Gesagt zu haben, was ist, das kann auch unsere Autorin dem vermeintlich einzigartigen Claas Relotius nicht attestieren und geht darin mit der inzwischen landläufigen Tendenz konform. Wenn aber Bettina Gruber der einstigen Lichtgestalt des bundesrepublikanischen Haltungsjournalismus verschmitzt zugutehält, immerhin stillschweigend aufgezeigt zu haben, was sei, dann dürfte sie spätestens damit über die Konsensstränge schlagen.
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Über den Fall Claas Relotius ist alles gesagt. Ist über den Fall Claas Relotius alles gesagt? Seit der Spiegel am Mittwoch, den 19. Dezember, an die Öffentlichkeit ging, hagelte es Artikel, als hätte jemand einen Baum mit überreifen Früchten geschüttelt. Zuerst der Spiegel selbst mit einem langen wehmütigen Artikel des designierten Chefredakteurs und ständig auf den neuesten Stand gebrachten Informationen über das Ausmaß des Betruges, die Entdeckung, den Entdecker und die Schikanen, denen dieser ausgesetzt war, die Trefflichkeit der hauseigenen Dokumentationsabteilung, das hohe Ethos von Gründervater Augstein, die Raffinesse des Täters sowie die Bestürzung, mit der das Zu-Tage-Kommende in der Branche angeblich oder tatsächlich aufgenommen wurde.
Nahezu parallel dazu legte die Kollegenschaft mit einem wahren Trommelfeuer nach. Die Relotius zuerkannten Preise wurden ihm teils aberkannt, teils von ihm zurückgegeben. Die Hast, mit der beides geschah, spricht zwar vielleicht nicht gerade Bände, aber sie hat eine klare Aussage: Sie ist ein Schuldeingeständnis auf beiden Seiten. Relotius wusste um seine Handlungen, und den Herren und Damen der Jurys muss im Hinterkopf die ganze Zeit bewusst gewesen sein, dass sie einen – freundlich ausgedrückt – notorischen Beschöniger unerfreulicher Wirklichkeiten prämiert haben, sonst hätte man die Preise nicht überstürzt aberkannt, sondern zuvor die Sachlage in Ruhe geprüft. Beiden Seiten muss die Aussichtslosigkeit einer Verteidigung klar gewesen sein.
Würde ich vor die Wahl gestellt, mich auf die Seite des Relotius oder die seiner empörten Kollegen zu schlagen, schlüge ich mich auf die des Felix Krull unter den deutschen Journalisten. Relotius hat Konfektionsware geliefert, modische Modelle in allen Größen, wie verlangt, und diese Serienproduktion war den Ansagern im Medienbetrieb wie auf den Leib geschnitten. Das ist, zunächst in Kommentaren in den sozialen Netzwerken und dann auch in den sintflutartig hereinbrechenden Presseartikeln selbst, mehrfach bemerkt worden. Es hat damit aber vielleicht mehr auf sich, als man meinen möchte.
Claas Krull ist weniger ein Individuum (was er natürlich auch ist) als ein in der linksmoralisierenden Mediengesellschaft mit Notwendigkeit auftretender Typus. Er hat etwas von einer Charaktermaske, wie etwa dem dottore der italienischen Commedia dell’arte (ein giornalista tritt in dieser glücklichen Literaturgattung noch nicht auf) oder von einer Figur Molières. Dessen Tartuffe operiert zunächst erfolgreich, weil er die für seine Zeit und sein Milieu maßgebliche Vorstellung von Frömmigkeit in Reinkultur verkörpert. Molières Stück folgt einer verbreiteten Kritik an Frömmelei, die auch eine bildlich-physiognomische Entsprechung hat: die nach oben verdrehten Augen. Sie wurden als Zeichen frommer Entrückung und, da diese schon damals ein rares Gut gewesen dürfte, bald auch hemmungsloser Heuchelei aufgefasst. Ein derart eindeutiges somatisches Zeichen geht den Wohlmeinenden in Deutschland ab; sonst wären mittlerweile zwei Dritteln der Belegschaft der Republik die Augen stecken geblieben.
Um es kurz zu machen: Relotius können wir in erster Linie als eine Art chemischen Marker verstehen, einen Indikator für den mittlerweile erreichten Grad der Ideologisierung. Wie und wer immer er als Privatperson sein mag, Relotius als Fälscher ist kein Subjekt, sondern die unpersönliche Antwort auf einen dringenden Bedarf der ehrenwerten Mehrheitsgesellschaft, die verlangt, dass die Weltanschauung, die sie in den Wald ruft, ihr auch wieder entgegenschalle, am besten vielstimmig, weshalb die Enttarnung multipler Relotiusse nur eine Frage der Zeit ist.
Tatsächlich hat sie schon begonnen und ist, wie zu erwarten, nicht auf den Journalismus beschränkt: Chaim Noll hat auf der Achse des Guten auf den Parallelfall des österreichischen Schriftstellers und EU-Propagandisten Robert Menasse hingewiesen. Dieser wurde bei mehrfachen Fehlzitaten ertappt, die nicht etwa in fiktionalen Texten stehen, wo die Qualifikation »fehl-« keinen Sinn ergäbe, sondern angeblich Aussagen des Europapolitikers Walter Hallstein wiedergeben. Danach von der Welt befragt, erklärte Menasse nonchalant, Hallstein hätte die zitierten Sätze zwar nie gesagt, aber das sei es halt, was er hätte sagen wollen.
Offenbar hat der Romancier den inneren Menasse in Hallstein postum befreit, eine Technik, mit der er an Kreativität dem Liebling der Journalismuspreis-Jurys kaum nachsteht. Die Leser haben das genau verstanden, etwa jener, der unter besagtem Artikel kommentierte: »Abweichende Meinungen hatten es zu jeder Zeit schwer, wenn aber der ganze Medienbetrieb sich grundlegend freiwillig von Karriereanfang bis Ende selbst gleichschaltet, wen wundert es, dass es Leute wie Relotius und Menasse gibt.«
Dass die Öffentlichkeit den Stellenwert des Falles einzuschätzen weiß, zeigen auch die tristen Zustimmungswerte unter dem Welt-Artikel mit dem beschwörenden Titel: »Der Betrug, den Claas Relotius begangen hat, ist einzigartig.«: 442 Leser teilten die Meinung des Autors nicht; lediglich 40, also nicht einmal zehn Prozent, hoben den Daumen (Stand 26.12., 23:30 Uhr). Der Verdacht, die Mainstreammedien seien von Relotiussen durchsetzt, wird in den Kommentarspalten entsprechend häufig als Gewissheit formuliert.
Aus diesen Gründen fällt es mir schwer, mich über Relotius zu empören. Er hat mit seinen pathetischen Erfindungen zwar nicht gesagt, aber immerhin vorgeführt, »was ist«: eine Medienlandschaft, die ihre Berichterstattung an den bunten Träumen der PC statt an der Realität ausrichtet. In eindeutig totalitären Gesellschaften gilt, frei nach Foucault, dass die Polizei immer in den Kulissen lauert. In einer Moral und Politik verwechselnden Fassadendemokratie sind es die Relotiusse, die in den Kulissen der Medien mit der Fabrikation der zu dieser Staatsdoktrin passenden Welt beschäftigt sind.
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Während die Medien sich an Relotius festbeißen und hypnotisiert in den Spiegel starren, den dieser Fall ihnen vorhält, war und bleibt der eigentliche Medienskandal dieses Jahres der Umgang mit Chemnitz. Fast geschlossen machte die Branche sich zum Sachwalter der Regierungspolitik, übernahm die vorgestanzte Sprachregelung von der »Hetzjagd« und hielt kontrafaktisch an ihr fest. Fiktionen à la Relotius kennzeichnen auch die Berichterstattung über Chemnitz. Von Anfang an war im Netz der Polizeibericht zugänglich, der keinerlei Exzesse dieser Art verzeichnet. Ein Video, das ebenfalls nichts zeigt, was man als Hetzjagd apostrophieren könnte, und darüber hinaus obskurer Herkunft war, wurde als »Beweismittel« herangezogen, offenbar um der Kanzlerin gefällig zu sein, die sich bereits auf diesen Begriff festgelegt hatte.
Wenn das keine Fiktionalisierung der Realität ist, weiß ich nicht, was als eine solche gelten kann. Diese »Berichterstattung« (vielleicht besser »Berichtssimulation«) war in einer Weise unethisch und dem Wesen einer kritischen Presse fremd, dass sie Relotius als spielendes Kind im Sandkasten erscheinen lässt. Freilich als Kind des herrschenden Milieus: Die vollendete Schamlosigkeit, mit der der Spiegel-Fälscher die Weiße-Rose-Überlebende Traute Lafrenz für das offiziöse Chemnitz-Narrativ instrumentalisierte, wird nur durch seine erste Wortmeldung nach der Entlarvung überboten: Er habe »zu keinem Zeitpunkt denjenigen in die Hände spielen wollen, die seine Reportagen nun mit zweifelhafter politischer Intention als Beweis für die Existenz einer angeblichen ›Lügenpresse‹ in Deutschland anführen.«
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Über die Autorin: BETTINA GRUBER, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber / Rolf Parr (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen−Gesamtkunstwerke. Paderborn 2015.
Weitere Beiträge von Bettina Gruber finden sich etwa in den Druckausgaben vom Sommer 2017 oder vom Winter 2017/2018.
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