In einer fulminanten Rede im Bundestag ließ AfD-Vorsitzende Alice Weidel die Missstände der Republik Revue passieren. Die Gesichter aus den Rängen der Altparteien sprachen Bände. Vizekanzler Habeck sah aus, als müsse er sich auf einen übersäuerten Magen konzentrieren. Die Skandalisierung dieser temperamentvollen Ansprache ließ nicht auf sich warten und sie kaprizierte sich, ungeachtet der vielfältigen Themen, die Weidel angesprochen hatte, auf einen einzigen Punkt. Weidel hatte nämlich gesagt: „Sie können Deutschland nicht gut regieren und Sie wollen es nicht; Sie richten es zugrunde. Und ich werde Ihnen auch sagen, warum: Weil Sie Ihr eigenes Land, weil Sie Deutschland hassen. Diese Regierung hasst Deutschland.“ (Minute 10:40 ca.)
Sandro Halank, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Nun meinen Sie, die Wogen der Empörung hätten hochgeschlagen ob des Vorwurfs, das Land zugrunde zu richten? Weit gefehlt! Die Journalistin Milena Preradovic bemerkte zutreffend, „daß die Kommentare von Politikern und Journalisten zur Rede von Alice Weidel quasi identisch sind. Alle haben sich auf Hass geeinigt.“ Und zwar nicht auf den Hass, den sie demnach ihrem Land und ihren Landsleuten entgegenbringen sollen, sondern auf den, den die AfD-Vorsitzende in ihrer Rede angeblich verbreitet haben soll.
Das hat zwar etwas von Retourkutsche auf Kindergartenniveau, es ist nichtsdestoweniger aussagekräftig. Von Hass war in Weidels Rede, die eine Kette von begründeten Kritikpunkten enthielt, nichts zu merken. Jenen zu unterstellen, ist natürlich einfacher, als diese begründet zu widerlegen. Aber die Unterstellung hat Methode. Sogenannte „Hassrede“ ist nämlich eines der Lieblingskonzepte politisch korrekter Milieus, deren Mitglieder für sich das Gegenteil, eine Endlosschleife allgemeiner Menschenliebe, in Anspruch nehmen würden.
Es ist nicht ganz klar, ab wann genau sich dieser dubiose Begriff verbreitet hat, aber wie es scheint vollzog sich diese Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit. Den Startschuss dürfte ein Buch von Judith Butler mit dem pathosgeladenen Titel „Hass spricht“ gegeben haben. Es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff, der eine Reihe unterschiedlicher Sprechakte zu etwas Neuem zusammenfasst: Für Beleidigung, üble Nachrede, Volksverhetzung gibt es, soweit es sich tatsächlich um solche handelt, dankenswerterweise Gesetze. Eine Notwendigkeit für die Einführung dieses Begriffs ist also nicht erkennbar. Allerdings erzeugt er gegenüber den genannten Kategorien einen semantischen Überschuss. Oxford Languages definiert ihn als „abusive or threatening speech or writing that expresses prejudice on the basis of ethnicity, religion, sexual orientation, or similar grounds.“ Und hier wird schon deutlich, warum er nicht besonders alt ist: er inkorporiert sämtliche Anliegen der als „Wokeism“ bezeichneten politischen Praxis und NUR diese.
Die Problematik liegt auf der Hand: Sie beginnt damit, dass die Frage, was denn nun in einem konkreten Fall ein Vorurteil sei und was nicht, keineswegs klar, sondern selbst Gegenstand der Diskussion ist – und: sein muss! Wer sich herausnimmt, gewissermaßen ex-cathedra zu bestimmen, welches Urteil ein Vorurteil sei, hat sich damit die Rolle des Richters und Klägers in einer Person angemaßt. Sie setzt sich, zweitens, damit fort, dass letztendlich niemand in die Black Box fremder Befindlichkeiten einbrechen kann. Wie weiß man, ob jemand hasst? Kriecht man in seine Gehirnwindungen? Wenn er es nicht selbst sagt, kann man es nur vermuten, annehmen, unterstellen. „Unterstellen“ ist hier das weiterführende Wort, denn die Rede von der „Hassrede“ ist eine Unterstellungspraxis.
Bezeichnend ist diese Verschiebung in einen psychischen Innenraum, in dem nichts objektivierbar und alle Katzen grau sind (und die übrigens auch in der gender- und queer theory zur Anwendung kommt, wenn dem biologischen Geschlecht eine rein subjektive „Geschlechtsidentität“ übergeordnet wird): Zwar ist im Zusammenhang von „Hate Speech“ ausgiebig von „Sprechakten“ die Rede, also von einer objektiv beschreibbaren Sprechhandlung; der Begriff zielt aber auf etwas anderes ab, nämlich auf das Innere eines Sprechers, über das man Bescheid zu wissen behauptet und das man „polizieren“ will. Man möchte, anders als das Recht im Falle von Beleidigung etc., in Wirklichkeit nicht Sprechakte bestrafen, sondern dahinter vermutete Haltungen, ja Gefühle. Mit einem Wort: das Konzept dient keineswegs der Befriedung der sozialen Medien, sondern der Vorbereitung eines Gesinnungsstrafrechts. Ich würde mich wundern, wenn nicht in nächster Zeit Vorstöße in dieser Richtung erfolgen würden, sofern es diese nicht ohnehin schon gibt.
Ebenso bezeichnend ist eine weitere Akzentverschiebung, gewissermaßen ein emotionaler Klimawandel des links„liberalen“-ökologistischen Feldes. Der dazugehörige Diskurs war früher dem „Wärmestrom“ linker Bewegungen zuzuordnen. Die Buntheits- und Diversitätsmotivik mit ihrem Versprechen einer globalen Kuschel-Idylle lässt das noch erkennen. Aber insgesamt hat sich dieser werbende Duktus mittlerweile ganz ins Gegenteil verkehrt: An die Macht gelangt, versucht man nicht zu gewinnen, sondern zu strafen, auszumerzen, zu kriminalisieren und zu verbieten: Das ist vermutlich als eine Art schweigendes Eingeständnis zu werten, dass die Universalumarmer-Utopie nicht funktioniert und dies in den Köpfen angekommen ist. Nun muss man diejenigen hassen und des Hasses zeihen, die nicht bereit sind, über die Trümmer eines illusionären Weltbildes gnädig den Mantel des Schweigens zu breiten. Im Prinzip läuft auch die konzertierte Reaktion auf Weidels Rede, wie auf das gesamte Auftauchen der AfD, bloß auf die alte Empfehlung hinaus, den Boten, der die üble Nachricht überbringt, zu köpfen.
Die sogenannte „Hassrede“ ist also eine Waffe im Kampf um die kulturelle Hegemonie, ähnlich der Nazi-Keule, aber praktischer, weil auf breiterer Front einsetzbar. Zudem ruft sie vermutlich weniger Widerstände hervor: Mehr und mehr Leute reagieren auf den Nazi-Anwurf nicht mehr im gewünschten Sinne. Hass hingegen ist unspezifisch unerfreulich und deshalb brauchbarer. Der Diffamierung tatsächlicher oder vermuteter politischer Gegner oder auch ahnungsloser Normalbürger, die noch keinen Kotau vor den neuen Sprachregelungen gemacht haben, wird so ein weites, grünes Spielfeld eröffnet. Als schöner Nebeneffekt winkt die Statuserhöhung von selbstlegitimierten Sprachpolizisten und Erziehern sowie die Markierung von In- und Out-Groups: wer gehört zu uns, wer verharrt in unerleuchteten Vorurteilen und muss zum Schweigen gezwungen oder gleich in seiner bürgerlichen Existenz vernichtet werden. Sprich, damit ich dich sehe!
Diese Markierung von Schafen und Böcken funktioniert ähnlich wie beim Gendern nur umgekehrt: Beim Gendern wird versucht, Machtansprüche durchzusetzen, indem bestimmte, möglichst absurde Sprachformen erzwungen und vorgeschrieben werden – je abstruser diese Formen sind, desto größer ist bei Durchsetzungserfolg der Machtgewinn, was vielleicht die Penetranz erklärt, mit der unter Missachtung demokratischer Spielregeln versucht wird, diese durchzudrücken. Im Gegenzug versucht die Hate Speech-Praxis ein flexibel erweiterbares Spektrum von Sprechakten zu verbieten und dabei so viele Meinungsäußerungen wie möglich zu kriminalisieren – solange bis nur mehr ideologiekonforme Sätze gesagt werden können. Genau darum geht es auch hier wieder einmal – um Diskursmacht im Gewand der Menschenliebe. Eigentlich der älteste aller alten Hüte. Wie schrieb Elon Musk so schön auf X: „…it is worth remembering that the group that sent so many people to the guillotine during the French Revolution was called „The Committee of Public Safety“, not the „Cut Off Their Heads Committee.“
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Über die Autorin: Bettina Gruber, Dr. phil. habil., venia legendi für Neuere Deutsche Philologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vertretungs- und Gastprofessuren in Deutschland, Österreich und den USA. Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Ruhr-Universität Bochum 2005. 2015 bis 2017 im Rahmen des BMBF-Projektes FARBAKS an der TU-Dresden. Letzte Buchveröffentlichung: Bettina Gruber: Phantastische Räume. Das Politische Imaginäre in Zeiten des Misstrauens. edition buchhaus loschwitz: Dresden 2023
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