969; posthum veröffentlicht 1987) einen Erzähler tagebuchartig über seine sexuellen Kontakte zu Erwachsenen und Jungen in Marokko berichten. Der Text ist nicht als fiktional markiert. Möglicherweise ist Barthes damit ein Kandidat für den nächsten Skandal. Auf Twitter bemerkte der Germanist Helmut Müller-Sievers am 07. April: „Interessant wird es erst, wenn die Leute mal draufkommen, was Roland Barthes und seine Truppe in Marokko so veranstaltet haben…“


Aber das ist nicht alles: Es scheint, dass sowohl Foucault als auch Barthes sich damit in die Tradition des Nobelpreisträgers von 1947, André Gide, stellten, der dieses Muster vorlebte. In Stirb und Werde schildert er sein lebenswendendes sexuelles Erlebnis mit einem minderjährigen Araber in Algier, das nicht das einzige seiner Art bleiben sollte. Die Pädophilie wird damit in den Rang einer nicht nur angemessenen, sondern aufwertenden Praxis für elitäre Ästheten erhoben, eine genussvolle Form, den eigenen „Immoralismus“ zu affirmieren. Und ja, hier gibt es Brücken auch zu Foucaults Werk im engeren Sinne. (Am Rande bemerkt: Möglicherweise bedingte das Vorbild André Gides die Wahl von Foucaults körperlichem Markenzeichen, dem rasierten Kopf. „[…] it was only after may 1968 that Foucault adopted the shaven-headed style first made famous by the ‚immoralist‘ Gide. He no longer wanted to push the boundaries, but to abolish them“[11])


Sind nach all dem die Inhalte der Aussagen von Sorman und Charpentier also wirklich so unwahrscheinlich? Foucaults Biograph James Miller sieht das deutlich anders als die Mehrheit deutschsprachiger Pressestimmen. In seinem Kommentar Why We shouldn’t Cancel Foucault. Even if he did have sex with underage boys in a Tunisian cemetery in the Sixties erklärt er, Sormans Anschuldigungen hätten ihn nicht überrascht und er halte ihn für einen glaubwürdigen Zeugen. Foucault habe auch unabhängig von der Petition von 1977 sexuelle Kontakte älterer Männer mit Minderjährigen „offen und explizit“ verteidigt.[12]


Roland Barthes‘ Biographin wiederum, eine der besten Kennerinnen Pariser akademischen Szene der Zeit, Tiphaine Samoyault, erklärte die Vorwürfe, „was Foucaults Ausnutzung der Kinderprostitution in Nordafrika betrifft“, für glaubwürdig.

Es handelt sich um Forscher, die Jahre mit dem sozialen Umfeld und jeder Kleinigkeit des Lebens ihrer Objekte verbracht haben. Ihr Urteil ist nicht von der Hand zu weisen. Vor dem Hintergrund eines offensiven Engagements für die Freigabe von Pädophilie einer- und einer Umgebung, die den Missbrauch (nordafrikanischer) Kinder offenbar schlimmstenfalls für ein Kavaliersdelikt hielt, kann ich keine Unwahrscheinlichkeit der Vorwürfe erkennen. Foucault kann und wird weiter gelesen werden, so oder so.


[1] https://www.deutschlandfunk.de/vorwuerfe-gegen-michel-foucault-es-klingt-alles-sehr-sehr.691.de.html?dram:article_id=495404 [2] https://www.jeuneafrique.com/1147268/politique/tunisie-michel-foucault-netait-pas-pedophile-mais-il-etait-seduit-par-les-jeunes-ephebes/ [3] https://www.nouvelobs.com/medias/20180518.OBS6869/lundimatin-matrice-de-la-gauche-radicale.html [4] Entrevista su libro. Guy Sorman: „Foucault era ciego a su propria pedofilia“ https://www.clarin.com/revista-enie/guy-sorman-foucault-ciego-propia-pedofilia-_0_2w8uquoeZ.html - La doble personalidad de Foucault https://www.latercera.com/opinion/noticia/columna-de-guy-sorman-la-doble-personalidad-de-foucault/3AZCUDQAVBAVRKDOMWHSBQ2RXI/ [5] „Les signataires de la présente lettre considèrent que l’entiére liberté des partenaires d’une relation sexuelle est la condition nécessaire et suffisante de la licéité de cette relation.“ Original: http://www.dolto.fr/fd-code-penal-crp.html [6] James Miller, The Passion of Michel Foucault. Anchor Bookes 1994, S. 257. [7] S. Millers Fußnoten 37 und 38 zu Kapitel 8, S. 440 f. Bei dem Sammelband handelt es sich demnach um Politics, Philosophy, Culture by Michel Foucault, ed. Lawrence D. Kritzman, New York 1988. [8] Lettre ouverte à la Commission de révision du code pénal pour la révision de certains textes régissant les rapports entre adultes et mineurs http://www.dolto.fr/fd-code-penal-crp.html [9] https://www.lefigaro.fr/culture/paris-retire-une-plaque-en-l-honneur-de-l-ecrivain-guy-hocquenghem-ami-de-gabriel-matzneff-20200905 - Das Zitat stammt laut Figaro aus einem Interview, das H. 1978 dem Sender Antenne 2 gab. [10]https://www.lefigaro.fr/culture/christophe-girard-se-met-en-retrait-du-conseil-de-paris-vise-par-une-enquete-pour-viol-20200818 - https://www.lefigaro.fr/politique/des-notes-de-frais-entre-christophe-girard-et-gabriel-matzneff-payees-par-la-ville-de-paris-20200727 [11] https://thecritic.co.uk/issues/april-2021/michel-foucault-the-prophet-of-pederasty/# [12] https://publicseminar.org/essays/why-we-shouldnt-cancel-foucault/




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Über die Autorin:


BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.



 

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